| # taz.de -- Philosoph über Moral in der Klimakrise: „Sie wissen ganz genau, … | |
| > Fliegen trotz Klimakrise? Philosoph Arnd Pollmann spricht darüber, ob | |
| > klimaschädliches Verhalten uns zu unmoralischen Menschen macht. | |
| Bild: Dass Aktivist*innen der Letzten Generation nach Thailand flogen, sorgte f… | |
| taz: Herr Pollmann, die Menschheit rast auf eine Zukunft in chaotischem | |
| Klima zu, das zu mehr Hitzetoten, Sturmopfern und Hungernden führen wird. | |
| Trotzdem steigen viele Menschen weiter ins Flugzeug, essen Fleisch, fahren | |
| SUV. Ist das unmoralisch? | |
| Arnd Pollmann: Es kommt darauf an, wie so oft. Da konkurrieren in der | |
| philosophischen Ethik recht unterschiedliche Ansätze und im Alltag übrigens | |
| auch. Wenn Sie etwa an eine unbedingte Pflicht glauben, dem Klima und der | |
| Umwelt nicht unnötig zu schaden, dann werden Sie sehr viel zu Hause bleiben | |
| und Ihre Ernährung umstellen müssen. Wenn Sie jedoch eine sogenannte | |
| Utilitaristin sind und Ihren moralischen Output nüchtern bilanzieren, | |
| dürfen Sie munter weiter in die Ferne schweifen – solange Sie als | |
| Aktivistin viele andere davon überzeugen, es nicht zu tun. | |
| Dem Klima nicht unnötig zu schaden, sagten Sie gerade. Unter welchen | |
| Umständen könnte es denn nötig sein? | |
| Als Menschen und Mitmenschen haben wir teilweise sehr verschiedene | |
| Pflichten, und gelegentlich kommt es da zu Kollisionen. Nehmen wir an, Sie | |
| müssten kurzfristig zu einer Beerdigung im Familienkreis, und Sie werden | |
| das eben nur schaffen, wenn Sie das Flugzeug nehmen. Dann muss man abwägen. | |
| Und wenn Sie fliegen, dann stimmt natürlich Ihre Klimabilanz nicht mehr, | |
| Ihre Ethikbilanz aber sehr wohl. | |
| So kann man doch aber fast jeden Klimaschaden verargumentieren. Die meisten | |
| Menschen versuchen ja nicht aktiv, unsere Lebensgrundlage zu zerstören – | |
| sie bewerten aber im Zweifelsfall andere legitime Ziele höher. | |
| Das stimmt. Was aber noch viel häufiger vorkommt, sind Rationalisierungen: | |
| In Wahrheit wissen Sie ganz genau, was zu tun das Richtige wäre, aber Sie | |
| haben einfach keine Lust oder keine Kraft dazu, und dann reden Sie sich und | |
| anderen die eigene Willensschwäche schön. Es herrscht aber oft auch | |
| Unklarheit, worum genau es bei dem moralischen Konflikt geht. Um | |
| Schadensvermeidung, Respekt, Freiheit, Autonomie? Um Glück, Mitleid, | |
| Rücksicht, Menschenwürde? Oder vor allem darum, vernünftig oder auch ein | |
| guter Mensch zu sein? Da gibt es nicht die eine Ethik, die den Durchblick | |
| hat und alle Probleme löst. Nur wenn Sie sich für einen bestimmten Ansatz | |
| entscheiden, können Sie im konkreten Fall nachvollziehbar begründen, was zu | |
| tun ist. | |
| Es gibt ja auch strukturelle Hemmnisse: Wer [1][schlecht an den ÖPNV | |
| angebunden] ist, kann zum Beispiel kaum aufs Auto verzichten. Spielt das | |
| für Sie eine Rolle? | |
| Strukturelle Hindernisse und individuelle Zwänge mögen Einfluss auf unsere | |
| jeweils persönliche Motivation haben, das moralisch Richtige dann auch | |
| tatsächlich zu tun. Manchmal können sie unser Fehlverhalten auch | |
| nachträglich entschuldigen. Aber auf die Richtigkeit oder Falschheit der | |
| Handlung selbst haben sie in der Regel keinen Einfluss. Es ist und bleibt | |
| moralisch falsch, einen anderen Menschen auszubeuten, auch wenn wir im | |
| Kapitalismus leben. Und es ist und bleibt falsch, gravierend das Klima zu | |
| schädigen, solange Sie nicht mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen werden. | |
| Ich fand Ihr Beispiel mit der Klimaaktivistin vorhin interessant. | |
| Nachdem [2][zwei von der Letzten Generation nach Thailand geflogen waren], | |
| gab es große Empörung. Viele Menschen verlangen denen also mehr Moral im | |
| Privatverhalten ab als der Durchschnittsperson. | |
| Ich selbst würde mich auch eher auf diese Seite schlagen und für eine Art | |
| doppelten Standard plädieren. Wenn man allein auf die Konsequenzen, den | |
| konkreten Schaden der jeweiligen Handlung schaut, scheint am Ende dasselbe | |
| herauszukommen – egal, wer fliegt. Klimaaktivist:innen stehen aber | |
| potenziell im Rampenlicht. Die Kritik an ihrem Fehlverhalten, an mangelnder | |
| Konsequenz, zieht größere Kreise. Im Endeffekt richtet diese Inkonsequenz | |
| dann eben doch größeren Schaden an als das Handeln einer x-beliebigen | |
| Durchschnittsperson, für die sich niemand interessiert. | |
| Da muten Sie Klimaaktivist:innen aber eine ganz schöne Verantwortung | |
| zu. Ist Doppelmoral wirklich schlimmer als keine Moral? | |
| Das gehört zum aktivistischen Berufsrisiko. Sonst sollte man es lassen. | |
| Allerdings muss man hier unterscheiden zwischen der moralischen Richtigkeit | |
| oder Falschheit einer bestimmten Position und der persönlichen | |
| Glaubwürdigkeit, mit der jemand diese Position vertritt. Die Forderungen | |
| der Klimabewegung werden ja nicht schon dadurch falsch, dass einige ihrer | |
| Mitglieder inkonsequent handeln. Was in diesem Fall leidet, ist deren | |
| persönliche Glaubwürdigkeit. Das ist das eigentliche Problem | |
| klimaaktivistischer Doppelmoral: Diese Aktivista wollen ja andere von der | |
| Richtigkeit ihrer Auffassungen überzeugen. Diese anderen werden sich aber | |
| natürlich fragen: Warum sollte ich aufs Fliegen oder auch aufs Auto | |
| verzichten, wenn diese Typen das nicht mal selbst tun. Die handeln wie ein | |
| Vater, der mit Kippe im Maul seinem Kind einzutrichtern versucht, Rauchen | |
| sei ungesund. Das stimmt zwar, wird aber so nicht funktionieren. | |
| Von wem die Öffentlichkeit ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit erwartet, | |
| ist doch manchmal gar nicht so absehbar. Wie sieht das zum Beispiel mit uns | |
| beiden aus: Ich berichte über die Klimakrise, Sie erforschen Moral – wir | |
| wären doch auch gute Kandidat:innen, oder? | |
| Ja, natürlich. Würden Sie sich von einer Zahnärztin mit schlechten Zähnen | |
| behandeln lassen? Oder von einem Eheberater, der zum vierten Mal geschieden | |
| ist? Entsprechend sollten auch unsere Leser:innen annähernd darauf | |
| vertrauen können, dass wir selbst zumindest anstreben, wofür wir schreibend | |
| eintreten. Gerade deshalb aber sollte man die jeweils publizierten Maßstäbe | |
| auch nicht zu hoch hängen, sondern stattdessen auch immer mit der eigenen | |
| Willensschwäche rechnen. Zumal wir in einer Welt medialer Shitstorms leben. | |
| Hochmut kommt vor dem Fall. | |
| 24 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Susanne Schwarz | |
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