| # taz.de -- Pfleger*innen über ihre Arbeit: „Es wird immer schlimmer“ | |
| > Der Pflegebereich ist chronisch unterfinanziert. Viele Beschäftigte sind | |
| > gestresst und ausgebrannt. Unser Autor sprach mit Betroffenen. | |
| Bild: Schwerstarbeit auf einer Corona-Intensivstation | |
| Der Pflege und dem Care-Bereich ging es schon vor Corona [1][nicht | |
| sonderlich gut.] Als die Pandemie begann, war vielen Beschäftigten klar: Es | |
| würde übel werden. Das betraf nicht nur die Krankenhäuser und Pflegeheime, | |
| auch andere Bereiche sahen sich schlagartig vor neue Herausforderungen | |
| gestellt. | |
| Die Protokolle in diesem Buch ergeben keine soziologische Studie, sondern | |
| erzählen die Werdegänge und Motivationen der jeweiligen Protagonist*innen. | |
| „Es ist schwer gerade. Ich hab das Gefühl, alle lassen uns hängen. Ich bin | |
| mal gespannt, was das mit den Mitarbeitenden macht, wenn das Interesse so | |
| gering bleibt.“ (Nina, Anfang 40, Pflegerin, zu Beginn der Pandemie) | |
| Tatsächlich brachte Corona viele neue Expert*innen hervor, | |
| Virolog*innen, Epidemiolog*innen, Statistiker*innen. Menschen | |
| aus der Pflege und der sozialen Arbeit waren wenige dabei, und wenn doch – | |
| wie im Falle des medial präsenten Berliner Pflegers Ricardo Lange –, dann | |
| waren das oft Intensivpfleger*innen, also hochqualifizierte Fachkräfte, | |
| deren Tätigkeit stark medizinisch ausgerichtet ist und weniger stark | |
| sozial. | |
| In meinem Buch äußern sich einige Protagonist*innen, deren Bereich zwar | |
| hochbelastet war, über die aber kaum geschrieben wurde; etwa | |
| Betreuer*innen aus der stationären Jugendhilfe, die sich von heute auf | |
| morgen vor der Herausforderung sahen, im Einzeldienst neun Kinder – teils | |
| mit hohem Förderbedarf – homezuschoolen. | |
| Der reine Zynismus | |
| „Die Schulschließungen haben sehr viel kaputtgemacht zwischen uns, also dem | |
| Team, und den Kindern, weil wir in eine Rolle rutschen, die nicht unsere | |
| ist; eine sehr autoritäre Rolle, was die Schule betrifft, was das Lernen | |
| betrifft.“ (Marion, Anfang 30, Erzieherin) | |
| Nichtsdestotrotz sind die Belange der Pflege häufiger diskutiert worden als | |
| vor der Pandemie, und weite Teile der Öffentlichkeit wünschen sich eine | |
| bessere Behandlung der Care-Berufe. Umfassende politische Konzepte dazu | |
| fehlen allerdings; stattdessen hat Jens Spahn die Pflegekräfte selbst in | |
| die Pflicht genommen und gesagt, sie müssten mehr Verantwortung übernehmen, | |
| um in Tarifverhandlungen höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu | |
| erkämpfen. | |
| Das ist der reine Zynismus, weil Jens Spahn natürlich klar ist, dass durch | |
| das kirchliche Arbeitsrecht in vielen Pflegebereichen die wichtigsten | |
| Instrumente zum Arbeitskampf fehlen, es beispielsweise keine Betriebsräte | |
| geben darf [2][und Streiken verboten] ist. | |
| Einige Monate zuvor hatte die Caritas aufgrund des kirchlichen | |
| Arbeitsrechts einen fertig ausgehandelten Flächentarifvertrag platzen | |
| lassen, der für Kolleg*innen der privaten Träger echte Verbesserungen | |
| vorgesehen hätte. Jens Spahn hat sich dazu gar nicht geäußert und auch | |
| keine Reformen angestoßen, um die rechtliche Situation in seinem Bereich zu | |
| verbessern. | |
| Außerdem hat, das wird in vielen der Gespräche deutlich, der Pflege- und | |
| Carebereich ein Problem mit Fehlerkultur und Hierarchien; auch in jenen | |
| Institutionen, die Betriebsräte erlauben. | |
| ## Betriebsräte sollen umgepolt werden | |
| „Meine Geschäftsführung hat mich gefragt, ob ich Betriebsratsvorsitzende | |
| werden möchte. Da dachte ich mir: „Entschuldigung, in welche Richtung geht | |
| das Ganze?“ Ja, und im nächsten Moment haben die mich dann gefragt, ob ich | |
| irgendwo Leitung werden wollen würde. Das hat bei uns eine gewisse | |
| Tradition, dass Betriebsräte, die viel reden und viele Kontakte haben, in | |
| Leitungstätigkeiten kommen und teilweise komplett umgepolt werden. Das geht | |
| nicht, ich kann so was nicht machen.“ (Cordula, Anfang 30, Betriebsrätin) | |
| Ohne Korrektive aus der Praxis sind aber substanzielle Verbesserungen | |
| ausgeschlossen. So fallen auch die Erwartungen, was die Zukunft anbelangt, | |
| düster aus: | |
| „Ich hab das Gefühl, es wird immer schlimmer. Während ich da war, wurde im | |
| Klinikum eine neue Pflegedirektion eingestellt, die an den Zahlen feilen | |
| sollte. Die hat erst mal [3][56 Pflegekräfte im ganzen Krankenhaus | |
| entlassen] und dann waren die Zahlen besser, aber die Krankenhausarbeit | |
| viel schlechter. Schließlich kam eine große Kündigungswelle, die Leute sind | |
| alle gegangen, da war das Geheule wieder groß. | |
| Sie haben versucht, das mit Leuten aus dem Ausland zu regeln, indem sie | |
| Italiener und Spanier holen. Die wurden allerdings behandelt wie Scheiße. | |
| Jeder von denen hatte einen anderen Arbeitsvertrag. Jeder hat | |
| unterschiedlich verdient. Man hat ausgenutzt, dass sie nicht zu hundert | |
| Prozent Deutsch sprechen konnten. Die sind mittlerweile auch alle wieder | |
| weg.“ (Klaus, Ende 20, Intensivpfleger) | |
| ## Das Helfersyndrom | |
| Warum gehen Menschen trotzdem in den sozialen Bereich? | |
| „Ich habe schon immer so ein Helfersyndrom gehabt, habe es aber oft im | |
| privaten Bereich ausgelebt und bin dann vor etlichen Jahren in eine schwere | |
| Depression geraten. Meine Therapeutin stellte mir einen Krug mit Wasser auf | |
| den Tisch, mehrere Plastikbecher. | |
| Und ich sollte die Becher beschriften mit all den Aufgaben und Menschen, | |
| die meine Energie benötigen. Und dann sollte ich die Energie, das Wasser | |
| aus dem Krug entsprechend verteilen und die Becher füllen. Als ich fertig | |
| war, kuckte mich die Therapeutin nur an und fragte: „Wo ist der Becher mit | |
| Ihrem Namen?“ | |
| Und ich: „Hä? Was meinen Sie?“ Heraus kam, dass ich mehr auf mich achten | |
| muss. Ich bin dann raus, war ja damals in einer Tagesklinik, bin aufs | |
| Klinikgelände, eine rauchen und war so voll neuen Mutes. Und sehe beim | |
| Rauchen aus dem Augenwinkel eine Patientin im Rollstuhl sitzen, schwer | |
| behangen mit lauter Beuteln, nasse Hose, Riesenpfütze unterm Rollstuhl. Sie | |
| ist da völlig alleine. Kein Pfleger, nix. Irgendwie. | |
| Und ich denke: „Das ist jetzt nicht euer Ernst.“ Ich kucke rüber, und dann | |
| sag ich: „Nein, du hast jetzt gerade beschlossen, du kümmerst dich nicht | |
| permanent um andere, du kümmerst dich um dich.“ Aber ich konnte nicht | |
| anders. Ich kuckte in den Himmel und sagte „fuck you“ zum Universum, bin zu | |
| der Frau und hab ihr natürlich geholfen, sie ins Haus zurückgeschoben, die | |
| Pfleger rausgeklingelt und blablabla.“ (Yolá, Ende 40, Erwachsenenbildung) | |
| In der Zwischenzeit sind einige der Protagonist*innen aus dem Beruf | |
| ausgeschieden, weil die Belastung zu hoch wurde; bei anderen sind die Teams | |
| zerbrochen. Der deutsche Berufsverband für Pflegeberufe hat in einer | |
| bundesweiten Umfrage aus dem Dezember 2020 herausgefunden, dass ein Drittel | |
| der Pflegenden erwägt, aus dem Beruf auszusteigen. | |
| ## Arbeit mit Unsichtbaren | |
| Und das, obwohl der Bereich ohnehin schon dramatisch unterbesetzt ist: Laut | |
| dem Gesundheitsexperten Prof. Dr. Michael Simon fehlten allein in den | |
| Krankenhäusern im April 2020 100.000 Pflege-Vollzeitstellen. In den | |
| Altenheimen sind es laut einem Gutachten, das vom | |
| Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegeben wurde, 120.000 Stellen. | |
| „Ich bin schon länger wieder zu Hause, ich gehe nicht arbeiten, keine zehn | |
| Pferde kriegen mich wieder in die Pflege. Ich hab immer erwartet, dass sich | |
| irgendwas ändert. Ich habe eine Nachbarin, die hat jetzt gerade angefangen | |
| mit ihrer Ausbildung, die ist auch bei einem Pflegedienst, den ich gut | |
| kenne. Und es ändert sich nichts.“ (Andrea, Ende 50, examinierte | |
| Krankenpflegerin) | |
| Ein Problem ist, dass die Menschen, mit denen in diesem Sektor | |
| zusammengearbeitet wird, gesellschaftlich an den Rand gedrängt wurden; dass | |
| es keine Solidarität mit den sogenannten Schwachen in der Gesellschaft | |
| gibt. Auch Corona hat noch einmal gezeigt, dass Menschen, die sich für | |
| unverletzlich und unangreifbar halten, einen viel größeren Widerhall in | |
| Politik und Medien finden als die Belasteten und Marginalisierten. | |
| „Wir arbeiten mit den Unsichtbaren der Gesellschaft. Wir arbeiten mit | |
| Obdachlosen, mit Drogenkranken. Wir arbeiten mit Leuten, die vereinsamen zu | |
| Hause. Und genau so wie diese Menschen übersehen werden, werden wir auch | |
| übersehen: Der Bereich, in dem ich arbeite, ist ohnehin nie im Diskurs.“ | |
| (Vanessa, Anfang 30, ambulante Hilfe) | |
| Tatsächlich ist eine Hoffnung, dass sich Pflege und soziale Arbeit mit | |
| ihren Bewohner*innen, Patient*innen und Klient*innen solidarisiert; | |
| dass gesellschaftspolitische Schnittmengen gefunden werden zwischen diesen | |
| Gruppen und Möglichkeiten, Bündnisse herzustellen. Klar ist: Pflege geht | |
| alle an, auch wenn jene Menschen das gerne verdrängen, die gerade nicht auf | |
| sie angewiesen sind. | |
| 27 Oct 2021 | |
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