| # taz.de -- Pflegewissenschaftler über Ausbeutung: „Die Rückkehr der Dienst… | |
| > Die meisten osteuropäischen Kräfte, die alte Menschen zu Hause betreuen, | |
| > arbeiten illegal. Bislang interessiert sich die Politik kaum dafür. | |
| Bild: Die Pflege zu Hause muss man sich leisten können: eine alte Dame und ihr… | |
| taz: Herr Isfort, haben Sie sich gefreut über das Urteil des | |
| Bundesarbeitsgerichts, dass Bereitschaftszeiten in der 24-Stunden-Pflege | |
| bezahlt werden müssen? | |
| Michael Isfort: Freude ist vielleicht ein großes Wort. Natürlich habe ich | |
| damit gerechnet, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis man sich dieser | |
| Fragestellung angenommen hat, um zu schauen: Was sind das eigentlich für | |
| Arbeitsbedingungen und wie steht es um die Angleichung der Arbeitsrechte | |
| für Betreuungskräfte, die von Firmen im Ausland entsendet werden? | |
| Wird das Urteil das Arbeitsfeld der häuslichen Pflege, in dem vieles im | |
| Graubereich liegt, verändern? | |
| Man muss verstehen, dass [1][dieses Urteil] ein Urteil über ein Modell ist, | |
| das in dieser Form rückläufig ist. Denn die Entsendung einer Angestellten | |
| ist nicht mehr das vorherrschende Modell. Rechtlich ist dies aufwendig, da | |
| Bescheinigungen vorliegen müssen, die eine Sozialversicherungspflicht im | |
| Herkunftsland nachweisen. Die entsendende Firma muss nachweislich eigene | |
| und ähnliche Dienstleistungen im Herkunftsland anbieten. Was ich beobachte | |
| ist, dass man zunehmend über das Selbstständigen-Modell geht. Da treten | |
| vermeintlich Selbstständige an und verhandeln über ihre Arbeitsleistungen | |
| und auch ihre Arbeitszeiten – und darauf bezieht sich das Urteil nicht. Die | |
| Agenturen vermitteln für Selbstständige dann lediglich die Kontakte. Bei | |
| dem Modell der Selbstständigen gibt es aber die große Problematik der | |
| Scheinselbstständigkeit: Weil jemand, der über längere Zeit in einer | |
| Familie lebt, natürlich keinen zweiten Arbeitgeber hat. | |
| Wenn es Verhandlungssache ist: Wie gut ist die Position der | |
| Betreuungskräfte dabei? | |
| Es ist ein großer Graubereich. Das eine ist, dass die Vermittlungsfirmen | |
| einem mittlerweile sagen, dass sich die Position der Mitarbeitenden | |
| erheblich verbessert hat. Sie sind vielfach über Foren, Plattformen und | |
| Social Media vernetzt und haben längst ihren eigenen Marktwert erkannt, | |
| sodass es diese Dumpingpreise von rund 800 Euro, die es vor sieben, acht | |
| Jahren noch gab, in diesem Vermittlungsbereich nicht mehr gibt. Aber | |
| zunehmend werden auch Frauen aus Drittstaaten angeworben, aus der Ukraine | |
| zum Beispiel, um das Lohnniveau niedrig zu halten. Andererseits gibt es die | |
| große Frage der Schwarzarbeit, die ohnehin den Löwenanteil ausmachen wird. | |
| Da haben Gerichtsurteile keine Auswirkung, das ist nun einmal das Wesen der | |
| Schwarzarbeit. | |
| Wie sehen die Schattierungen dieses Graubereichs der häuslichen Betreuung | |
| aus? | |
| In der Literatur wird das oft beschrieben als die Rückkehr der Dienstmagd: | |
| eine Beschäftigte, die in einer Dachmansarde wohnt und dem bürgerlichen | |
| Mittelstand oder der Oberschicht rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen | |
| hat. Das ist sicherlich etwas, was auch weiterhin existieren wird. Momentan | |
| haben wir auf der einen Seite radikale Ausbeutung und auf der anderen Seite | |
| fast familiäre, zusammengewachsene Strukturen, eine „Quasi- Adoption“, | |
| wobei auch dies kritisch ist. Das beidseitige Gelingen der Konstellation | |
| ist eher zufallsorientiert, und es gibt keine Kontrollfunktion und auch | |
| keine Hilfestellung, wenn eine Haushaltshilfe sagt: Ich bin hier fachlich | |
| oder emotional überfordert. Dienstleitungsverträge für Frauen sind bei den | |
| schwarzen Schafen der Agenturen in diesem Markt weiterhin Knebelverträge | |
| mit Strafzahlungsklauseln. Genauso gibt es aber mittlerweile Berichte, wo | |
| Familien sagen: Wir sind hier Opfer geworden, weil es ein Bereich ist, der | |
| auch für kriminelle Organisationen interessant ist. Man kommt ganz nah an | |
| ältere, eingeschränkte und versorgungsbedürftige Menschen heran, die einem | |
| vielleicht den Zugang zum Konto ermöglichen. | |
| Ist die Betreuung zu Hause ein Modell, das sich nur Besserverdienende | |
| leisten können? | |
| Das konnte immer nur diese Minderheit. Die guten Vermittlungsagenturen, die | |
| über legale Entsendemodelle mit strukturierten Partnerfirmen und deren | |
| Angestellten gearbeitet haben, haben von Anfang an darauf geachtet, dass | |
| die Unterbringungsqualität für die Frauen gewährleistet sein muss, sonst | |
| haben sie gar nicht in eine Familie vermittelt. Das heißt aber, wir reden | |
| in der Regel über eine Einzelperson, die allein in einem Haus wohnt oder in | |
| einer so großen Wohnung, dass man problemlos ein oder zwei Räume und ein | |
| Bad zur Verfügung stellen kann. | |
| Sind das also Leute, die sich die Entlohnung, die das Urteil vorschreibt, | |
| durchaus leisten könnten? | |
| Für viele Familien, [2][die das Modell nutzen], ist es aus ihrer | |
| Perspektive die einzige Möglichkeit, um ein Leben in der stationären | |
| Altenhilfe zu verhindern und das selbstständige Leben zu Hause weiter zu | |
| gewährleisten. Auch die Unterbringung in einer stationären Einrichtung ist | |
| schließlich sehr kostspielig. Dass das jetzt zu großen finanziellen | |
| Verwerfungen in den Familien führt, kann ich mir eigentlich nicht | |
| vorstellen. Dass der illegale Sektor dadurch gestärkt werden könnte, ist | |
| nicht auszuschließen. Insgesamt sind die Nutzerinnen aber überwiegend aus | |
| dem reicheren Milieu. Deswegen gibt es an dieser Stelle auch ein Wegducken | |
| des Staates, da die Kosten auf die Familien zurückverlagert werden und | |
| keine Gemeinschaftsaufgabe darstellen. Der Staat engagiert sich dabei weder | |
| für die Rechte noch für die Integration der betreuenden Frauen in das | |
| bestehende Pflegesystem, wohl wissend, dass ohne diese Frauen das | |
| Pflegesystem in seiner jetzigen Form und Möglichkeit sofort kollabieren | |
| würde. | |
| Machen es sich die beschäftigenden Familien zu leicht – weil sie eigentlich | |
| über Agenturen legale Beschäftigungsverhältnisse eingehen könnten? | |
| Viele der Familien könnten sogar selbst und damit vollkommen legal als | |
| Arbeitgeber fungieren. Diese Möglichkeit besteht, aber sie wird nur in ganz | |
| geringem Umfang genutzt, weil es für die meisten zu viele bürokratische | |
| Hürden sind: das An- und Abmelden von Mitarbeitern, man muss gegebenenfalls | |
| Arbeitszeitkonten führen, man muss alle Aufgaben, die ein Arbeitgeber hat, | |
| erfüllen. Damit sind viele Familien überfordert. Hinzu kommt, dass sich | |
| viele Familien sicherlich der ethischen Fragen und Probleme gar nicht | |
| bewusst sind. | |
| Warum nutzen nicht mehr Familien die Agenturen, wenn sie es sich eigentlich | |
| leisten können? | |
| Die Notwendigkeit einer Lösung besteht oft sehr akut, sehr schnell und aus | |
| einer Notlage heraus. Die Krankenhausentlassung steht an, eine | |
| Eigenversorgung und -betreuung ist nicht gewährleistet und Kenntnisse über | |
| legale gegenüber irregulären Möglichkeiten liegen nicht vor. Da überwiegt | |
| die Suche nach kurzfristigen Lösungen und die Verlockung ist groß, über | |
| Mund-zu-Mund-Propaganda zu gehen, im Internet eine Sofortlösung zu buchen | |
| oder Kleinanzeigen aufzugeben, statt Beratung und Vermittlung in Anspruch | |
| zu nehmen, die möglicherweise erst in ein paar Wochen greifen kann. | |
| Führt dieses Minderheitenmodell der Betreuung zu Hause dazu, dass sich die | |
| prekären Verhältnisse in der stationären Altenpflege verfestigen, weil die | |
| Lobby dagegen zu klein und machtlos ist? | |
| Das ist eine große Fragestellung, was es innerhalb eines Systems bewirkt, | |
| wenn diejenigen, die sich ihm entziehen können, das auch machen, statt als | |
| Wortführer für eine Verbesserung einzustehen. Das haben wir aber bei der | |
| Rente genauso wie bei der Krankenversicherung oder der Bildung. Dass bei | |
| der Pflege deshalb das Gesamtsystem im Level niedriger gehalten werden | |
| kann, ist nicht auszuschließen. Aber dazu gibt es auch keine systematischen | |
| Arbeiten, die einen Zusammenhang darstellen. | |
| Solange es ein wirtschaftliches Ost-West-Gefälle gibt, wird sich das Modell | |
| halten. | |
| Wir haben immer gesagt, dass man sich auch innerhalb der Familien der | |
| ethischen Dimension klar werden muss: Wenn ich das mache, was bedeutet das | |
| eigentlich für das Herkunftsland? Das war eine Diskussion, die wir vor | |
| vielen Jahren mit Kollegen in der Ukraine geführt haben, die sagten: Wir | |
| haben hier mittlerweile Kinder, die haben zu Hause keine Eltern mehr, weil | |
| die Mutter auf Pflegemontage ist und der Vater beim Bau arbeitet. Das hat | |
| große gesellschaftspolitische Implikationen: Was bedeutet es denn, wenn wir | |
| die Versorgungskapazität aus Ländern abziehen, wo die Bevölkerung | |
| ihrerseits auch Hilfe braucht und auch ältere Bevölkerung da ist? | |
| Wie könnte man versuchen, die vielen illegalen Beschäftigungen zu beenden? | |
| Das findet zurzeit gar nicht statt. Der Zoll kann das weder personell | |
| leisten noch ist er rechtlich dazu in der Lage. Wobei mir wichtig ist zu | |
| betonen, dass weder die Familien mit ihren Lösungsversuchen noch die | |
| Frauen, die diese Arbeit leisten, kriminalisiert werden. Man muss Zugänge | |
| schaffen und das schafft man durch Unterstützung, nicht durch Bedrohung. | |
| Der Weg über zertifizierte Agenturen kann einer sein. Ein eigenes | |
| Betreuungshilfegesetz ein anderer. | |
| In der Pandemie hat man gesehen, dass die Politik plötzlich das Thema der | |
| ausländischen Betreuungskräfte auf dem Schirm hatte. | |
| Es war eine große Befürchtung da, dass es eine Unterversorgung von | |
| Pflegebedürftigen in den privaten Haushalten geben könnte, weil die | |
| Grenzübertritte für die Haushalts- und Betreuungskräfte anfänglich nicht | |
| gewährleistet waren. Und da gab es eine große politische Unterstützung. Die | |
| Agenturen sind an die Politik herangetreten und haben gesagt: Es kann nicht | |
| sein, dass Spargelstecher eingeflogen werden und Frauen, die als | |
| Betreuungskräfte im sensiblen Bereich arbeiten, keinen Grenzübertritt | |
| haben. Da hat man sehr schnell reagiert. Auf der anderen Seite haben die | |
| betreuenden Frauen auch vielfach gesagt: Die Ablösung kann nicht kommen, | |
| aber ich verlasse jetzt die Familie nicht, ich lasse die Leute nicht | |
| unversorgt zurück. | |
| 25 Aug 2021 | |
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| Friederike Gräff | |
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