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# taz.de -- 24-Stunden-Pflege zu Hause: Häusliche Notgemeinschaft
> Mindestlohn für die 24-Stunden-Pflege ist nicht die Lösung. Es braucht
> neue Regeln, die BetreuerInnen, aber auch Pflegehaushalten gerecht
> werden.
Bild: Angehörige werden oft durch Betreuungskräfte aus dem Ausland versorgt �…
Die Jubelrufe zum Urteil lösen in manchen Pflegehaushalten Beklemmungen
aus. Das Bundesarbeitsgericht hat geurteilt, dass in einen Privathaushalt
entsandte [1][ausländische Betreuungskräfte] Anspruch auf gesetzlichen
Mindestlohn haben – auch für den „Bereitschaftsdienst“. Als
Bereitschaftsdienst gilt, wenn die Betreuungskraft im Haushalt mitwohnt und
dabei rund um die Uhr verfügbar ist.
Im Klartext bedeutet das, dass die im Haushalt mitwohnende Betreuungskraft
bei einer nahezu 24-Stunden-Bereitschaft zum Stundenlohn von 9,60 Euro auf
einen Bruttolohn von fast 7.000 Euro im Monat kommen müsste. Das kann kaum
ein Pflegebedürftiger bezahlen.
Als „wegweisend und richtig“ bezeichnete Bundesarbeitsminister Hubertus
Heil (SPD) das Urteil. Der Deutsche Gewerkschaftsbund sprach von einem
„Paukenschlag“ gegen „ausbeuterische Geschäftsmodelle“.
Wer eine durch einen Schlaganfall gezeichnete Mutter oder einen Vater hat,
die zu Hause durch eine Betreuerin aus dem EU-Ausland versorgt wird,
bekommt bei diesen Lobreden Schweißausbrüche. Schätzungsweise mehr als
300.000 pflegebedürftige Menschen werden von ausländischen HelferInnen zu
Hause betreut. Dabei spielt das Lohngefälle zwischen den EU-Ländern
Richtung Osten eine Rolle. Es stimmt aber nicht, dass es sich hier immer um
schlimmste Ausbeutungsverhältnisse handelt. Die häusliche Betreuung ist
vielmehr eine Notgemeinschaft der Schwachen.
Die mitwohnenden Betreuerinnen können durchaus selbst bestimmen, ob und wie
sie arbeiten möchten. Die Frauen (und wenige Männer) bleiben in der Regel
ein bis drei Monate und gehen dann wieder im sogenannten Wechselmodell für
eine Weile [2][in die Heimat zurück.] Dabei macht es einen Unterschied, ob
die BetreuerInnen aus einem EU-Land kommen oder als Illegale ohne
Arbeitsvisum aus einem Drittstaat.
Die Situationen vor Ort sind zudem sehr unterschiedlich: Es gibt
SchlaganfallpatientInnen, die nachts durchschlafen. Sie brauchen jemanden
im Haus, der beim Waschen, beim Anziehen, beim Toilettengang, beim Essen
hilft, vielleicht einen Spaziergang macht. Hat die Betreuerin dann
Sozialversicherungsschutz im Herkunftsland, hat sie, wie heute von
Vermittlungsagenturen verlangt, ein eigenes Zimmer mit WLAN-Anschluss zum
Skypen mit der eigenen Familie, jeden Tag etwas Freizeit ohne Bereitschaft,
jede Woche mindestens einen Tag frei und nach acht Wochen wieder eine lange
Pause in der Heimat, helfen die Angehörigen der Pflegebedürftigen mit, dann
ist der Deal okay für alle Beteiligten.
Oft aber läuft es anders: Verwirrte SeniorInnen, die nachts umherirren, und
Familien, die eine billige Putzfrau und Köchin suchen und sich vor Ort
nicht blicken lassen, Betreuerinnen, die ohne Vernetzung und ohne Sprach-
und Vorkenntnisse in einen solchen Haushalt geraten sind. Eine baldige
Abreise können sich jedoch nur Betreuerinnen aus einem EU-Land leisten, die
Deutsch sprechen und sich ihre KundInnen aussuchen können. Wer aus
Drittstaaten wie der Ukraine kommt und illegal in Deutschland arbeitet, hat
es hingegen schwerer.
Heikel ist die Care-Arbeit dennoch für alle: Die Abgrenzung von Arbeits-
und Ruhezeiten ist ein Problem, auch die hohen Summen, die
Zeitarbeitsfirmen und Vermittlungsagenturen verlangen. Bei einem
Unternehmen, das freiberufliche Pflegerinnen vermittelt, werden 2.500 Euro
im Monat vom KundInnen verlangt, die oder der Pflegende bekommt nur 1.600
Euro und muss davon noch die Alterssicherung und einen Teil des
Krankenversicherungsschutzes bezahlen. 90 Prozent der
Beschäftigungsverhältnisse, schätzen Experten, seien ohnehin Schwarzarbeit
mit den verschiedensten Konstruktionen vom scheinbaren Minijob bis zu
direkter Barzahlung.
## Sonderstatus für selbständige BetreuerInnen
Man kann diese Care-Arbeit insgesamt verdammen. Aber das globale
Jobnomadentum nimmt zu und der Bedarf an Hilfskräften in Haushalten ebenso,
bedingt durch die Demografie und die doppelte Erwerbstätigkeit in vielen
Familien, die noch dazu fern der alten Eltern leben. Hunderttausende
[3][Pflegebedürftige] in Heimen zu betreuen, die ja auch 2.000 Euro
Eigenanteil verlangen, wäre zudem wegen des Heimplatzmangels gar nicht
machbar.
Es wäre mutig, einen politischen Regulierungsversuch zu wagen, der
Pflegenden und Pflegehaushalten einen Mindestschutz gewährt und die
Aktivitäten der teuren Vermittlungsagenturen zumindest teilweise
überflüssig macht. In einem [4][Gutachten schlug der Arbeitsrechtsexperte
Gregor Thüsing] von der Universität Bonn vor, für die BetreuerInnen per
Gesetz einen Sonderstatus zu schaffen. Als „Selbstständige“, aber mit
Sozialversicherungsschutz, zumindest Rentenversicherungspflicht. In Polen
und Österreich gibt es bereits Konstruktionen der „arbeitnehmerähnlichen
Selbstständigen“ für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft. Agenturen
vermitteln in Deutschland bereits viele „Selbstständige“ aus dem EU-Ausland
in Pflegehaushalte, für sie gilt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts
nicht.
Ein Gesetz über einen arbeitnehmerähnlichen Selbstständigenstatus könnte
Bestimmungen zu Ruhezeiten und Beschäftigungsperioden in einem Haushalt
beinhalten. Die Pflegebedürftigen sollten für das Honorar dieser
Betreuerinnen auch die Sachleistungen der Pflegeversicherung in Anspruch
nehmen können.
Ein solcher Vorstoß wäre sicher umstritten. Die Politik verschließt daher
lieber die Augen, und die Schwarzarbeit boomt. Man kann aber nicht nur auf
die Einhaltung von Normen pochen und in der Realität dann Tausende von
Betroffenen, Pflegehaushalten und potenziellen Betreuungskräfte im
Graubereich allein lassen. Neue Normen für bestimmte Situationen – dafür
braucht es politischen Mut: die Bereitschaft, sich mit vielen Seiten
anzulegen.
9 Jul 2021
## LINKS
[1] /Mindestlohn-fuer-Osteuropaeerinnen/!5777821
[2] https://www.vhbp.de/fileadmin/user_upload/201026_VHBP_-_Standard_Rechtskonf…
[3] /Pflegereform-kommt/!5772401
[4] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikation…
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Arbeitnehmer
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Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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Bundesarbeitsgericht
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Alten- und Pflegeheime
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