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# taz.de -- Neues Urteil zur Altenpflege: Würde nur dank Opfer
> Pflege übernehmen in einem marktbasierten System fast immer Frauen. Ein
> Urteil des Bundesarbeitsgerichts macht das Problem daran sichtbar.
Bild: Helfende Hände
Mehr als 4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig.
Demografiebedingt wird diese Zahl in den kommenden Jahrzehnten steigen.
Steigen wird auch der Anteil unseres Lebens, den wir in Abhängigkeit von
der Fürsorge anderer verbringen.
Das ist an sich keine schlechte Nachricht, sondern gehört zum Menschsein
dazu. Den Unterschied macht, ob man das Leben als Pflegebedürftige*r
in Würde verbringen kann. Das gilt nicht nur im Alter, sondern auch für
behinderte und chronisch kranke Personen.
Die schlechte Nachricht ist, dass uns dafür der Masterplan fehlt.
Stattdessen haben wir eine Behelfslösung, die uns zwischen den Fingern
zerrinnt: Gender.
Pflege und Betreuung übernehmen in großer Mehrheit Frauen. Frauen, die
dafür Opfer bringen. Weil sie in entsprechenden Berufen mit schlechter
Bezahlung Armut riskieren. Weil sie als Angehörige gratis Jahre ihres
Lebens pflegebedürftigen Eltern, Partner*innen oder Kindern widmen. Oder
weil sie als ausländische Betreuungskräfte einem grauzonigen,
zwischenstaatlichen Markt ausgeliefert sind.
## Ein Tag hat 24 Stunden
Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat kürzlich dieses Problem endlich
sichtbar gemacht. Ausländische Betreuungskräfte müssen, wenn sie
24-Stunden-Bereitschaft in einem Privathaushalt leisten, auch 24 Stunden
bezahlt bekommen. In Deutschland sind das mehrere Hunderttausend, [1][meist
aus osteuropäischen Ländern].
Wo ich herkomme, ein mittelständischer Vorort im Südwesten, nannte man
dieses Pflegeregime „eine Polin holen“. Mit diesem geflügelten Wort
bedienten wir uns bei den Machtkategorien Gender und Nation, um nicht sagen
zu müssen: „Wir bezahlen jemandem 8 Stunden Mindestlohn [2][für 24 Stunden
Dienst].“
Das darf jetzt also nicht mehr sein, und das ist eine handfeste Krise. Denn
eine faire Bezahlung für sogenannte Live-in-Betreuerinnen, mit
Arbeitsbedingungen, die man für sich und seine Lieben einfordern würde,
kann sich kaum jemand leisten. Heimpflege ist teuer, wenn man die Wahl
haben möchte.
Ein Entscheid eines Arbeitsgerichts, der unumstritten sein sollte, zeigt:
In Würde leben funktioniert bei uns nur, indem sich Frauen aufopfern. Das
wird offensichtlicher, je mehr Frauen sich aus dem Bild der
aufopferungsvollen Heiligen befreien. Ohne Patriarchat sitzen wir
buchstäblich in der Scheiße.
## Grundversorgung statt Markt
Das „Holen der Polin“ ist bereits ein Lifehack aus der Hölle für genau
diesen Trend gewesen. Das ist kein Plädoyer, dass Männer sich gleichermaßen
aufopfern sollen. #feminis #SelbstausbeutungFuerAlle – nein danke. Es ist
ein Plädoyer für eine gemeinschaftlich getragene berufliche Pflege, eine,
die kein Markt ist, irgendwo zwischen Liebe, Schuldgefühl und dem östlichen
Ausland. Sondern eine Grundversorgung.
Das heißt Umverteilen. Und das klingt radikal, ist es aber nicht, weil wir
jetzt schon umverteilen: die Lebensenergie von Frauen.
9 Jul 2021
## LINKS
[1] /extra/20-Jahre-Berliner-Tafel/!5072766
[2] /Gerichtsverfahren-zu-Arbeitszeit/!5701480
## AUTOREN
Peter Weissenburger
## TAGS
Kolumne Unisex
Osteuropa
Gender
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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Arbeitnehmer
Pflege
Schwerpunkt Coronavirus
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