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# taz.de -- Omikron und Gesellschaft: Die pandemische Kränkung
> Damit die Infrastruktur nicht zusammenbricht, ist plötzlich für alle
> wichtig, wie der Einzelne sich verhält. Das müssen viele erst wieder
> lernen.
Bild: Schön warm wollen wir es doch alle gemeinsam haben
Zwar sind sich Expert*innen und Politiker*innen noch uneinig, wann
und ob ein Lockdown kommen wird und wie er genau aussehen soll. Mit der
sich schnell ausbreitenden Omikron-Variante steht aber bereits die fünfte
Welle der Covidpandemie bevor, noch ehe die vierte Welle abgeklungen ist.
Die am vergangenen Sonntag veröffentlichte [1][Stellungnahme des
Expert*innenrats] der Bundesregierung zu den Konsequenzen der
Omikron-Welle zeichnete ein düsteres Bild, das in seiner Drastik deutlich
über abgesagte Weihnachtsfeiern, geschlossene Geschäfte und volle
Intensivstationen hinausgeht.
Das neu geschaffene Gremium warnte eindrücklich vor einem möglichen
[2][Zusammenbrechen der kritischen Infrastruktur], da durch die schiere
Zahl der gleichzeitig erkrankten oder in Quarantäne befindlichen Menschen
wichtige gesellschaftliche Funktionen nicht mehr aufrechterhalten werden
könnten. Mit kritischer Infrastruktur sind Krankenhäuser gemeint, aber auch
Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Telekommunikation, Strom- und
Wasserversorgung und die entsprechende Logistik.
Die SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, sprach am
Donnerstag sogar davon, die Quarantäneverordnung zu ändern, [3][„so dass
Menschen in der kritischen Infrastruktur, wenn sie leicht erkrankt sind,
trotzdem eingesetzt werden können“.]
## Was Angst macht
Solche Warnungen verunsichern und machen Angst. Individuelles Risiko und
gesellschaftliche Folgen abzuwägen sind keine Gedankengänge, mit denen
viele Menschen vertraut sind. Dass das eigene Impf- und Sozialverhalten
dazu beitragen kann, ein solches Szenario zu verhindern, ist abstrakt zwar
vielleicht einsichtig, konkret aber schwierig einzuschätzen. Die Bewertung,
dass Omikrom so ansteckend sei, dass sich sowieso jede*r anstecken wird,
kann zu Bequemlichkeit und Fatalismus führen: Zwar möchte man einen
möglichst milden Verlauf, dieser kann aber durchaus einer mittleren bis
schweren Grippe ähneln. Dass es für die Aufrechterhaltung der
gesellschaftlichen Logistik wichtig sein soll, dass nur eine überschaubare
Menge von Leuten diese Symptome gleichzeitig haben, klingt im Globalen
Norden geradezu absurd.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Infrastruktur funktioniert und halten
ein sehr hohes Maß an Bequemlichkeit für normal. Zudem funktioniert die
Vermeidung von Worst-Case-Szenarien nicht für das körpereigene
Belohnungssystem: Wenn es nicht eintritt, hat man zwar wohl alles richtig
gemacht. Dies muss man sich aber aktiv bewusst machen, von selbst schüttet
das Gehirn dafür keine Belohnungshormone aus, anders als wenn man sich
trotz der drohenden Gefahr etwas gönnt, wie eine Reise oder ein Treffen mit
Freund*innen.
Körperlichkeit wird in den westlichen Gesellschaften oft verdrängt.
Zugelassen und thematisiert wird sie nur, wenn angenehme und
gesellschaftlich erwünschte Gefühle und Erfahrungen damit verbunden sind,
wie durch Tanzen oder Essen. Ansonsten soll der Körper halt einfach
funktionieren. Unangenehme Empfindungen, die mit Krankheit und
Verletzlichkeit einhergehen, sind der unerwünschte Ausnahmefall, über den
man lieber nicht spricht. Die ständige Erinnerung an die eigene
Verletzlichkeit ist aber seit fast zwei Jahren zum Normalfall geworden. Und
statt endlich mal aufzuhören, wird alles immer noch schlimmer, nun kommt
auch noch die Fragilität der gesellschaftlichen Systeme zu den Gefahren
hinzu.
Der sich selbst für ein solches autonomes Individuum haltende Mensch
erfährt durch die Pandemie eine umfassende Kränkung. Um die eigene Ohnmacht
und Angst angesichts dieser Bedrohungen in den Griff zu bekommen, gibt es
verschiedene Mechanismen, die unterschiedlich gut funktionieren. Das
Anerkennen und gemeinsame Bearbeiten dieser Belastungen wären wohl
langfristig am förderlichsten. Erst die Behindertenbewegung, dann auch die
feministische und die queere Bewegung haben darauf aufmerksam gemacht, dass
die Idee des autonomen, fähigen, selbstgenügsamen und starken Individuums
für die Einzelnen und für die Gesellschaft eher schwierig als förderlich
ist und dass es sinnvoller ist, Menschen als sozial und emotional
bedürftige Wesen anzuerkennen.
## Realistischer Blick
Da vielen der Ausweg über eine solche Reflexion aber versperrt ist, üben
sie sich in verschiedenen Formen der Vermeidung, am destruktivsten für sich
und andere wohl momentan die „Querdenker“.
Aber auch für diejenigen, die einen realistischeren Blick auf die aktuellen
Probleme haben, scheint es keine gute Zeit, der eigenen Verletzlichkeit
nachzugehen. Stattdessen werden Stärke und Resilienz betont. Die
Schwächeren und Empfindlicheren werden dann oft nur noch theoretisch
mitgedacht. Bei manchen Menschen, die immunsupprimiert sind, schlagen
beispielsweise die Impfungen nicht oder kaum an. Diesen bleibt nichts
anderes übrig, als sich selbst zu isolieren, denn sie können sich nicht nur
leichter anstecken, es wäre auch ein heftiger Krankheitsverlauf
wahrscheinlich.
Politische Konzepte gibt es für diese Menschen nicht. Wenn sie nicht völlig
auf soziale Kontakte verzichten wollen, brauchen sie Menschen um sich, die
sich ebenfalls sehr zurückhalten, die sich also noch mehr einschränken als
sowieso bereits nötig. Das Gleiche gilt auch für manche Menschen mit
Behinderung, für die bereits eine schwere Grippe lebensbedrohlich wäre oder
die in den vollen Krankenhäusern keine Chance auf die Versorgung hätten,
die sie brauchen.
Statt jetzt nur [4][zu hamstern], bevor die kritische Infrastruktur
zusammenbricht, könnte man sich lieber auf einen neuerlichen Winter mit
größtmöglicher Kontaktbeschränkung einstellen. Vielleicht ist eine Antwort
auf die Pandemie, die sozialen Unterstützungsnetze aufzubauen, um diese
Leute nicht sich selbst zu überlassen. Das könnte auch den vermeintlich
Starken Hoffnung machen, dass Schwäche nicht schlimm sein muss. Die
Fähigkeit, individuelles Risiko und gesellschaftliche Folgen abzuwägen,
werden wir auch nach der Pandemie für die Klimakrise noch brauchen.
25 Dec 2021
## LINKS
[1] /Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5822930
[2] /Lauterbach-und-RKI-ueber-Omikron/!5821137
[3] https://www.youtube.com/watch?v=yE6uXxsndgo
[4] /Hamstern-in-Coronazeiten/!5721253
## AUTOREN
Kirsten Achtelik
## TAGS
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