| # taz.de -- Ökonom über Superreichtum: „Die Ungleichheit ist zu groß“ | |
| > Der Ökonom Heiner Flassbeck hält die Bedingungen, unter denen eine | |
| > Gesellschaft hohen Reichtum akzeptieren kann, derzeit für nicht gegeben. | |
| Bild: Hier trifft sich das große und das kleine Geld: Handelskammer Hamburg | |
| taz: Herr Flassbeck, wie würden Sie definieren, ab wann jemand zu reich | |
| ist? | |
| Heiner Flassbeck: Das ist eine rein normative Frage, da gibt es nichts zu | |
| definieren. In gewisser Weise reich ist jeder, der mehr hat als das, was | |
| man zum Leben braucht. Darüber hinaus gibt es offenbar total | |
| unterschiedlich Reiche, und es gibt viele, [1][die nicht wissen, was sie | |
| mit ihrem Reichtum anfangen sollen]. Die sind sicher zu reich. | |
| Aber ist der zu große Reichtum Einzelner nicht irgendwann schädlich – rein | |
| ökonomisch betrachtet? | |
| Auch das lässt sich nicht so allgemein sagen. Großer Reichtum kann nützlich | |
| und schädlich sein. Es kommt ja immer darauf an, was mit diesem Reichtum | |
| geschieht. Wenn Unternehmer in einer gut funktionierenden Marktwirtschaft | |
| dadurch reich werden, dass sie hohe Produktivitätsfortschritte haben, | |
| Arbeitnehmer am Erfolg partizipieren und die Unternehmer hohe Steuern | |
| bezahlen, dann kann man schwerlich von vornherein sagen, dass der so | |
| entstandene Reichtum verwerflich ist. Es gibt Bedingungen, unter denen eine | |
| Gesellschaft die Akkumulation von Reichtum akzeptieren kann. Nur unter | |
| diesen Bedingungen leben wir gegenwärtig nicht. | |
| Ihr Beispiel klingt nach dem „Trickle-Down-Effekt“, dass also Wohlstand der | |
| Reichen nach und nach in die unteren Schichten der Gesellschaft | |
| durchsickern würde. | |
| [2][Der Ökonom John Maynard Keynes nannte das mal den | |
| „Pferdeäpfel-Effekt“.] Wenn die Pferde gut zu fressen haben, haben auch die | |
| Spatzen gutes Essen. Also: Ja, das Beispiel kann darunter fallen. Aber | |
| wenn, so wie ich es mal in Indien erlebt habe, die Reichen abends ihre | |
| Essensreste auf die Straße werfen, damit die Hungernden etwas zu essen | |
| haben, kann das auch als Trickle-Down-Effekt bezeichnet werden. Das alleine | |
| sagt auch nichts. Es ist letztlich ein Begriff, dem ein klarer Inhalt | |
| fehlt. | |
| Nach einer kürzlich erschienenen Studie des Deutschen Instituts für | |
| Wirtschaft (DIW) besitzen die reichsten zehn Prozent rund 67 Prozent des | |
| Vermögens in Deutschland. Das ist mehr als vorherigen Schätzungen zufolge. | |
| Hat Sie das überrascht? | |
| Nein, da gibt es immer eine große Unsicherheit in diesen Schätzungen. | |
| Besonders über die ganz reichen Familien weiß man unheimlich wenig. Es ist | |
| im Detail aber letztlich egal. Der entscheidende Punkt ist, ob diese | |
| Gesellschaft vernünftig funktioniert. Ich behaupte: Sie funktioniert nicht | |
| vernünftig, weil am unteren Ende viele Leute zu wenig Einkommen haben, um | |
| vernünftig zu leben. Es muss darum gehen, allen Menschen in einer reichen | |
| Gesellschaft genug Einkommen zu geben, sodass sie sich nicht jeden Tag | |
| fragen müssen, wie und ob sie über die Runden kommen. Genau diese Frage | |
| wird aber in Deutschland aus ideologischen Gründen blockiert. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Man hat sich eingeredet, Hartz IV sei die Basis für den wirtschaftlichen | |
| Erfolg der letzten 15 Jahre gewesen und deswegen dürfe man das niemals | |
| infrage stellen. Das ist grundlegend falsch. Der Grund ist: Deutschland hat | |
| hohe Handelsüberschüsse erzielt und vielen Ländern damit unmittelbar | |
| geschadet. Und das kann offenbar kein Rezept für alle sein. Doch man will | |
| diese „deutsche Story“ nicht zur Kenntnis nehmen. | |
| Es gibt auch das Narrativ, dass die Schere zwischen extrem arm und extrem | |
| reich immer weiter auseinandergeht. Kann man das so einfach sagen? | |
| Also dieses „immer weiter“ ist schwierig zu sagen. Diese Schere ist Anfang | |
| der 2000er-Jahre eindeutig aufgegangen durch die Lohnzurückhaltung der | |
| Gewerkschaften, Hartz IV und Weiteres. Ob es weiter auseinandergeht, weiß | |
| ich nicht. Man muss aber fragen, ob das Auseinandergehen gerechtfertigt war | |
| oder nicht. | |
| Jetzt reden wir über hohe und niedrige Einkommen. Dazu wird auch immer mal | |
| wieder über eine Veränderung des Spitzensteuersatzes diskutiert. Aber hat | |
| das Einkommen irgendeinen Einfluss auf diese besonders großen Vermögen? | |
| Vermögen ist immer eine Folge von Einkommen. Nun leben wir momentan in | |
| einer Welt ohne Zinsen, sodass sich das Geld nicht von alleine vermehrt. | |
| Deshalb muss man über die Einkommensfrage reden und fragen, ob es | |
| gerechtfertigt ist, dass der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen 120 Mal so | |
| viel wie einfache Angestellte verdient. | |
| Aber viele der reichsten Menschen in Deutschland sind seit dem Tag ihrer | |
| Geburt schon extrem reich. Anders gesagt: Sie haben den Reichtum geerbt. | |
| Die gibt es natürlich auch, aber gerade in den letzten Jahren sind viele | |
| dazugekommen. Also etwa die Vorstandsvorsitzenden und Weitere, die am Tag | |
| ihrer Geburt vielleicht noch nicht reich waren. Und auch das ist nicht | |
| gerechtfertigt. Aber wenn wir auf die schauen, die es bereits von Geburt an | |
| sind, [3][dann müssen wir über Erbschaftssteuern reden]. Das ist ja auch | |
| ein heißes Thema. | |
| Da müsste die Politik rangehen? | |
| Sicher. Eine Vermögenssteuer und eine effektive Erbschaftssteuer sind das | |
| Normalste der Welt. Nur wissen Sie ja, wie brutal in Deutschland der | |
| Widerstand dagegen ist. Das wird als „Raubzug gegen die Reichen“ | |
| bezeichnet. Das ist ungeheuerlich. | |
| Wenn man der CDU Glauben schenkt, würde eine umfassende Reform der | |
| Erbschaftssteuer in der Katastrophe enden, weil das Vermögen vor allem in | |
| den Unternehmen der Reichen steckt – und damit Arbeitsplätze dran hängen. | |
| Was sagen Sie dazu? | |
| Das stimmt natürlich nicht. [4][Unternehmen sind davon schon immer | |
| großzügig ausgenommen worden.] Ohne Zweifel steckt ein großes Vermögen in | |
| Immobilien, Yachten und den Billionen von vagabundierendem Kapital in | |
| dieser Welt. Genau wie es in anderen Ländern geschieht, könnte auch hier | |
| darauf zugegriffen werden, ohne dass ökonomisch etwas Negatives passiert. | |
| Die Leute müssen halt etwas von ihrem Vermögen abdrücken. Das fällt denen | |
| schwer, aber anders lässt sich die entstandene Ungleichheit nicht | |
| korrigieren. | |
| Sie haben mal gesagt: „Steuern sind zum Steuern da.“ Heißt das, | |
| Hauptaufgabe des Staates ist eigentlich die Vermeidung von zu großem | |
| Reichtum und damit hoher Ungleichheit? | |
| Ob es die Hauptaufgabe ist, das weiß ich nicht. Sicherlich ist es aber eine | |
| seiner wichtigen Aufgaben. Er muss dafür sorgen, dass die Gesellschaft | |
| möglichst kohärent bleibt. Es ist ja kein Zufall, dass jetzt alles | |
| auseinanderdriftet. Viele fühlen sich abgehängt und denken: „Der Staat geht | |
| einfach über mich hinweg.“ Das ist die Stimmung, die wir erzeugt haben mit | |
| der Parole, der Neoliberalismus sei alternativlos. Das ist er aber nicht. | |
| Gehören Superreiche nicht zu unserer Wirtschaftsordnung? | |
| Überhaupt nicht. Ein gewisser Reichtum gehört schon dazu, aber mit einem | |
| vernünftig strukturierten Mittelstand lässt sich eine erfolgreiche | |
| Wirtschaft betreiben. Superreiche gehören nicht zu den Grundzügen, das | |
| haben wir ja in den 1950er- und 1960er-Jahren gesehen. Da gab es hohe | |
| Steuersätze sowie hohe Vermögenssteuern und die Wirtschaft war sehr | |
| erfolgreich. | |
| Das Team der DIW-Studie macht den Vorschlag, nicht die Reichen stärker zu | |
| besteuern, sondern Arme beim Vermögensaufbau finanziell zu unterstützen. | |
| Was halten Sie davon? | |
| Mit dem Begriff Vermögensaufbau ist das immer so eine Sache. Wenn der Staat | |
| jedem 50 Euro in die Hand drückt, entsteht dadurch ja bei niemandem ein | |
| Vermögen. Das wurde vor 100 Jahren schon gefordert und stimmt immer noch | |
| nicht. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Löhne steigen und der | |
| Mindestlohn deutlich hochgeht. | |
| Wie wird sich die Coronakrise auf das Vermögen der ganz Reichen auswirken? | |
| Müssen die um viele Milliarden zittern? | |
| Das lässt sich nicht allgemein prognostizieren. Viele Leute verlieren Geld, | |
| auch Vermögende. Wer Kreuzfahrtschiffe besitzt, wird sicherlich etwas | |
| verlieren. Aber da gibt es keine Systematik. Denn zugleich haben die | |
| Digitalkonzerne massiv gewonnen. | |
| 8 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Aktivist-ueber-Reichtum/!5705494/ | |
| [2] /Oekologische-und-oekonomische-Krise/!5688574&s=keynes/ | |
| [3] /Reichtum-in-Hamburg/!5701717&s=erbschaftssteuer/ | |
| [4] /Millionaerinnen-fuer-die-Gemeinschaft/!5694757/ | |
| ## AUTOREN | |
| André Zuschlag | |
| ## TAGS | |
| Reichtum | |
| Erbschaftssteuer | |
| Kapitalismus | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Koalition | |
| Schlagloch | |
| Reichtum | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Hartz IV | |
| Reichtum | |
| Reichtum | |
| Reichtum | |
| Vermögenssteuer | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Grünen und Reichtum: Jein zur Vermögensteuer | |
| In Sachen Reichtum und Steuern drucksen die Grünen rum. Das ist peinlich | |
| und intellektuell unredlich, zumal sie sich sonst gern streitlustig geben. | |
| Trumps Geschäfte: Der oberste Plutokrat | |
| Seit 2016 recherchiere ich Geschäften und Kontakten von US-Präsident Donald | |
| Trump hinterher. Jetzt brauche ich eine neue Obsession. | |
| Studie über Superreiche: Gewinn in der Krise | |
| Milliardär*innen sind in Deutschland und weltweit trotz Corona reicher | |
| geworden. Das liegt vor allem an der Erholung der Aktienmärkte. | |
| Krisenbündnis zur Coronapandemie: Linke laden Reiche ein | |
| Das Bündnis „Wer hat der gibt“ bittet Reiche für die Kosten der Pandemie | |
| zur Kasse. Am Samstag demonstrieren die Aktivist*innen – mit | |
| Millionär*innen. | |
| Studie zu Hartz-IV-Regelsätzen: Ohne Tafel wird es schwer | |
| Besonders arbeitslose Männer haben nicht genug Geld, um ausreichend Essen | |
| zu kaufen. Die Sätze müssen steigen, sagt der Paritätische Gesamtverband. | |
| Aktivist über Reichtum: „Reichtum darf kein Tabuthema sein“ | |
| Das Demo-Bündnis „Wer hat, der gibt“ will linke Antworten auf die drohende | |
| Wirtschaftskrise liefern und Reiche ins Zentrum der Debatte rücken. | |
| Wo das Geld der Pfeffersäcke herkommt: Viel Cash auf wenig Raum | |
| Reichtum ist nicht immer sichtbar, Diskretion gehört zum Geschäft. Wir | |
| zeigen Ihnen, wo das große Geld in Hamburg sitzt. | |
| Reichtum in Hamburg: Reichtum ist keine Privatsache | |
| Hamburg ist die deutsche Stadt mit den meisten Millionär*innen. Doch das | |
| Geld ist extrem ungleich verteilt. Gerechte Besteuerung wäre ein Anfang. | |
| Ungleichheit bei Vermögen in Deutschland: Der Selbstbetrug der Mittelschicht | |
| Die meisten Deutschen haben keinerlei Vermögen. Nur ist es zu einfach, die | |
| Unter- und Mittelschichten allein als Opfer zu sehen. |