# taz.de -- Neuer Roman von Jonathan Franzen: Sex, Lügen und das Internet | |
> In seinem neuen Roman „Unschuld“ vermengt Jonathan Franzen das Thema | |
> Überwachung mit einer Familiengeschichte. Das gelingt nicht. | |
Bild: Jonathan Franzen gehört zu den großen Unterhaltungsschriftstellern | |
Auch ein Jonathan Franzen hat wahrscheinlich so seine Probleme. Wer einmal | |
als ernstzunehmender Erfolgsautor oder als erfolgreicher ernsthafter Autor, | |
etabliert ist, hat fortan ein gewichtiges Image zu verteidigen. Wer darüber | |
hinaus vor allem als eine Art Chronist der weißen amerikanischen | |
Mittelschichtsfamilie reüssiert hat, dem geht zwar nicht so schnell der | |
Stoff aus, doch läuft er durchaus Gefahr, sich zu wiederholen oder gar zu | |
langweilen. | |
So ist es wohl als guter Kompromiss aufzufassen, dass Franzen für seinen | |
neuen Roman zum Mittel der thematischen Variation gegriffen hat. Auch wenn | |
„Unschuld“ (im Original: „Purity“) wahrscheinlich am ehesten ein | |
Thesenroman sein soll, ist er doch mit der letzten Sicherheitsleine | |
verankert im sicheren Genre des Familienromans. Anders als der Erfolgsroman | |
„Die Korrekturen“ von 2001 und Franzens jüngeres Opus magnum „Freiheit�… | |
„Unschuld“ aber kein Roman über Familie als Konzept, sondern eher eine | |
verzwickte Geschichte über Eltern und Kinder, die letztlich alle allein | |
sind auf dieser Welt. | |
Verzwickt kann man sie nennen, weil es ein kleines Weilchen dauert – so die | |
ersten paar hundert Seiten –, bis man begreift, worum es, ganz eigentlich, | |
wohl geht. Und weil das Verzwickte auch immer etwas Angestrengtes hat, | |
einen Hauch von Gekünsteltsein, der in diesem Fall irritierend die gesamte | |
Romankonstruktion durchzieht und, so sehr der Autor das gehofft haben mag, | |
auch nicht davon verschwindet, dass im Laufe der über achthundert Seiten | |
auf gefühlt mindestens vierhundert von Sex die Rede ist. | |
Allerdings hat der 56-jährige Franzen die Konstruiertheit seines Plots | |
bereits insofern geschickt kenntlich gemacht, als die Hauptfigur den | |
symbolhaltigen Romantitel als Vornamen trägt. Purity Tyler, die sich „Pip“ | |
nennen lässt, ist eine Anfangzwanzigerin mit wenig Lebensperspektive. | |
Aufgewachsen bei ihrer zurückgezogen lebenden, alleinerziehenden Mutter, | |
hat Pip erfolgreich ein College absolviert, aber jetzt dafür jede Menge | |
Studienschulden und einen doofen Job bei einer Marketingfirma. Über die | |
Bekanntschaft mit der etwas seltsamen, aber bildschönen Deutschen Annagret | |
bekommt Pip das exklusive Angebot, bei der berühmten Sunlight-Organisation | |
zu arbeiten, einer Whistleblower-Plattform, die von Bolivien aus operiert | |
und von einem Deutschen geführt wird: Andreas Wolf, der es an Berühmtheit | |
mit Julian Assange und Edward Snowden aufnimmt und aus Ostdeutschland | |
stammt. | |
Franzen ist kein sehr subtiler Erzähler, seine Stärke liegt eher im | |
panoramatischen Aufbau seiner Szenarien. Die epische Breite, mit der auch | |
dieser Roman angelegt ist, erlaubt ein gehöriges Maß an auktorialer | |
Willkür. Wie ein Puppenspieler eine Marionette nach der anderen aus dem | |
Sack zaubert, zieht der Autor von irgendwoher einen Erzählstrang nach dem | |
anderen auf. Am Ende werden sie schon zusammenwachsen, doch zu Beginn | |
stehen sie disparat genug nebeneinander. | |
## Aufklärerische Lichtgestalt | |
Auf das einleitende Pip-Kapitel folgt ein ausführliches Kapitel über die | |
frühen Jahre der Lichtgestalt Andreas Wolf, des Internet-Aufklärers. In den | |
Andreas-Wolf-Teilen begibt Franzen sich auf bislang unbekanntes Terrain, | |
denn sie spielen in der DDR. Von der schwierigen Kindheit des späteren | |
Internet-Stars wird erzählt, ein potenzieller Missbrauch durch die | |
möglicherweise sexuell gestörte Mutter angedeutet. Als Jugendberater für | |
die Kirche bieten sich dem jungen Mann vielfältige Möglichkeiten, | |
hilfesuchende weibliche Teenager zu besteigen; eine Chance, die er gern | |
wahrnimmt, bis er die wunderschöne fünfzehnjährige Annagret kennenlernt, | |
sich verliebt und ihr hilft, ihren Stiefvater zu ermorden, der sie | |
missbraucht hat. | |
Nach der Wende wird Wolf zufällig gefilmt, als er unabsichtlich bei der | |
Stürmung der Stasiunterlagenbehörde anwesend ist, und wird durch einen | |
coolen Spruch vor der Kamera von den Medien zum Helden der Aufklärung | |
hochgejazzt. Dieses Image als ehemaliger DDR-Bürgerrechtler kommt ihm in | |
seiner späteren Karriere als Internet-Aufklärungsguru sehr zugute. | |
Jonathan Franzen hat gründlich recherchiert. Seine Schilderungen | |
vergangener deutscher Lebenswelten sind voll geschichtsechter Details; wenn | |
die Alltagsrealität nicht immer ganz getroffen wird, stört das im | |
fiktionalen Kontext nur wenig. Weniger leicht zu verschmerzen ist es, dass | |
die zentrale Figur Andreas Wolf, eine schillernde, möglicherweise leicht | |
psychotische Persönlichkeit, eine mit viel zu dicken Strichen gezeichnete | |
Marionette auf Papier bleibt. Was in Franzens Familienromanen so gut | |
gelungen schien, nämlich die Charakterzeichnung seiner Figuren, | |
funktioniert hier nicht. In bewährter auktorialer Manier wird alles | |
auserzählt und erklärt, nichts bleibt geheim. Das heißt in diesem Fall aber | |
auch: Alles bleibt Behauptung, reine Oberfläche. Ein psychologisch | |
glaubhaftes Porträt eines so extrem handelnden Menschen zu entwerfen, der | |
seinem eigenen Lebenskosmos auch noch so weit entrückt ist, das ist einfach | |
nicht Franzens Sache. | |
Um Pip Tyler und Andreas Wolf herum platziert der Autor weitere Figuren, | |
deren Funktion innerhalb der Erzählung häufig eher unklar bleibt. So kann | |
es passieren, dass er beispielsweise eine reine Nebenfigur wie Pips | |
zeitweilige Chefin, die Journalistin Leila, umfangreich einführt, mit | |
Wechsel der Erzählperspektive, Vorgeschichte, allem Drum und Dran, um sie | |
nach all diesem Aufwand erzählerisch links liegenzulassen. (Leila hat eine | |
rein thesenhafte Funktion, steht sie doch stellvertretend für den hohen | |
ethischen Anspruch des echten Journalismus gegen die wichtigtuerischen | |
Whistleblower im Internet.) Dagegen wird eine für die späte Entwicklung der | |
Handlung wesentlich wichtigere Person, Pips Mutter, überhaupt niemals in | |
Innenperspektive dargestellt, sondern nur in der Außensicht der anderen, | |
ihres Exmannes und ihrer Tochter. Es sind viele solcher kleinen | |
Unstimmigkeiten, die sich zu einem Gesamteindruck von merkwürdiger | |
Unausgewogenheit summieren. | |
## Endlich Gewissheit | |
Am schwersten wiegt, dass erst sehr spät im Roman klar wird, worauf er | |
hinausläuft. Dass Pip, die von ihrer Mutter niemals erfahren hat, wer ihr | |
Vater ist, am Schluss endlich Gewissheit darüber bekommt. Damit hätte | |
Franzen das Konzept Familie sozusagen rückwirkend wieder hergestellt. Bis | |
einem so nach sechshundertfünfzig Seiten allmählich dämmert, dass die | |
Familienfrage vermutlich das angestrebte Endziel ist, bleibt viel Zeit, | |
Spekulationen darüber anzustellen, wovon dieses ausufernde Buch eigentlich | |
handeln soll. Nicht zuletzt hat der Internetskeptiker auch Netzkritik üben | |
wollen, weswegen die Romanfiguren denn auch extensiv die Vor- und Nachteile | |
journalistischer Formate gegenüber Whistleblower-Diensten diskutieren. | |
Der Erzählzinnober um Andreas Wolf, den Franzen auffährt, ist zu einem | |
Gutteil einem irgendwie zeichenhaft intendierten Spiel um Aufklärung, | |
Wahrhaftigkeit, Offenheit und Moral geschuldet, das sowohl auf die private | |
– Familie! – als auch auf die gesellschaftliche Ebene gemünzt werden kann. | |
Mit dem erzählerischen Potenzial, das in dieser Grundidee liegt, kann | |
Franzen allerdings wenig anfangen. Als Thesenroman versagt seine | |
Konstruktion komplett, verzettelt sich viel zu sehr in Seitensträngen, | |
Rückblenden und dergleichen Extras. Da kann es dauern, bis zu guter Letzt | |
alle Erzählstränge schön zu einem einzigen gebündelt sind. Und wenn auf | |
jeder zweiten Seite irgendwas mit Sex vorkommen soll (vielleicht haben | |
US-Marktanalysen ergeben, dass nur dadurch die anhaltende Aufmerksamkeit | |
des Lesers gewährleistet bleibt?), dauert es natürlich noch länger. | |
## Die Idee von Jugend | |
Die titelgebende Pip beziehungsweise Purity ist übrigens auch weniger eine | |
Person als eine Idee: die Idee von einer Jugend, die vielleicht doch alles | |
besser machen wird. Die sich nicht korrumpieren lässt. Die so sehr in der | |
schönen neuen Welt des Internets zu Hause ist, dass sie die falschen | |
Versprechungen sogar durchschaut. Die von ihren Liebesbeziehungen nicht | |
mehr das absolute große, sondern das realistische kleine Glück erwartet. | |
Dass die verdorbene alte Welt bei Franzen abdankt zugunsten dieser neuen, | |
unbestechlichen, weiblich-klugen, ist ein sympathischer, freundlich | |
feministischer Weltentwurf, eine wünschenswert scheinende Utopie, die man | |
und vor allem frau sich nur allzu gern zu eigen machen möchte. Aber am Ende | |
eines eher misslungenen Romans mal eben eine menschenfreundliche | |
Zukunftsvision angeboten zu bekommen, kann einer fast vorkommen wie ein mit | |
entschuldigendem Lächeln nachgereichtes Versöhnungsgeschenk für vergangene | |
Lesefron. Franzen ist ein Autor, der unbedingt geliebt werden will. Das | |
macht ihn zu einem großen Unterhaltungsschriftsteller, der wunderbar | |
lebenskluge Romane abliefern kann, wenn er über Dinge und Menschen | |
schreibt, die er kennt. Vielleicht klappts das nächstes Mal wieder. Und die | |
große Thesenliteratur schreiben bitte derweil die Kollegen. | |
5 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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