# taz.de -- Neue Regierung in Österreich: Aus Blau wird Grün | |
> Die ÖVP regiert künftig nicht mehr mit der rechtsextremen FPÖ, sondern | |
> mit den Grünen. Wie erfolgreich hat der neue Koalitionspartner | |
> verhandelt? | |
Bild: Künftig in der Regierung: Österreichs Grünen-Chef Werner Kogler | |
WIEN taz | Er sei „mittelentspannt, vielleicht sogar schon | |
tiefenentspannt“, sagte Österreichs Grünen-Chef Werner Kogler zufrieden, | |
als er am Donnerstag den [1][Koalitionspakt mit der konservativen ÖVP] | |
präsentierte. Sein Optimismus bezieht sich auf das Wochenende, dann nämlich | |
muss seine Partei beim Bundeskongress in Salzburg der neuen | |
Regierungskoalition mit der einst so verhassten ÖVP noch zustimmen. Mit | |
einer Mehrheit von 99 Prozent rechne er nicht, sagt Kogler, es werde wohl | |
Diskussionen geben. Aber: „Es sollte sich ausgehen.“ | |
Auf den ersten Blick haben die Grünen tatsächlich ein sensationelles | |
Programm ausgehandelt. Für Alexander Egit von Greenpeace Österreich ist es | |
„bahnbrechend“, wenn Österreich, wie angestrebt, bis 2040 die | |
Klimaneutralität schaffen sollte. „Österreich wird Klimaschutzvorreiter in | |
Europa“, heißt es da optimistisch. In den vergangenen Jahren hatte sich das | |
Land von den Klimazielen schrittweise entfernt. Leonore Gewessler, die | |
sich die Grünen als Quereinsteigerin von der Umweltorganisation Global | |
2000 geholt haben, hat ganze Arbeit geleistet. Das Klimakapitel ist mit 62 | |
Seiten das umfangreichste im 326 Seiten starken Koalitionspapier. | |
Teilweise geht es tief in die Details. So wird Bahnfahren billiger, Fliegen | |
durch eine Ticketsteuer von 12 Euro dagegen etwas teurer. Der öffentliche | |
Nahverkehr soll durch günstigere Tickets und kürzere Intervalle auch in | |
abgelegenen Gebieten attraktiver werden. Der ökologische Gedanke durchzieht | |
sämtliche Themenbereiche. Ein Klimakabinett soll sicherstellen, dass die | |
gesamte Bundesregierung Verantwortung übernimmt. | |
Alle Gesetzesvorhaben müssen auf ihre Umweltverträglichkeit abgeklopft | |
werden. Die 42-jährige Gewessler, die ein um Umwelt- und Energiethemen | |
erweitertes Infrastrukturministerium leiten wird, zeigte sich auch | |
zuversichtlich, dass der Plan, eine Million Dächer mit Solarpaneelen | |
auszurüsten, nicht utopisch ist: „Die Photovoltaik-Förderung ist zu | |
Jahresbeginn nach drei Minuten ausgeschöpft. Das zeigt: Die Leute wollen, | |
aber wir lassen sie oft nicht.“ | |
## Gläserner Staat statt gläsener Bürger | |
Von einem „Meilenstein“ spricht auch Margit Kraker, die Präsidentin des | |
Rechnungshofes. Was die einst von der ÖVP nominierte Funktionärin seit | |
Jahren vergeblich fordert, haben die Grünen jetzt in einem Transparenzpaket | |
durchgesetzt. Der Rechnungshof soll künftig Einsicht in die Finanzen der | |
Parteien haben und diese kontrollieren können. | |
Bisher durfte etwa nicht überprüft werden, ob deren Angaben – etwa, was die | |
Wahlkampfausgaben betrifft – richtig sind. Mögliche Sanktionen sollen | |
deutlich schmerzhafter werden. Das könnte künftig verhindern, dass etwa die | |
ÖVP, wie [2][im Wahlkampf 2017], dank generöser Privatspenden fast doppelt | |
so viel in den Wahlkampf stecken kann wie gesetzlich erlaubt. | |
Das Paket beinhaltet auch die Abschaffung des Amtsgeheimnisses. Werner | |
Kogler versprach „einen gläsernen Staat statt einem gläsernen Bürger“. | |
Ausnahmen für die Auskunftspflicht der Behörden sollen nur für militärische | |
Angelegenheiten und Fragen der staatlichen Sicherheit gelten. | |
Nie zuvor hat es in Österreich zudem ein jüngeres und weiblicheres Kabinett | |
gegeben als das jetzt geplante. 8 der 15 Ministerposten werden mit Frauen | |
besetzt. Mit der in Bosnien geborenen Alma Zadić, die für die Grünen das | |
Justizministerium übernimmt, wird erstmals eine Frau mit | |
Migrationshintergrund Ministerin. | |
Insgesamt besetzen die Grünen ihre Kabinettsposten mit starken | |
Persönlichkeiten. Zadić ist eine Spitzenjuristin mit internationalen | |
Diplomen und Erfahrung am Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien, | |
Leonore Gewessler hat sechs Jahre lang als Direktorin der [3][Green | |
European Foundation] in Brüssel internationale Erfahrung gesammelt. Das ist | |
eine vom Europaparlament finanzierte politische Stiftung mit enger | |
Verbindung zu den europäischen Grünen. | |
Der oberösterreichische Landesrat Rudi Anschober, demnächst Gesundheits- | |
und Sozialminister, hat in den vergangenen Jahren namhafte ÖVP-Politiker | |
hinter seiner Initiative gegen die Abschiebung von Lehrlingen mit negativem | |
Asylbescheid versammeln können. Noch bevor die neue Regierung antritt, hat | |
das Parlament seine Initiative aufgegriffen und Abschiebungen vor | |
Beendigung der Lehre verboten. Die von Anschober und den Betrieben | |
gewünschte Lösung, die wie in Deutschland anschließend zwei Jahre Praxis | |
erlauben würde, ist an ÖVP und FPÖ gescheitert. | |
Ulrike Lunacek, die als Staatssekretärin im Vizekanzleramt für Kunst und | |
Kultur zuständig sein wird, war zuvor Abgeordnete im Europäischen Parlament | |
und zuletzt eine dessen Vizepräsidentinnen. | |
Kanzler Sebastian Kurz dagegen hat wieder eine Schar von Groupies um sich | |
gesammelt, die teils aus der Seilschaft der Jungen ÖVP stammen, teils aus | |
dem Bauernbund, dem Wirtschaftsbund oder dem Arbeiter- und | |
Angestelltenbund, den Säulen der Partei. Das Innenministerium besetzt er | |
mit dem Hardliner Karl Nehammer, der die von Kurz verfolgte scharfe | |
Anti-Ausländer-Politik vollziehen soll, Finanzminister wird der | |
Kurz-Vertraute Gernot Blümel, der als für Kultur und Medien zuständiger | |
Kanzleramtsminister keine gute Figur machte. | |
Die seit 33 Jahren in allen Regierungen vertretene ÖVP sicherte sich alle | |
Ressorts, in denen es um reale Macht geht. Aus dem Sozialministerin etwa | |
wurde das Thema Arbeit herausgelöst und dem ÖVP-geleiteten | |
Wirtschaftsressort zugeschlagen. Nicht einmal die Bereiche Integration, | |
Frauen und Entwicklungspolitik, in denen die Kompetenz der Grünen | |
unbestritten ist, wollte man dem Koalitionspartner überlassen. Auch einen | |
Stufenplan für das Erreichen des international verankerten Ziels von 0,7 | |
Prozent der Wirtschaftsleistung für Entwicklungshilfe, den die Grünen seit | |
Jahren fordern, sucht man vergeblich. | |
## Hintertürchen für die ÖVP | |
Über das Finanzministerium hat die ÖVP zudem die Möglichkeit, alle grünen | |
Initiativen, die Geld erfordern, verhungern zu lassen. Die öko-soziale | |
Steuerreform, ohne die das Klimaziel kaum zu erreichen sein wird, scheint | |
dem großen Koalitionspartner kein dringendes Anliegen zu sein. | |
Fraktionschef August Wöginger sah am Freitag im Radiointerview keine Eile | |
geboten: „Ich halte mich an das, was im Regierungsprogramm vereinbart | |
wurde, nämlich dass wir diese Task Force einrichten und gemeinsam mit den | |
Grünen nach Lösungen suchen.“ Die interministerielle Arbeitsgruppe soll bis | |
2022 Vorschläge erarbeiten. | |
Die Agenda in Sicherheits- und Migrationsfragen liest sich so, als sei sie | |
aus dem Programm der gescheiterten ÖVP-FPÖ-Regierung übernommen. Da ist von | |
„Ausreisezentren“, die Rede, wo Flüchtlinge mit negativem Asylbescheid zur | |
„freiwilligen“ Ausreise überredet werden sollen. Für potenzielle Gefährd… | |
soll es präventive „Sicherheitsverwahrung“ geben. Noch vor einem Jahr hatte | |
Werner Kogler ein solches Ansinnen kategorisch abgelehnt. FPÖ und ÖVP | |
sollten ihr „verfassungswidriges und menschenrechtsfeindliches Treiben | |
sofort einstellen“, sagte er damals. | |
Und für den Fall, dass eine Flüchtlingskrise wie 2015 Maßnahmen erfordert, | |
die die Grünen nicht mittragen wollen, gibt es unter der Überschrift „Modus | |
zur Lösung von Krisen im Bereich Migration und Asyl“ [4][ein | |
Hintertürchen], das es der ÖVP erlauben würde, im Parlament andere | |
Mehrheiten zu suchen, ohne damit automatisch die Koalition in die Luft zu | |
sprengen. | |
Ob das Übereinkommen, wie SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner sarkastisch | |
anmerkte, nur „ein ÖVP-Programm mit grüner Tarnfarbe“ ist oder den Grünen | |
die Umsetzung ihrer wichtigsten Anliegen erlaubt, muss die Praxis zeigen. | |
Für Skeptiker im Bundeskongress der Grünen, der den Pakt annehmen muss, hat | |
der ehemalige Bildungssprecher der Grünen, Harald Walser, der sich „von | |
einigen Punkten auch etwas verschreckt“ zeigte, als Trost den Hinweis auf | |
die Alternativen parat: „Wollen wir wirklich den rot-schwarzen Stillstand | |
oder die schwarz-blaue Schreckensregierung fortsetzen?“ | |
3 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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