| # taz.de -- Nachfolge gesucht in der Landwirtschaft: Man gibt sein ganzes Leben… | |
| > Hofübergaben abseits der Familie sind selten. In Gaildorf lässt man sich | |
| > darauf ein: die Neuen übernehmen die Arbeit, die Altbäuerin lernt | |
| > Loslassen. | |
| Bild: Ein Pakt für die Zukunft: Ulrike Hasenmaier-Reimer (links) und Judith Bo… | |
| Noch liegt etwas Nacht über den Feldern von Gaildorf. Der Nebel zieht sich | |
| hinter die Äcker zurück, als Ulrike Hasenmaier-Reimer vor dem Schafstall | |
| stehen bleibt. Früher hätte sie die Plane beiseitegeschoben, hätte den | |
| schweren Geruch von Wolle und Mist eingeatmet und nach den Schafen gesehen, | |
| bald werden Lämmer kommen. Heute schaut sie bloß zu, wie eine junge Frau | |
| den Böcken das Kraftfutter in den Trog kippt. Hasenmaier-Reimer nimmt | |
| Abschied, ganz langsam. | |
| Hasenmaier-Reimer, 65, will das Leben als Bäuerin hinter sich lassen, sie | |
| ist müde geworden. Als sie 1985 den Hof südlich von Schwäbisch Hall in | |
| Baden-Württemberg übernahm, gab es in Deutschland mehr als 700.000 | |
| landwirtschaftliche Betriebe. Heute sind es noch gut ein Drittel so viele. | |
| [1][Besonders kleine Nebenerwerbsbetriebe] wie der Biolandhof in Gaildorf | |
| können oft nicht erhalten werden. Ackerbau und Viehzucht tragen nicht mehr | |
| – oder es gibt keine Nachfolge. | |
| Über Jahrhunderte übernahm hier in der Gegend traditionell der Erstgeborene | |
| den Hof. Aber wenn der Erstgeborene heutzutage lieber Informatiker werden | |
| will, wird er eben Informatiker. Einige Bäuer*innen haben keine Kinder, | |
| an die sie vererben könnten. Dass Höfe außerhalb der Familie weitergegeben | |
| werden, ist unüblich. Wie oft das vorkommt, wird bei | |
| Agrarstrukturerhebungen nicht erfasst. Schätzungen reichen von etwa 2 bis 6 | |
| Prozent aller Hofübergaben. | |
| Zu diesen seltenen Ausnahmen gehört der Betrieb von Hasenmaier-Reimer. Sie | |
| selbst ist kinderlos, ihre Nachfolge hat sie über die [2][Onlinebörse „Hof | |
| sucht Bauer“] gefunden. Denn es gibt junge Menschen, die nicht vom Hof | |
| kommen und in die praktische Landwirtschaft gehen wollen – so wie Judith | |
| Boulos. Boulos, 28, hat Ökolandbau studiert und will gemeinsam mit drei | |
| anderen jungen Landwirt*innen den Biolandhof in Gaildorf übernehmen. Sie | |
| pachten den Hof und werden ihn in ein paar Jahren kaufen. Wenn alles gut | |
| geht. | |
| Bei Hofübergaben geht es nie nur um Grund und Boden. Es geht um die ganz | |
| großen Fragen, um Freiheit und Anerkennung, um Erbe und Altersversorgung. | |
| Werden Höfe außerhalb der Familie übergeben, verhandelt man diese Fragen | |
| meist mit Menschen, die man gerade erst kennenlernt. Das erfordert Mut. | |
| Hasenmaier-Reimer gibt nicht nur die 26 Hektar Grünland und Ackerfläche in | |
| Gaildorf weiter, das Bauernhaus mit den knarzenden Dielen, den Stall und | |
| die Schafe darin. Hasenmaier-Reimer gibt ihr Leben weiter, so scheint es. | |
| „Mein ganzes Ich ist in den Hof geflossen“, sagt sie. Wie nimmt man davon | |
| Abschied – und überlässt es der nächsten Generation? | |
| Es scheint ewig her, aber auch Hasenmaier-Reimer war mal die Neue hier in | |
| Gaildorf. Mit 26 Jahren übernahm sie mit ihrem Mann den Betrieb eines | |
| kinderlosen Bauernpaares. Sie stellte um auf Bio, tauschte die | |
| Herbizidspritze gegen einen Striegel, der das Unkraut mit metallenen Zähnen | |
| aus dem Acker zieht. Ein Nachbar sagte: Ihr werdet noch im Unkraut | |
| untergehen. Aber Hasenmaier-Reimer schaffte wieder Vieh an, Kälber und | |
| Färsen, Hühner und Puten. 15 Jahre arbeiteten sie zu zweit. Dann fing ihr | |
| Mann einen Vollzeitjob in Stuttgart an und sie musste immer mehr allein | |
| schaffen. Die Rinder wichen einer Schafherde: Lämmer lassen sich leichter | |
| zum Schlachter fahren als Jungbullen. Als zusätzliche Arbeitskraft züchtete | |
| sie sich Border Collies, die Hütehunde wurden ihre dritte Hand. | |
| ## Ein Haus für weichende Altbauern | |
| Der Hof überdauerte die Sprüche des Nachbarn, Hasenmaier-Reimer erzählt | |
| davon mit Stolz. An diesem Vormittag sitzt sie im „Ausdinghaus“, gebaut für | |
| weichende Altbauern. Kleiner als das Bauernhaus, keine 30 Meter entfernt, | |
| mit Blick auf den Schafstall. An Weihnachten sind sie und ihr Mann hier | |
| eingezogen, um „den Jungen“ Platz zu machen, so nennt sie die vier | |
| Nachfolger*innen. Sich selbst nennt sie „Vollblutlandwirtin“, trägt ein | |
| goldenes Schaf am Ohrläppchen und Pflaster an den Fingerkuppen, die Jahre | |
| auf dem Hof haben sich in sie eingeschrieben. | |
| Das ewige Bücken und Hocken auf dem Feld. In den Knien fing der Schmerz an, | |
| heute kann sie mit ihrer Arthrose in der Hand keine Klauen mehr schneiden, | |
| keine Zäune mehr stecken. „Meine Knochen sind abgearbeitet“, sagt sie. | |
| Hofübergabe heißt für Hasenmaier-Reimer auch: Endlich die Meniskus-OP | |
| machen lassen, Jahre zu spät, und sich danach ausruhen dürfen, ohne dass | |
| die Tiere hungrig bleiben. Bestimmt hundert Bewerbungen habe sie für die | |
| Hofnachfolge bekommen, sagt sie. Aber kaum jemand wusste, was das heißt: | |
| Bäuerin sein, 365 Tage im Jahr. | |
| Und dann kam Judith Boulos. Mit der konnte Hasenmaier-Reimer es sich gleich | |
| vorstellen, erzählt sie. | |
| Boulos war klar, dass Landleben mehr ist als Siloballen aufzuschneiden, | |
| Frühkartoffeln auszusäen und zu lernen, wie man den verdammten Schlepper | |
| mit Anhänger lenkt. Sie wusste: Wer heute Bäuerin sein will, [3][muss auch | |
| hektargebundene Ökoförderung beantragen], den Vertrag mit der | |
| Biokontrollstelle schließen, sich die EU-Bio-Richtlinien draufschaffen plus | |
| die strengeren Richtlinien von Bioland. | |
| ## Die Neuen haben Ökolandbau studiert | |
| Judith Boulos, 28, ist ausgebildete und studierte Landwirtin. Sie führt den | |
| Hof jetzt gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Bruder und dessen Freundin. Drei | |
| von ihnen haben Ökolandbau studiert – und nur eine von ihnen kommt selbst | |
| von einem Hof. Die moderne Landwirtschaft: Im Kollektiv wirtschaften, | |
| nebenbei andere Jobs machen und sich so abwechseln, dass auch mal ein | |
| Wochenende in Berlin drin ist oder eine Zugfahrt nach Spanien. | |
| Hasenmaier-Reimer sagt trocken: „Wenn die vier sich in die Wolle kriegen, | |
| steht der ganze Hof auf der Kippe.“ Ob sie Angst davor habe, dass sich hier | |
| alles verändern wird? Sie schweigt. Dann sagt sie: „Angst habe ich nicht.“ | |
| Solche außerfamiliären Hofübergaben können eine Lösung für das große | |
| Höfesterben sein, sagt Christian Vieth. Der Agrarökonom gründete die | |
| Onlinebörse „Hof sucht Bauer“, über die Hasenmaier-Reimer auch Nachfolger… | |
| Boulos gefunden hat. Er sagt: An landwirtschaftlichen Hochschulen gebe es | |
| zahlreiche Studierende, die keinen Hof erben und trotzdem Landwirt*in | |
| sein wollen. Politisch brauche es aber mehr Unterstützung, vor allem durch | |
| Niederlassungsbeihilfen für Existenzgründer. Es dauere oft Jahre, bis eine | |
| Übergabe vollzogen sei – Jahre von finanzieller Unsicherheit. Solche | |
| Förderungen von Junglandwirt*innen gibt es seit 2023 etwa in | |
| Sachsen-Anhalt und Brandenburg. | |
| Vor allem, sagt Vieth, brauche es aber Beratungsangebote, finanziert etwa | |
| von Landwirtschaftsministerien. Momentan kämen nur wenige Bäuer*innen auf | |
| die Idee, außerhalb ihrer Familie zu übergeben. Und wenn, benötigen sie oft | |
| Rat: nicht nur bei der Bürokratie, sondern vor allem bei den sozialen | |
| Fragen. | |
| Wer einen Hof übergibt, kann pleitegehen oder sich zerstreiten, und dann | |
| steht man da mit dem Vieh und der Verantwortung. Deswegen gibt es schon | |
| jetzt Menschen wie Matthias Becker. Für den Anbauverband Bioland begleitet | |
| er Hofübergaben, auch die in Gaildorf. Zum ersten Termin mit zwei | |
| Generationen hat Becker immer ein Whiteboard dabei, auf dem eine strahlende | |
| Sonne abgebildet ist, Regenwolken und Blitze. Wie ist das Wetter heute in | |
| euch drin, fragt er dann. Oft fängt jemand an zu weinen. | |
| Hasenmaier-Reimer bereitete sich fünf Jahre auf die Hofübergabe vor. Sie | |
| bekam nicht nur Besuch von Matthias Becker, sondern besuchte Seminare, | |
| sprach über Steuern, Altersvorsorge und Loslassen, „ohne in ein Loch zu | |
| stürzen“. Sie lernte: Man muss sich beschäftigen. Den Garten vor dem | |
| Ausdinghaus endlich neu anlegen, der sei schon lange vernachlässigt. | |
| Wegfahren, egal wohin, sie kenne Deutschland ja kaum, war seit 40 Jahren | |
| fast nur auf dem Hof. | |
| „Eine Hofübergabe ist zu 90 Prozent ein sehr, sehr emotionaler Prozess“, | |
| sagt Becker am Telefon. Für ihn sei dieser Prozess erst abgeschlossen, wenn | |
| der notarielle Übergabevertrag unterzeichnet ist – und alle um einen Tisch | |
| sitzen und sagen: Das ist gut so. Bis der Hof in Gaildorf wirklich der | |
| neuen Generation gehört, wird es noch einige Jahre dauern. Seit diesem | |
| Februar hat er aber schon einen neuen Namen: Biohof GutSo. | |
| Zum Biohof GutSo gehört nun auch ein Hütehund. Hasenmaier-Reimer hat ihren | |
| ältesten Border Collie an Judith Boulos weitergegeben. In seinem Zwinger | |
| steht eine Plastikkiste voller Pokale, unter dem dicken Staub glänzt | |
| goldenes Metall, eine Bayerische Meisterschaft. Der Border Collie hört | |
| schon auf Boulos’ Kommandos: Ein Ruf, und er duckt sich ins Gras, treibt | |
| die Schafe vor sich her, zwischen Apfelbäumen hindurch zu ihrer | |
| Futterraufe. Nur wenn Hasenmaier-Reimer mit auf die Weide kommt, dreht er | |
| sich noch manchmal zu ihr um, als wolle er fragen: Soll ich wirklich | |
| machen, was die Neue mir sagt? | |
| ## Auch Raum für eigene Fehler | |
| Hasenmaier-Reimer kennt ihre Tiere. Sie schaut einem Schaf ins Gesicht und | |
| weiß: Dem geht’s nicht gut. Neulich, erzählt sie, hing bei einem das Ohr, | |
| richtig wiederkäuen wollte es auch nicht. „Die Jungen“ sehen das noch | |
| nicht, sagt sie. Aber sie will ihnen nicht zu viel reinreden. Auch ihr sei | |
| mal ein Acker Sommergerste verunkrautet, „die müssen ihre eigenen Fehler | |
| machen.“ | |
| Dabei wollen sie alles von ihr wissen, „die Jungen“, den ganzen Tag geht | |
| das so. Wie schneidet man den wintergrünen Farn vorm Haus? Ulrike fragen! | |
| Wie heißt der Vogel, der im Totholz der Apfelbäume nistet? Ulrike fragen! | |
| Im Familienkalender an der Küchenwand hat Judith Boulos ein Wochenende | |
| markiert: „Ulrike weg“. Als Hasenmaier-Reimer das kranke Schaf bemerkte, | |
| rief Boulos die Tierärztin. Vor zehn Jahren dachte Hasenmaier-Reimer noch, | |
| sie könne niemals zuschauen, wie jemand anders ihren Hof führt – da ziehe | |
| sie lieber gleich weg. Jetzt bespricht sie jeden Montag nach dem Frühstück | |
| mit den jungen Landwirtinnen und Landwirten, was ansteht. | |
| Oft seien Übergaben außerhalb der Familie sogar leichter, sagt der | |
| Agrarökonom Vieth. Man kann es sich vorstellen: weniger Erwartungen, die | |
| seit Jahrzehnten auf den eigenen Kindern lasten, weniger eingespielte | |
| Familiendynamiken. Doch das Loslassen bleibt schwer. | |
| Es ist Mai geworden, die Schafe haben ihre dicken Bäuche verloren. Während | |
| der Lammzeit bleibt Hasenmaier-Reimer nicht mehr vor der Plastikplane zum | |
| Schafstall stehen, sondern schiebt sie beiseite, jeden Tag schaut sie nach | |
| den Tieren. Sich ganz rauszuziehen, das klappt bislang nicht. Es sind | |
| irgendwie immer noch meine Schafe, sagt sie. | |
| Auf den Äckern in Gaildorf wachsen bald wieder Zwiebeln und Rote Bete, ganz | |
| ohne Herbizide. Ein Nummernschild aus Schwäbisch Hall hat Boulos schon, | |
| SHA:FE steht auf dem Mercedes, der aus der Garage ragt. Im Hofladen wird | |
| es wieder Lammfleisch geben, vielleicht nicht als Braten, junge Leute | |
| kaufen eher Burger. Hasenmaier-Reimer sagt: Wer will, dass alles bleibt, | |
| wie es ist, finde niemals Nachfolger. | |
| 22 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jolinde Hüchtker | |
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