| # taz.de -- Zukunft für die Landwirtschaft: KI im Kuhstall | |
| > Mit künstlicher Intelligenz schafft es Rebecca Gerstmeier, ihren | |
| > Bauernhof fast im Alleingang zu betreiben – und noch Zeit für ihre Kinder | |
| > zu haben. | |
| Bild: Arbeitet nicht rund um die Uhr: Rebecca Gerstmeier im Stall ihres Milchba… | |
| Die Nachricht platzt in die Hausaufgabenzeit. Rebecca Gerstmeier sitzt in | |
| ihrer Wohnküche, vertieft in ein Blatt mit Kinderschrift, und krault ihrer | |
| neunjährigen Tochter den Rücken. Gemeinsam schauen sie an, was gerade in | |
| Deutsch ansteht. Es ist Nachmittag in Unterschneidheim am östlichen Rand | |
| der Schwäbischen Alb. Vor dem Fenster leuchten Wiesen und Hügel in der | |
| Sonne. Da erscheint auf Gerstmeiers Handy eine Nachricht, die so gar nicht | |
| zu diesem Augenblick zu passen scheint: „Besamung Aperol“. | |
| Aperol, das ist eine von 75 Milchkühen [1][auf dem Hof von Landwirtin | |
| Gerstmeier]. Sie alle haben einen Sensor im Magen, der misst, wie viel sie | |
| sich bewegen, wie warm sie sind und wie oft sie wiederkäuen. Wenn die Tiere | |
| durch den Stall toben und ihre Körpertemperatur steigt, erkennt der Sensor, | |
| dass sie brünstig sind. Die Ergebnisse sieht Gerstmeier auf einer App mit | |
| bunten Linien wie Aktienkurven. Eine KI sagt ihr dann, wann sie die Kühe | |
| besamen muss. Damit Kälbchen kommen und die Kühe ein weiteres Jahr Milch | |
| geben. | |
| Dass Gerstmeier mit ihrer Tochter Hausaufgaben machen kann, statt ihre | |
| Tiere ständig zu beobachten, verdankt sie diesem Sensor. Und den Robotern, | |
| die in ihrem Stall putzen, füttern und melken. Die Technik auf ihrem Hof | |
| schenkt ihr etwas, das sie sich jahrelang wünschte: mehr Zeit. | |
| Gerstmeier, 43, zieht drei Kinder im Schulalter groß. Und sie leitet einen | |
| Milchviehbetrieb, der seit mehr als vier Generationen ihrer Familie gehört. | |
| Ihr Mann arbeitet Vollzeit als Informatiker und unterstützt sie, wo er | |
| kann. | |
| Als Chefin auf dem Hof ist Gerstmeier eine Ausnahme. [2][Nur 11 Prozent der | |
| Bauernhöfe hierzulande werden von Frauen geführt, in der EU sind es im | |
| Durchschnitt 28 Prozent]. Noch immer vererben deutsche Landwirte ihren | |
| Besitz öfter an die Söhne. Das ändert sich nur langsam. In einer | |
| [3][Studie] wurden Landwirtinnen befragt, warum sie eine Hofleitung | |
| ausschlugen. Eine häufige Antwort: weil sie Kinder wollten. Sie hatten das | |
| Gefühl, sich zwischen Hof und Familie entscheiden zu müssen. | |
| Können die neuen Technologien in der Landwirtschaft helfen, das zu ändern? | |
| Künstliche Intelligenz und Robotik verändern die Branche radikal. Aber | |
| bringen sie auch einen feministischen Umbruch? Für Gerstmeier jedenfalls | |
| waren sie die Rettung. | |
| An einem Montagmorgen um 7.30 Uhr hastet Gerstmeier über ihren Hof. Sie ist | |
| spät dran. Beim Frühstück hat sie sich mit ihrer Familie verquatscht. Sie | |
| erzählt lieber zu viel als zu wenig und wundert sich dann beim Blick auf | |
| ihre Armbanduhr, wie schnell die Zeit vergeht. Im Laufschritt geht es von | |
| dem Milchtank zu den Kälbchen, vom Traktor zur Silage, vom Futtermischer | |
| zum Kuhstall. In Gummistiefeln und Arbeitshose, die langen braunen Haare | |
| hochgebunden, ruft sie die Kälbchen „Mausi“ oder „Schatzilein“, die K�… | |
| begrüßt sie mit „Guten Morgen, ihr Hübschen“. | |
| Gerstmeier wuchs auf dem Familienhof auf. Eine Barfußkindheit in der Natur, | |
| aber auch mit viel Arbeit. Während ihre Freundinnen in den Sommerferien an | |
| den Badesee fuhren, musste sie Heu zusammenrechen. Damals dachte sie: Auf | |
| keinen Fall werde ich Landwirtin. | |
| Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, doch | |
| die Arbeit im Büro lag ihr nicht. Sie studierte dann Landwirtschaft, weil | |
| sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte – und verliebte sich neu in | |
| den Beruf. Eigentlich wollte sie weit weg, vielleicht nach Kanada, wo sie | |
| während eines Praktikums auf einer Farm arbeitete. Für ihre Jugendliebe | |
| Andreas kehrte sie zurück, sie heiratete und stieg 2007 in den | |
| Familienbetrieb ein, den damals noch ihre Eltern führten. | |
| Der Hof war der Lebensinhalt ihrer Eltern, kein einziges Mal Urlaub in 30 | |
| Jahren, auch mit Erkältung ging es in den Stall. Bis sie so krank wurden, | |
| dass an Arbeit kaum zu denken war. Der Vater sackte eines Morgens auf den | |
| Futtersäcken zusammen. Herzinfarkt. Danach zog er sich von der Arbeit auf | |
| dem Hof zurück, Gerstmeier und ihre Mutter machten allein weiter. Sie | |
| beschlossen, sich auf Milchwirtschaft zu konzentrieren. Und sie kauften | |
| ihren ersten Roboter, eine Art überdimensionierter Staubsaugerroboter, der | |
| selbständig durch den Kuhstall fährt und den Dung zwischen die Spalten | |
| schiebt. | |
| Als sie mit ihrem dritten Kind schwanger war, erzählte die Mutter ihr, wie | |
| sie von der immer gleichen Bewegung beim Melken ständig Schmerzen in der | |
| Schulter hatte. Stundenlang stand sie einer Grube unterhalb des Euters, | |
| verpasste Schulaufführungen und die Arzttermine ihrer Kinder. „Der | |
| Melkstand ist eine Fessel“, sagt die Mutter noch heute. Ihre Tochter sollte | |
| es besser haben. 2016 kauften sie einen Melkroboter. | |
| Kurz darauf, mitten in der Coronapandemie, verlor die Mutter die Kraft in | |
| ihren Beinen. Gerstmeier fand sie im Stall an ein Gitter geklammert. Der | |
| Notarzt brachte sie ins Krankenhaus, die Diagnose: Rückenmarksinfarkt. | |
| Seitdem ist ihre Mutter halbseitig gelähmt. Und Gerstmeier wusste: Jetzt | |
| bin ich allein. | |
| Mit jedem dieser Ereignisse, die ihr Leben ins Wanken brachten und neu | |
| ordneten, holte sich Gerstmeier mehr Technik auf den Hof. Mit ihren neuen | |
| Mitarbeitern aus Elektronik und Metall konnte sie weitermachen, als das | |
| traditionelle Familienmodell zerbrach. | |
| Auf den Treffen mit anderen Landwirten merkt sie manchmal, wie die | |
| Gespräche verstummen, wenn sie dazukommt. Man hält sie für die Frau oder | |
| Tochter eines männlichen Betriebsleiters. Sie stellt dann so lange gute | |
| Fragen, bis alle merken, dass sie Ahnung von Hofleitung und Technik hat. | |
| In der kühlen Morgenluft liegt der schwere Geruch von Heu und Mist, über | |
| dem Urinstrahl einer Kuh steigt Dampf auf. Ein Rattern dröhnt durch den | |
| Stall. Es kommt aus einer Box, vor der drei Kühe warten. Der Melkroboter | |
| arbeitet rund um die Uhr, wann immer die Kühe ihre Euter erleichtern | |
| wollen. Eines der Tiere trottet hinein. Schon fährt ein mechanischer Arm | |
| mit vier Zylindern unter den Euter. Ein Laser misst den Abstand zwischen | |
| den Zitzen, dann docken die Zylinder an und saugen die Milch heraus. | |
| Gerstmeier nennt den Melkroboter „Robbie“. Manchmal ruft er sie an, etwa | |
| wenn sich eine Kuh zu viel bewegt. Dann muss sie in den Stall laufen und | |
| die Zitze mit der Hand andocken. Morgens, noch im Bett, öffnet sie die | |
| Melkroboter-App und kontrolliert, ob alles läuft. Für „Robbie“ hat sie | |
| einen Kredit von 200.000 Euro aufgenommen, der sich binnen 15 Jahren | |
| rechnen soll. | |
| Die hohen Investitionskosten lassen viele Höfe zögern. In einer Befragung | |
| von 2024 gaben 75 Prozent der Landwirte an, dass die Kosten die | |
| Digitalisierung am stärksten hemmen. Gerade für kleine Betriebe bedeuten | |
| sie ein Risiko. | |
| Gerstmeier ist trotzdem überzeugt. „Der Melkroboter wird niemals krank, | |
| braucht keinen Urlaub und arbeitet auch am Wochenende“, sagt sie. Und sogar | |
| mehr Milch würden die Kühe geben, weil sie gemolken werden, wenn sie | |
| wollen. | |
| Für ihren Vater war der Wandel des Hofes schwer zu ertragen. Stundenlang | |
| stritten sie sich am Küchentisch. „Er hat sich gefühlt, als hätte er alles | |
| falsch gemacht“, sagt Gerstmeier. Irgendwann habe sie aufgehört zu | |
| diskutieren. Sie habe es einfach gemacht. | |
| Gerstmeier verpachtete 62 Hektar des Ackerlandes, um sich auf die Kühe zu | |
| konzentrieren. Und sie kaufte eine automatische Fütterungsanlage, einen | |
| weiteren Roboter, der gelenkt durch Magnetfelder im Stall Gras und Heu zu | |
| den Kühen schiebt, Kraftfutter und Mineralien hineinsprenkelt. | |
| Ein Mal am Tag klettert Gerstmeier auf ihren Traktor. Sie steuert ihn zur | |
| Grassilage, schneidet einen Block ab und lädt ihn beim Silo ab. Meterhohe | |
| Walzen fräsen im Silo das Gras, ein Förderband fährt das Futter zu einem | |
| Mischwagen, von dort greift es sich der Roboter. Ohne den Futterroboter | |
| müsste Gerstmeier zwei Mal am Tag die Rinder füttern und alle paar Stunden | |
| das Futter zu ihnen schieben. Vor Weihnachten packt sie das Silo so voll, | |
| dass sie den Tag nur mit ihrer Familie verbringen kann. | |
| Um 5 Uhr morgens, wenn ihre Familie noch schläft, liest Gerstmeier | |
| Fachartikel über technische Neuheiten in der Landwirtschaft. Sie will | |
| nichts verpassen. Sobald die Kinder aus dem Haus sind, beginnt sie, so | |
| schnell sie kann, alles auf dem Hof abzuarbeiten. Bis 13.30 Uhr muss sie | |
| Kälbchen füttern, Futter mischen, Traktor fahren, Tiere verarzten und immer | |
| wieder auch die Maschinen überwachen. Damit sie mit den Kindern Mittag | |
| essen kann, fragen kann, wie es in der Schule war. Und mit ihrem Mann einen | |
| Kaffee trinken. Wenn eines der Kinder krank ist, verschiebt sie die Arbeit | |
| nach hinten, um sich zu kümmern. | |
| Ihr Mann unterstützt sie außerhalb seiner Arbeitszeiten. Etwa beim Stall | |
| ausmisten abends, wenn die Kinder im Bett sind. Er wuchs selbst auf einem | |
| Hof auf, wollte aber seinen Job als Informatiker nicht aufgeben. Er hätte | |
| sich nicht für ein Leben als Landwirt entschieden, sagt er. „Aber ich finde | |
| es cool, dass sie es macht, so kann sie sich verwirklichen und ich mich | |
| auch.“ | |
| Mit Hilfe der Roboter können auch mal Freunde aus der Nachbarschaft auf dem | |
| Hof einspringen. 2023 trampelte eine Kuh Gerstmeier nieder, die Hufe | |
| quetschten ihr das Herz und brachen drei Rippen. Sie fiel mehrere Monate | |
| aus. Ohne die Technik wären die finanziellen Einbußen kaum zu stemmen | |
| gewesen. | |
| Aber auch schöne Erlebnisse werden möglich, weil Gerstmeier ihren Hof für | |
| eine Weile abgeben kann. Die Familie konnte zum ersten Mal nach sieben | |
| Jahren in den Urlaub fahren. Stolz zeigt Gerstmeier das Fotoalbum. Darin | |
| Bilder der Familie beim Wandern oder beim Planschen im Bodensee. Solche | |
| Erlebnisse sind ihr viel wert, auch die hohen Kredite. Und Gerstmeier hat | |
| mehr Zeit für die Arbeiten mit den Tieren, die ihr wichtig sind. | |
| Am Dienstagmorgen, sechzehn Stunden nach der Nachricht auf ihr Handy, ist | |
| es so weit. Gerstmeiers rechter Arm steckt in einem Plastikhandschuh, der | |
| ihr bis zur Schulter reicht. In der linken Hand hält sie eine Pipette mit | |
| Bullensperma. | |
| Die Pipette hat sie mit Gleitgel eingeschmiert, damit Aperol weniger spürt. | |
| „Ich kann mir vorstellen, dass das unangenehm ist“, sagt sie und streichelt | |
| die Kuh. Dann geht es los. | |
| Mit langsamen Bewegungen räumt sie den Darm frei, durch die dünne Darmwand | |
| tastet sie nach Muttermund, Gebärmutter und den Eierstöcken. Nun fühlt sie, | |
| wo sie die Pipette in der Scheide hinführen muss. Dann drückt sie das | |
| Sperma ab. | |
| Viereinhalb Wochen später kann Gerstmeier das Kälbchen im Bauch auf dem | |
| Ultraschallbild betrachten. In 40 Wochen soll es zur Welt kommen. | |
| 20 Oct 2025 | |
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