# taz.de -- Nach dem Tod von Mahsa „Zhina“ Amini: „Wir Frauen sollten ver… | |
> Die iranische Regimekritikerin Masih Alinejad gibt auch westlichen | |
> Politikerinnen eine Mitschuld. | |
Bild: Masih Alinejad trug auch im Ausland noch drei Jahre den Hidschab: „Ich … | |
taz am wochenende: Frau Alinejad, Ihre Proteste gegen den Zwang zum | |
Hidschab haben Sie bekannt gemacht. Können Sie sich noch erinnern, wann Sie | |
das Kopftuch das erste Mal tragen mussten? | |
Masih Alinejad: Ich bin in einem traditionellen Elternhaus aufgewachsen und | |
musste den Hidschab von klein auf auch zu Hause tragen. Immer wenn mein | |
Vater nicht da war, habe ich meinen Hidschab abgelegt und meine Freiheit | |
genossen, heimlich, im Verborgenen. Ab dem siebten Lebensjahr kann man in | |
Iran nicht mehr zur Schule gehen, wenn man keinen Hidschab trägt. Mein | |
Bruder und ich gingen gemeinsam zur Schule, ich wollte einfach nur so frei | |
sein wie er. Ich habe meine eigene Revolution aus der Küche meiner Familie | |
gestartet – nicht für die Freiheit, sondern einfach, um das Kind zu sein, | |
das ich wirklich war. | |
Und wann haben Sie sich entschieden, mit Ihrer Revolution an die | |
Öffentlichkeit zu gehen? | |
Ich hatte nie vor, den Iran für immer zu verlassen. Aber ich hatte zwei | |
Möglichkeiten: In Iran bleiben und Selbstzensur üben oder das Land | |
verlassen und laut werden. Ich kenne mich selbst: Niemand kann mich zum | |
Schweigen bringen. Als ich 2009 den Iran verließ, lag mein Hauptaugenmerk | |
als Journalistin auf der politischen Berichterstattung. Eines Tages ging | |
ich joggen und postete ein Foto von mir auf meiner Facebook-Seite mit den | |
Worten: „Wow! | |
Jedes Mal, wenn ich in einem freien Land laufe und den Wind in meinen | |
Haaren spüre, erinnert mich das an die Zeit, als dieselben Haare eine | |
Geisel in den Händen der iranischen Regierung waren.“ Frauen, die mich um | |
meine Freiheit beneideten, bombardierten mich mit Nachrichten. Wir brauchen | |
eine Frauenrevolution. | |
Wie meinen Sie das? | |
Wir müssen Frauen zu Wort kommen lassen. Wir sollten ihre Anliegen nicht | |
herunterspielen, nicht sagen, dass wir zuerst politische Probleme lösen | |
müssen. Also beschloss ich, ihnen eine Stimme zu geben. Unter dem Hashtag | |
#mystealthyfreedom habe ich eine Onlinekampagne dazu ins Leben gerufen, | |
später gab es auch eine Offlinekampagne, #whitewednesdays. | |
Jeder, der gegen den Zwangs-Hidschab ist, soll am Mittwoch etwas Weißes | |
tragen, sei es ein Kleidungsstück oder ein Accessoire. An nur einem Tag | |
wurden mir über 90 Videos von Teilnehmenden geschickt. Für mich ist der | |
Hidschab nicht nur ein kleines Stück Stoff. Wenn wir anfangen, ihn | |
abzulegen, dann wird es die Islamische Republik nicht mehr geben. | |
Wie reagiert der Iran auf Ihren Aktivismus? | |
Das iranische Regime hat meinen Bruder verhaftet und für zwei Jahre ins | |
Gefängnis gesteckt, um mich zu bestrafen. Es schuf extra ein Gesetz, das | |
besagt, dass jeder, der Videos an mich schickt, etwa im Rahmen meiner | |
Hashtag-Aktionen, mit zehn Jahren Gefängnis bestraft wird. Die Regierung | |
zerrte meine Schwester ins iranische Fernsehen, sie sollte mich öffentlich | |
verleugnen. | |
Sie versuchten, mich aus New York zu entführen. Kürzlich verhaftete das FBI | |
einen Mann mit einem geladenen Sturmgewehr vor meinem Haus. Aber es ist | |
ihnen nicht gelungen, mich zum Schweigen zu bringen. Und ich hoffe, dass es | |
ihnen nicht gelingen wird, ihr Narrativ an Linke und Liberale im Westen zu | |
verkaufen. | |
Für Mahsa „Zhina“ Amini endete diese Revolution tödlich. Was haben Sie | |
gefühlt, als Sie diese Nachricht erhalten haben? | |
Ich war sehr deprimiert, als ich hörte, dass sie im Koma lag. Ich habe mein | |
Privatleben vergessen, habe alle meine Termine abgesagt. Viele Mädchen und | |
Frauen schickten mir Videos, in denen sie weinten und sagten: „Ich hätte | |
Mahsa sein können“, denn wir alle wurden schon mal von der Sittenpolizei | |
verhaftet. Keine der Politikerinnen weltweit hat dieses Problem bisher | |
ernst genommen. | |
[1][Als Mahsa starb], dachte ich: Wie viele sollen noch wie sie ihr Leben | |
opfern? Ich wusste, dass das Regime eines Tages Menschen wegen des | |
Hidschabs töten wird. Aber niemand hat auf mich gehört. Ich war nicht nur | |
deprimiert, sondern auch zornig. 2014 forderte ich Politikerinnen auf: Wenn | |
ihr nach Iran reist und diesen barbarischen Gesetzen folgt und einen | |
Hidschab tragt, bedeutet das, dass ihr unsere Unterdrücker legitimiert, | |
noch mehr Druck auf uns auszuüben. | |
Nach dem brutalen Tod von Mahsa gebe ich nicht nur der Islamischen Republik | |
die Schuld, sondern auch allen Politikerinnen, die den Hidschab in Iran | |
getragen haben. Zum Beispiel Claudia Roth von den Grünen: Als ich sie | |
fragte, warum sie sich dem beuge, antwortete sie, es gebe so viele größere | |
Probleme, die wir lösen müssten. Größer als Mahsas Leben? | |
In der Öffentlichkeit und den Medien gibt es Stimmen, die den Kampf gegen | |
das Kopftuch als westlichen Diskurs betrachten – auch in der taz. | |
Es ist eine Beleidigung für uns im Nahen Osten, wenn Sie das sagen. Dieses | |
Argument wird von vielen Politikerinnen verwendet, wenn sie in mein Land | |
kommen. Ich finde: Das ist Rassismus. Der obligatorische Hidschab ist nicht | |
unsere Kultur, sondern die Kultur der Taliban und der Islamischen Republik, | |
er ist das wichtigste Symbol der religiösen Diktatur. Sie sehen die Körper | |
der Frauen als eine politische Plattform, auf die sie ihre Ideologie | |
schreiben. Als Frau verdiene ich es, Würde zu haben. | |
Ich will [2][die Autorin des taz-Textes] nicht angreifen, auch die taz als | |
Medium nicht. Aber ich greife sehr wohl dieses Argument an. Wir Frauen | |
sollten vereint sein, Solidarität zeigen und nicht zulassen, dass Männer | |
und religiöse Diktaturen ein falsches Narrativ verbreiten. Wahlfreiheit ist | |
ein universeller Wert. Der Hidschab kann erst dann wirklich eine | |
Wahlmöglichkeit sein, wenn alle Frauen auf der ganzen Welt die Freiheit | |
haben zu entscheiden, ob sie ihn tragen wollen oder nicht. | |
Deutschlands Außenministerin, Annalena Baerbock von den Grünen, hat sich | |
einer feministischen Außenpolitik verschrieben. Glauben Sie an dieses | |
Konzept? | |
Als Feministin stehe ich für meine Werte ein. Keine der westlichen | |
Feministinnen hat das bisher getan – alle haben sich der Hidschab-Pflicht | |
in Iran unterworfen. Die ganze Welt hat das Burkini-Verbot in Frankreich | |
verurteilt. Warum kümmern sie sich um das Recht muslimischer Frauen, einen | |
Burkini zu tragen, aber nicht um die Millionen Frauen in Iran, in | |
Afghanistan, im Nahen Osten, die gezwungen werden, das zu tun? Ist das | |
Feminismus? | |
Nein, es ist Heuchelei. Wenn die Feministinnen im Westen ihre Haltung | |
gegenüber den Frauen im Nahen Osten nicht ändern, werden sie keinen Erfolg | |
haben. Sie könnten von den Frauen in Afghanistan und in Iran lernen, was | |
eine echte Feministin ist. | |
Was wünschen Sie sich von westlichen Politikerinnen? | |
Dass sie die Taliban und die Islamische Republik Iran nicht legitimieren – | |
bis zu dem Tag, an dem die verschwunden sind. Die Taliban können nicht | |
reformiert werden. Und [3][die Islamische Republik kann auch nicht | |
reformiert werden.] Seit 44 Jahren dürfen Frauen in Iran nicht selbst | |
wählen, was sie anziehen wollen. Ich möchte, dass die westlichen | |
Feministinnen hart gegen dieses Gender-Apartheid-Regime und gegen | |
islamistische Staaten vorgehen. | |
Wenn die Taliban und die Islamische Republik westlichen Politikerinnen und | |
Feministinnen nicht erlauben zu entscheiden, was sie bei den Treffen mit | |
ihnen tragen wollen, werden sie sie auch niemals als Politikerinnen ernst | |
nehmen, die viel größere Entscheidungen treffen. | |
Können Sie sich noch an das letzte Mal erinnern, dass Sie den Hidschab | |
getragen haben? | |
Ja, da war ich bereits im Westen. Dabei gibt es hier keine Sittenpolizei, | |
keine Gesetze, die ihn vorschreiben. Aber das ist das Ergebnis der | |
Unterdrückung ab dem siebten Lebensjahr. Drei Jahre hat es gedauert, bis | |
ich ihn abnahm. Ich habe immer gesagt: Das ist meine Kultur, das ist meine | |
Entscheidung. Ich habe mich selbst belogen. Mir wurde mein ganzes Leben | |
lang gesagt, dass ich in die Hölle komme, wenn ich den Hidschab nicht | |
trage. | |
Ich war gehirngewaschen. Und: Ich wollte meinen Eltern nicht das Herz | |
brechen. Ich wollte meine Gemeinschaft nicht verlieren. Es war schwierig, | |
meine eigene Identität zu finden. Ich wurde in einer muslimischen Familie | |
geboren. Wenn man sagt, dass man kein Muslim mehr sein will, gilt man nach | |
iranischem Recht als „Murtad“ – als Abtrünniger. Und das bedeutet, dass … | |
hingerichtet werden kann. | |
Würden Sie sich denn als Muslima bezeichnen? | |
Im Westen wird mir immer wieder die gleiche Frage gestellt: Warum sind Sie | |
gegen den Islam? Ich antworte: Warum ist der Islam gegen mich? Ich bin | |
gegen Islamismus und den politischen Islam. Ich bezeichne mich nicht als | |
Ex-Muslima – sondern einfach als freien Menschen. | |
23 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
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