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# taz.de -- #IranRevolution2022: „Wir sind einig wie nie“
> Viele halten die Proteste im Iran für den Anfang vom Ende des
> Mullah-Regimes. Auch im Exil ist die Hoffnung groß: vier Berliner*innen
> erzählen.
Bild: Solidarität mit den Frauen in Iran bei einer Kundgebung am Brandenburger…
## Wir legen alle Differenzen beiseite
„Viele iranische Kommentatoren bezeichnen das, was gerade im Iran passiert,
als eine Revolution. Viele sagen, dass die Bilder, die wir in den sozialen
Netzwerken sehen, nicht annähernd das widerspiegeln, was tatsächlich
passiert, und es viel größer ist. Sie sagen auch, dass die Polizei noch
viel brutaler vorgeht als das, was wir sehen. Auch für mich sieht es wie
Revolution aus: Die Menschen auf der Straße sind nicht zufrieden mit
Reformen, sie wollen tatsächlich, dass die Islamische Republik gestürzt
wird. Bei früheren Protesten war das etwas anders: 2019 ging es um die
wirtschaftliche Lage, 2009 um die Wahlfälschung.
[1][Jetzt war der Auslöser zwar der Mord an Zhina Amini], aber inzwischen
geht es nicht mehr um „Frauenrechte“ und den Zwangs-Hijab – es geht um das
ganze System. Der Unterschied ist auch, dass jetzt alle geeint sind: Man
sieht auf den Straßen keine Flaggen mehr, nicht die eine Gruppe, die den
Schah will, oder die andere, die was anderes will. Es sind wirklich alle
komplett geeint aus den verschiedenen sozialen Schichten, aus den
verschiedenen Städten.
Es ist natürlich problematisch, [2][wenn die Regierung das Internet im Iran
abschaltet]. Die Menschen haben schwieriger Zugriff auf die sozialen Medien
um von ihren Protesten zu berichten. Es ist aber nicht unmöglich. Viele
schaffen es mit VPN, und gerade wird viel gesprochen über Snowflake: Damit
können Sie und ich, also wir alle, den Menschen im Iran ganz legal
Internetzugang bieten.
Was noch anders ist: Auch wir Exil-Iraner sind uns einiger als je zuvor.
Hier in Berlin gibt es viele iranische Gruppen, einige haben schon
Kundgebungen organisiert. Ich selbst habe vorige Woche zuerst alleine eine
Mahnwache organisiert und vorigen Freitag dann mit einer Gruppe von
Aktivist*innen aus ganz Deutschland. Wir haben gesagt, es ist jetzt
nicht die Zeit, darüber zu sprechen, was nach der Islamischen Republik
kommt, ob Shah, Demokratie, Kommunismus oder was. Wir legen all diese
Differenzen beiseite und machen gemeinsam eine große Demonstration, weil
wir alle das gleiche Ziel haben: das Regime muss weg!
Aber es wäre schön, wenn sich noch mehr Herkunftsdeutsche unseren Protesten
anschließend: Es geht im Iran ja nicht um Nationalitäten, es geht um
Freiheit. Und wir in Deutschland wissen doch, wie es ist ohne Freiheit und
Menschenrechte. Es gibt hier Menschen, die noch die DDR oder gar den
Nationalsozialismus erlebt haben. Aber eigentlich müsste die gesamte
Weltgemeinschaft jetzt die Menschen im Iran in ihrem Kampf nach Freiheit
unterstützen.“
## Frau, Leben, Freiheit
„Das Besondere an den aktuellen Protesten: Dieses Mal lassen die jungen
Menschen, die auf die Straßen gehen, insbesondere die Frauen, nicht los.
Obwohl die Regierung die Repressalien weiter erhöht hat, das
Innenministerium damit droht, Menschen zu verhaften, bleiben die Menschen
auf der Straße und rufen „Frau, Leben, Freiheit“ (jin, jiyan, azadi) und
„Wir wollen keine islamische Republik“! Darum denke ich: Wenn der Westen
die Proteste konsequent unterstützt, könnte dies der Anfang vom Ende des
Regimes sein.
Für Menschen in Deutschland ist die Situation sicher schwierig
einzuschätzen: Die hiesigen Medien berichten wenig, ausländische
Journalist*innen gibt es keine im Iran und das Regime schaltet immer
wieder das Internet ab. Aber wir Oppositionellen – ich bin Sprecher der
Grünen Partei im Iran – haben unsere eigenen Netzwerke, wir sind mit
Menschen im Iran in ständigem Kontakt. Zudem sind viele der
Demonstrant*innen selbst eine Art Journalisten geworden, sie nehmen
Videos auf, manche machen sogar Direktübertragung von den Protesten. So
wissen wir leider, das inzwischen mindestens 200 Demonstrant*innen
getötet wurden und es mindestens 8.000 bis 9.000 Verhaftete gibt.
Ich hoffe darum sehr, dass die Bundesregierung endlich aktiv wird.
[3][Außenministerin Annalena Baerbock] hat jetzt Gelegenheit zu zeigen, was
die von ihr proklamierte „feministische Außenpolitik“ konkret sein kann.
Sie könnte sich dafür einsetzen, dass die iranischen Vertreter aus der
UN-Kommissionen für Frauenrechte rausgeworfen werden. Sie könnte auch die
Terror-Botschaft des Iran hier in Berlin schließen lassen. Auch wäre es
gut, wenn Deutschland das Thema in den UN-Sicherheitsrat bringt: Zwar
werden Russland und China einer Verurteilung des Iran wohl kaum zustimmen,
aber die westlichen Länder könnten einheitlich und gemeinsam für
Menschenrechte und Freiheit im Iran Stellung beziehen.
Was die Menschen hier in Berlin, in Deutschland tun können: [4][Geht zu den
Demonstrationen und Kundgebungen], zeigt eure Solidarität! Ich habe vor
wenigen Tagen mit einem Jugendlichen in Teheran telefoniert, er ist 16 und
geht mit seinen Freunden demonstrieren, und sagt: „Wir brauchen
Solidarität, wir brauchen Hilfe! Berichte bei dir, was hier los ist.“ Die
Menschen im Iran haben keine Waffen, keinen Zugang zu Medien – nichts als
Hoffnung auf das Ausland.
Und das ist dieses Mal auch anders: Die verschiedenen Oppositionsgruppen,
auch hier im Ausland, halten zusammen. Natürlich haben Monarchisten,
Liberale, Linke, Grüne verschiedene Vorstellungen, was nach dem Regime
kommen soll. Aber wir Iraner haben verstanden, dass wir gegen dieses
faschistische Regime zusammenhalten müssen.“
## Die Frauen haben das erste Wort
„Es sieht so aus, als ob es kein Zurück mehr gibt im Iran. Es wird nie mehr
so sein wie vor der Ermordung von Zhina Amini, die von der so genannten
Sittenpolizei zu Tode geprügelt wurde. Das ist, denke ich, der Unterschied
zu früheren Unruhen: Es geht jetzt um Menschen, die gar keine Forderungen
gestellt haben. Zhina Amini hat nicht gegen den Zwangsschleier protestiert.
Sie hat einfach so ausgesehen, wie sie ausgesehen hat.
Darum ist sie zum Symbol geworden: Sie war jung und unschuldig, sah aus wie
die meisten Frauen, die auf Teheraner Straße laufen – und ist einfach so
brutal ermordet worden. So gehen nun Frauen aus allen Schichten auf die
Straße, stellen sich sogar auf Polizeiautos und zeigen ihre langen Haare.
Die Männer unterstützen sie, aber die Frauen haben das erste Wort in dieser
Bewegung.
Die Proteste haben auch in Berlin Auswirkungen, die noch nie dagewesen
sind. Ich lebe seit 38 Jahren in der Stadt und habe noch nie eine
Demonstration gesehen wie vorigen Freitag am Pariser Platz, wo über 4.000
Menschen zusammen kamen. Die meisten Iraner dort habe ich noch nie gesehen:
Das sind junge Menschen, Studierende und andere, die dieses Regime einfach
satt haben. Sie haben es im Iran nicht mehr ausgehalten. Sie sind nicht
politisch, sie sind einfach unzufrieden. Auch die Emotionalität ist neu:
Viele haben von Herzen die Parolen wie „jin, jiyan, azadi“ gerufen. Sogar
Menschen, die einfach vorbei gelaufen sind, wurden irgendwie angesteckt.
[5][Wir älteren Exil-Iraner waren ja oft politisch sehr zerstritten]. Die
Jüngeren werden auch noch Meinungsverschiedenheiten austragen, wenn sie
politisch weiter machen – aber in dieser Phase sind sich alle einig: Zuerst
muss das Regime weg. Was dann kommt, werden wir sehen. Es ist auch eine
Stärke dieses Widerstands, dass er keine zentralen Führungsfiguren, keine
Köpfe hat – denn die kann man abschneiden und dann ist alles lahmgelegt.
Die jungen Leute machen alles über die sozialen Netzwerke und es klappt
hervorragend. Dabei wird sich mit der Zeit herauskristallisieren, wer das
Zeug zur Führungspersönlichkeit hat.
Wir im Westen können das am besten unterstützen, wenn wir öffentlich
Solidarität zeigen – und wenn das vor allem Prominente tun, wenn Künstler,
Sportler, Politiker zum Beispiel Videobotschaften veröffentlichen. Die
iranischen Politikern sind jetzt schon sichtlich verunsichert, das zeigen
die Bilder, die kursieren. Wenn sie merken, dass die Welt Notiz nimmt, dass
Leute, die man auch im Iran kennt, sich an die Seite des Volkes stellen,
wird das sehr helfen.“
## Ein gemeinsames Ziel
„Der große Unterschied, den ich zu früheren Aufständen sehe, ist, dass
heute eine ganz andere Einheit unter den Iranern herrscht. Ich erlebe das
auch hier in Berlin: Ganz unterschiedliche Gruppierungen sind bereit
zusammenzustehen, ihre eigenen politischen Ansichten hinten anzustellen,
weil wir ein gemeinsames Ziel haben: ein freies Iran und die Zerschlagung
der Islamischen Republik. Noch viel wichtiger ist, dass viele Iraner, die
sich bislang raus gehalten haben oder der Meinung waren, sie seien gar
nicht so „politisch“, auch zu den Demonstrationen gehen.
Es gibt, wie man jetzt merkt, eine sehr starke, lebendige Szene unter
jungen Menschen mit iranischen Wurzeln, Studierende und Nicht-Studierende,
die keiner Organisation zuzurechnen sind und selbst aktiv werden. Daher die
Vielzahl von Veranstaltungen in den letzten Tagen mit teils erstaunlich
hohen Teilnehmerzahlen. Das liegt natürlich auch am Thema Frauenrechte, das
auch Herkunftsdeutsche und Menschen anderer Nationalitäten anzieht.
Für die Iraner in Iran sind solche Zeichen der Solidarität total wichtig.
Es ist eine zentrale Bitte, die ich und viele andere Iraner über ihre
Verwandten, ihre Freunde hören: Seid unsere Stimme. Lasst nicht zu, dass
die Mullahs uns einfach abschlachten und keiner es mitkriegt.
Aber auch jenseits dieser moralischen Gründe und der Menschenrechte gibt es
handfeste Gründe, warum die Menschen im Westen, auch hier in Berlin, ein
Interesse daran haben, dass dieses Regime fällt: Denn die Islamische
Republik Iran hat massiv zu den großen Flüchtlingsbewegungen der letzten
Jahre beigetragen. So wäre das Assad-Regime ohne die 100.000 iranischen
Soldaten, die aus Teheran nach Syrien geschickt wurden, sicher binnen
Wochenfrist zerfallen. Es wäre gar nicht zu diesem schrecklichen Krieg in
Syrien gekommen, mit all den Folgen.
Die Islamische Republik Iran ist auch ein Hauptfinanzier des
internationalen Terrors. Organisationen wie die Hisbollah oder die Hamas
sind erwiesenermaßen eine Erfindung der Islamischen Republik Iran, die dann
den Terror nach Europa exportiert haben. Auch das Mykonos-Attentat 1992 in
Berlin ging ja auf das Konto der Islamischen Republik – und es gibt
Dutzende solcher Beispiele in Europa. Ein Ende des Mullah-Regimes wäre also
gut für unser aller Sicherheit.“
28 Sep 2022
## LINKS
[1] /Proteste-in-Iran/!5879746
[2] /NetBlocks-Gruender-ueber-Internet-im-Iran/!5880188
[3] /Reaktion-auf-die-Proteste-in-Iran/!5880142
[4] /Kundgebung-in-Berlin-zu-Iran/!5883280
[5] /!5567103/
## AUTOREN
Susanne Memarnia
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