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# taz.de -- Iran-Expertin über Proteste: „Potenzial der Zivilgesellschaft“
> Die Reformer haben als liberale Kraft ausgedient, sagt Iran-Expertin
> Azadeh Zamirirad. Doch in der Zivilgesellschaft könnte neue Solidarität
> wachsen.
Bild: Die Gesellschaft hat das Kopftuch längst abgelegt: Proteste gegen das ir…
taz: Bei den Protesten in Iran geht es nicht mehr nur um den Hidschab,
sondern das ganze System. Woher kommt das?
[1][Azadeh Zamirirad]: Es gibt einen enormen Frust im Land, der in den
letzten Jahren noch gewachsen ist. Wir haben unter dem derzeitigen
Präsidenten, Ebrahim Raisi, eine weitere Schließung gesellschaftlicher
Räume gesehen. Die letzten Präsidentschaftswahlen waren dabei – selbst
gemessen an den Standards der Islamischen Republik – extrem beschränkt.
Immer mehr Iranerinnen und Iraner haben es aufgegeben, über formale Kanäle
Änderungen bewirken zu wollen. Es gibt so viel Frustration über die
[2][wirtschaftliche, politische, und gesellschaftliche Lage,] gepaart mit
Umweltproblemen wie Wasserknappheit und Dürre. Das ist eine riesige Melange
an Krisen und gleichzeitig gibt es kaum Aussicht auf Besserung.
In Iran gibt es – neben den konservativen Hardlinern – auch die als
liberaler geltende Fraktion der Reformer. Spielen sie bei den Protesten
eine Rolle?
Die sogenannten Reformer sind absolut nebensächlich geworden. 2009, bei den
bislang größten Protesten in der Geschichte der Islamischen Republik, haben
die Reformer noch an der Spitze der Demonstrationen gestanden. Viele, die
jetzt auf der Straße sind, lehnen sowohl konservative Hardliner als auch
Reformer ab. Früher, vor allem in den 1990er Jahren, gab es durchaus die
Hoffnung, dass mittels der Reformer aus dem System heraus Änderungen
möglich sind. Aber sie haben bis heute weder gesellschafts- noch
wirtschaftspolitisch sichtbare, langfristige Erfolge vorzuweisen. Für viele
ehemalige Anhänger haben sie als Kanal für substanziellen Wandel
ausgedient.
Haben die Konservativen überhaupt Unterstützung für die Durchsetzung des
Kopftuchzwangs?
Die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner ist gegen eine
[3][Kopftuchpflicht], darauf deuten selbst inneriranische Untersuchungen
hin. Die Gesellschaft hat das Kopftuch längst abgelegt. Der Staat versucht
trotzdem, die Kleiderordnung aufrechtzuerhalten. Dass das nur mit Gewalt
gelingen kann, ist ein Problem, das mittlerweile auch vielen Konservativen
und Hardlinern bewusst ist. Das ist eine neue Dimension in den derzeitigen
Protesten: dass öffentliche Kritik an der gewaltsamen Durchsetzung einer
solch rigiden Kleiderordnung selbst aus dem konservativen Lager kommt.
Könnte das System diesmal wirklich gestürzt werden?
Viele hoffen, dass die Proteste eine Dynamik entwickeln, die gleich das
gesamte System erfasst. Andere haben Sorge vor einem revolutionären
Umsturz, weil sie bereits eine Revolution durchgemacht haben, die nicht zu
einem demokratischen Staat geführt hat. Das Potenzial für Umbrüche ist
grundsätzlich da und die Gesellschaft lässt nicht locker. Gleichzeitig hat
aber auch der iranische Staat [4][starke Mittel in der Hand], um sich zu
schützen.
Gibt es Organisationen im Land, die eine neue Revolution anführen könnten?
Im Moment sehe ich keine politische Kraft, die so organisiert wäre, dass
sie eine demokratische Transformation des Staates gewährleisten könnte.
Sich zu organisieren, eigene Ideen zu verwirklichen, wurde vom Staat
unterbunden. Selbst die sogenannte Grüne Bewegung von 2009, aus der
damaligen Protestbewegung entstanden, hat nicht viel voranbringen können.
Aber Iran verfügt über eine lebendige Zivilgesellschaft, aus der neue
Bewegungen und [5][Solidargemeinschaften] entstehen können. An Ansätzen und
Ideen mangelt es nicht. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es viel
Potenzial – aber das ist noch ein langer Weg.
28 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.swp-berlin.org/wissenschaftler-in/azadeh-zamirirad
[2] /Unzufriedene-Bevoelkerung/!5853733
[3] /Nach-dem-Tod-von-Mahsa-Zhina-Amini/!5881370
[4] /NetBlocks-Gruender-ueber-Internet-im-Iran/!5880188
[5] /Frauenrechte-im-Iran/!5880010
## AUTOREN
Lisa Schneider
## TAGS
Proteste in Iran
Schwerpunkt Iran
Revolution
Ebrahim Raisi
GNS
Iranische Revolution
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Kopftuch
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