# taz.de -- Unzufriedene Bevölkerung: Belastungsprobe für Iran | |
> Nach dem gewaltsamen Tod eines Revolutionsgardisten wächst im Iran die | |
> Unruhe. Dazu trägt auch die hohe Inflation von rund 40 Prozent bei. | |
Bild: Die stark gestiegenen Lebensmittelpreise sorgen für kritische Blicke bei… | |
BEIRUT taz | „Elemente mit Verbindungen zur globalen Arroganz“, so | |
schreiben es die iranischen Revolutionsgarden auf ihrer Webseite, haben im | |
Iran ein ranghohes Mitglied der Revolutionsgarden erschossen. Zwei | |
bewaffnete Motorradfahrer sollen den Oberst Sajjad Chodai auf einer Straße | |
vor seinem Haus in der iranischen Hauptstadt Teheran mit fünf Kugeln | |
getötet haben. Für die „terroristische“ Tat sollen die USA und Israel | |
verantwortlich sein. | |
Chodai sei ein „Verteidiger des Heiligtums“ gewesen, erklärten die | |
Revolutionsgarden. Diese Bezeichnung wird für staatliche Bedienstete | |
verwendet, die in Syrien oder im Irak aktiv sind. Das Staatsfernsehen | |
erklärte, Chodai sei in Syrien „bekannt“ gewesen, ohne seine Arbeit weiter | |
zu beschreiben. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad ist ein enger | |
Vertrauter des iranischen Regimes und wird von diesem unterstützt. | |
Wenige Stunden vor dem Angriff auf Chodai hatten die Revolutionsgarden | |
mitgeteilt, dass sie eine Gruppe von „Verbrechern mit Verbindungen zum | |
Geheimdienst des zionistischen Regimes“, womit sie Israel meinen, | |
festgenommen hätten. Sie seien in eine Reihe von Verbrechen verwickelt | |
gewesen, darunter „Überfälle, Entführungen und Vandalismus“. Präsident | |
Ibrahim Raisi hat Vergeltung für den Angriff angekündigt. | |
Für das Regime ist der jüngste Anschlag eine Möglichkeit, Einigkeit und | |
Stärke zu demonstrieren. | |
## Proteste gegen gestiegene Lebensmittelpreise | |
Denn im Iran rumort es gewaltig: Das Land kämpft mit einer Inflation von | |
rund 40 Prozent, die Iraner*innen sind unzufrieden und protestwillig, | |
die Wirtschaft leidet unter den [1][harschen Sanktionen der USA]. | |
Diese hatte 2018 die Regierung des damaligen, für seine antiiranische | |
Haltung bekannten US-Präsidenten Donald Trump in Kraft gesetzt, nachdem sie | |
zuvor aus dem 2015 geschlossenen Atomabkommen mit dem Iran ausgestiegen | |
war. | |
Durch die schlechte Wirtschaftslage im Land kann es sich die Teheraner | |
Regierung nicht mehr leisten, den sogenannten bevorzugten Wechselkurs für | |
importierte Waren zu halten. Dieser stand bei etwas mehr als 4.000 | |
iranischen Toman für einen US-Dollar – auf dem Parallelmarkt bekam man für | |
einen Dollar 30.000 Toman. | |
Weil die Regierung den offiziellen Wechselkurs – und damit faktisch die | |
Subventionen für Importprodukte wie Speiseöl und Getreide – aufgehoben hat, | |
müssen Lebensmittelimporteure nun mit dem Kurs des freien Marktes bezahlen. | |
Mitte Mai stiegen die Preise für Speiseöl, Eier oder Milch so schlagartig | |
um bis zu 300 Prozent. Die Folge: Proteste und Unruhen. | |
## Ein Grund für Preissteigerungen: Krieg in Ukraine | |
Hintergrund dieser Preiserhöhungen sind Versorgungsengpässe, unter anderem | |
wegen des russischen Angriffkriegs in der Ukraine, aus der der Iran weite | |
Teile seines [2][Speiseöl-, und über 20 Prozent seines Maisbedarfs | |
importiert]. | |
Der weitaus wichtigere Grund für die Abschaffung der Subventionen ist aber, | |
dass subventionierte Ware oft nicht an die Verbraucher*innen ging, | |
sondern an diesen vorbei geschmuggelt – und schließlich teuer | |
weiterverkauft wurde. | |
Bevor die neue Regelung in Kraft trat, kauften die Iraner*innen | |
Supermärkte im ganzen Land leer. In Iseh in der Provinz Khuzistan stürmten | |
der iranischen Nachrichtenagentur Irna zufolge aufgebrachte Menschen die | |
Geschäfte. Einige versuchten aus Wut, eine Moschee in Brand zu stecken. Ein | |
Abgeordneter der Provinz Khuzistan teilte mit, dass drei junge Menschen | |
wegen „Steinwürfen auf eine Moschee“ festgenommen worden seien. | |
Auch aus weiteren Orten des Landes, etwa in der Provinz Teheran, wurden | |
Proteste gegen die hohen Lebensmittelpreise gemeldet. | |
## Busfahrende und Lehrkräfte streiken | |
Und auch an andere Stelle häufen sich die Proteste gegen den Staat: Am 16. | |
und 17. Mai streikten die [3][Busfahrenden] in Teheran. Die Stadtverwaltung | |
hatte ihnen eine Lohnerhöhung von 10 Prozent versprochen, doch die | |
Protestierenden verlangen 57 Prozent. Außerdem forderten sie die | |
Freilassung ihrer Kolleg*innen, die am ersten Tag des Streiks festgenommen | |
worden waren. Zuvor wurde bereits Reza Shahabi, Vorstandsmitglied der | |
Gewerkschaft, verhaftet. | |
Auch bei den Protesten gegen die Preiserhöhungen gab es Festnahmen: Nach | |
Angaben staatlicher Medien insgesamt 22 – 15 davon in Desful in der Provinz | |
Khuzestan. Bei den dortigen Demonstrationen starb mindestens ein Mensch, | |
wie der Abgeordnete der Stadt im iranischen Parlament mitteilte. | |
Unter dem Vorwurf der versuchten Unruhestiftung hatten die iranischen | |
Behörden am 7. Mai auch ein französisches Paar festgenommen. Die 37 Jahre | |
alte Frau und der 69-jährige Mann sollen laut einem Bericht des staatlichen | |
iranischen Fernsehens mit Tourismusvisa eingereist sein und sich mit | |
Lehrer*innen-Gewerkschaften getroffen haben. Durch Überwachungsmaßnahmen | |
habe das iranische Geheimdienstministerium laut eigener Aussage | |
festgestellt, dass „sie in Wirklichkeit keine Touristen waren“. Die | |
Lehrer*innen-Gewerkschaft fordert – so wie die der Busfahrer*innen und | |
weitere Gewerkschaften – höhere Gehälter und die Freilassung von zuvor | |
inhaftierten Kolleg*innen. | |
Die Sorge ist groß, dass es zu ähnlichen Szenen kommen könnte [4][wie im | |
Jahr 2019], als viele Iraner*innen wegen gestiegener Treibstoffpreise | |
auf die Straße gingen. Damals schaltete die Regierung einfach das Internet | |
ab. Bis heute ist unklar, wie viele Menschen verletzt, gefangen genommen | |
oder sogar getötet wurden. | |
25 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.state.gov/iran-sanctions/ | |
[2] https://oec.world/en/profile/country/irn | |
[3] https://iranjournal.org/news/busfahrerstreik-sorgt-fuer-chaos-in-teheran | |
[4] /Nach-Benzinpreiserhoehung-in-Iran/!5638671 | |
## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
## TAGS | |
Iran | |
Lebensmittel | |
Inflation | |
Iranische Revolutionsgarden | |
Anschlag | |
Iran | |
Verhältnis Iran - Israel | |
Israel | |
Griechenland | |
Todesstrafe | |
Cannes Cannes | |
Iran | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Prozess gegen Deutsch-Iraner in Teheran: „Ein iranischer CIA-Agent“ | |
Am vierten Prozesstag wurden dem Deutsch-Iraner und Oppositionellen Jamshid | |
Sharmahd weitere Anschläge vorgeworfen. Ihm droht die Todesstrafe. | |
Abkommen auf der Kippe: Irans neues Atom-Selbstbewusstsein | |
Teheran dreht an der nuklearen Eskalationsschraube. Überwachungskameras der | |
IAEA werden abgebaut, mehr Uran angereichert als gestattet. | |
Atomverhandlungen mit dem Iran: Keine Rückkehr zum alten Deal | |
Der Iran soll 18-mal mehr Uran anreichern, als in dem gekündigten Deal von | |
2015 vorgesehen war. Es ist Zeit für Zugeständnisse aus den USA und Israel. | |
Auseinandersetzung im persischen Golf: Iraner gegen Griechen | |
Zwei griechische Schiffe werden im persischen Golf von der iranischen | |
Revolutionsgarde gekapert. Die Spannung zwischen den Ländern steigt. | |
Amnesty-Jahresbericht über Hinrichtungen: Wenige Länder töten wieder mehr | |
Enthaupten, erhängen, erschießen, vergiften: Amnesty stellt Bericht zu | |
Hinrichtungen 2021 vor. Besonders Iran und Saudi-Arabien sind im Fokus. | |
Filmfestspiele von Cannes: Die, die unser Brot backen | |
Cannes 7: Im Thriller „Holy Spider“ geht es um Femizide in Iran. Der | |
Goldene-Palmen-Gewinner thematisiert hingegen Rassismus in Siebenbürgen. | |
Vergessenes iranisches Poptalent: Mit den Blumen sprechen | |
Touraj galt einst als iranisches Poptalent. Nach der islamischen Revolution | |
erhielt er Betätigungsverbot. Höchste Zeit für eine Wiederentdeckung. |