| # taz.de -- NDR-Doku „Lovemobil“: Die „authentischere“ Realität | |
| > Die NDR-Doku „Lovemobil“ präsentierte Schauspielerinnen als „echte | |
| > Sexarbeiterinnen“. Wie stark dürfen solche Filme das, was sie zeigen, | |
| > inszenieren? | |
| Bild: Nicht real: Sexarbeiterin „Rita aus Nigeria“ in „Lovemobil“, darg… | |
| „Lovemobil“ hätte ein passabler Spielfilm sein können. Man hätte ihm | |
| vielleicht vorgeworfen: bisschen viel Rotlichtkitsch. Oder dass da ein | |
| [1][„Retter*innen-Syndrom“] mitschwingt, dass die Protagonistinnen zu | |
| passiv sind. Was man ihm nicht hätte vorwerfen können, ist: Täuschung. | |
| Dieser Vorwurf drängt sich nun aber auf gegen die NDR-Kinoproduktion von | |
| 2020 und die Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss. | |
| Der NDR hat den Film am Montag aus seiner Mediathek entfernt und sich | |
| distanziert, nachdem die Investigativredaktion STRG_F (ebenfalls NDR) | |
| herausgefunden hatte: Die Sexarbeiterinnen „Rita aus Nigeria“ und „Milena | |
| aus Bulgarien“ in Lehrenkrauss’ Film sind gar keine. Recherchen mit | |
| [2][echten Sexarbeiterinnen] scheint es gegeben zu haben – aber zu | |
| sehen sind ausgedachte Figuren, die von Darstellerinnen gespielt werden. | |
| Sie wussten offenbar selbst nicht, dass der Film als „dokumentarisch“ | |
| verkauft werden würde. | |
| „Lovemobil“ sieht aus wie eine Doku über zwei junge migrantische Frauen, | |
| die tageweise ein Wohnmobil an einer Landstraße in Niedersachsen für | |
| Sexarbeit mieten. Der Film lief kurz vor der Pandemie im Kino, wurde | |
| positiv besprochen ([3][auch in der taz]), bekam den Deutschen | |
| Dokumentarfilmpreis und zuletzt eine Nominierung für den Grimme-Preis. | |
| Der SWR, der den Dokumentarfilmpreis vergibt, prüft jetzt, ob er ihn wieder | |
| aberkennt. Das Grimme-Institut hat bereits reagiert. Dort heißt es auf | |
| Anfrage: „Nach Kenntnisnahme der massiven Vorwürfe rund um den Film | |
| ‚Lovemobil‘ hat die Nominierungskommission entschieden, der Produktion auf | |
| Grund schwerwiegender Verstöße die Nominierung zu entziehen.“ | |
| Die Sexarbeiterinnen-Organisation Doña Carmen bezeichnet den Film in einer | |
| Mitteilung als „Lügen-Doku“ und wirft Lehrenkrauss „abgrundtiefe | |
| Missachtung von Sexarbeiter*innen“ vor: Sie habe ihren Figuren „unter dem | |
| Deckmantel der Empathie ihre angeblich ‚authentischere Realität‘“ | |
| übergestülpt. Elke Margarethe Lehrenkrauss war am Dienstag zu einem | |
| Gespräch mit der taz nicht bereit. Dem NDR gegenüber gibt sie an, versäumt | |
| zu haben, den Sender über die Inszenierungen zu informieren. „Sie bereue | |
| das und behauptet zugleich, der NDR habe nicht nachgefragt.“ Der NDR | |
| widerspricht Letzterem. | |
| ## Katastrophe für Dokumentarfilm | |
| Aber wie konnte ein zu großen Teilen inszeniertes Werk überhaupt als | |
| „Dokumentarfilm“ Sender und Fachwelt passieren? Preise bekommen? Alles an | |
| „Lovemobil“ wirkt im Lichte der Enthüllung zu idealtypisch. Die Figuren zu | |
| reflektiert. Dass niemand Alarm schlug, liegt wohl daran, dass im Dokfilm | |
| ein Mindestmaß an „Inszenierung“ akzeptiert wird, solange es redliches | |
| Abbild der Wirklichkeit ist. Eine Protagonistin zurückschicken, damit sie | |
| erneut die Straße entlangläuft, bei besserem Licht? Viele würden sagen: | |
| okay. Erst, wenn Figuren erfunden werden, womöglich gepanscht aus allen | |
| möglichen realen Biografien, ist eine Grenze erreicht. | |
| „Ich fühle mich getäuscht“, sagt Ulrike Becker, Geschäftsführerin im Ha… | |
| des Dokumentarfilms. Becker hat Lehrenkrauss im Sommer interviewt, nachdem | |
| sie den SWR-Preis erhalten hatte. Damals behauptete Lehrenkrauss über ihre | |
| Protagonistinnen: [4][„Für sie war der Film ein Katalysator, aus der | |
| Prostitution auszusteigen.“] Das klingt nicht so, als bestünde hier bloß | |
| ein Missverständnis. | |
| „Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, die inszenierten Aspekte im Film | |
| kenntlich zu machen“, sagt Becker. Nichts davon bei „Lovemobil“. Der Film | |
| will echt aussehen. Lehrenkrauss sagt in ihrem Statement an den NDR: „Diese | |
| Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere | |
| Realität.“ | |
| Was die Figuren im Film darstellen, kann real sein und ist gewiss | |
| Sexarbeiterinnen so passiert. Gewalt, Ausbeutung, Freiheitsberaubung, | |
| Hilflosigkeit. Aber ist es authentisch – sogar authentischer –, wenn alle | |
| denkbaren negativen Sexarbeiterfahrungen in zwei Figuren gestopft werden? | |
| Fiktion darf das. Im Dokfilm hat es was von Hybris. | |
| Im Interview mit dem Haus des Dokumentarfilms erzählt Lehrenkrauss von der | |
| ursprünglichen Idee für den Film. „Das Bild von einer Frau aus Afrika, die | |
| im dunklen deutschen Wald in einem Bus sitzt – das war für mich das Bild | |
| eines Missstands, dem ich auf den Grund gehen wollte.“ Vielleicht hat die | |
| Filmemacherin zu sehr an diesem Bild gehangen, um es sich von der | |
| Wirklichkeit kaputtmachen zu lassen. | |
| Am Ende ist es eine Katastrophe für den Dokumentarfilm und das Vertrauen | |
| zwischen Filmemacher*innen und Redaktionen. Vor allem aber für | |
| [5][Debatten über Sexarbeit]. Die sind ohnehin verzerrt von klischierten | |
| fiktionalen Darstellungen. Wenigstens dem, was sich als Fakt verkauft, | |
| sollte man trauen können. | |
| Hinweis der Redaktion: Der Autor ist Mitglied einer Nominierungskommission | |
| für den Grimme-Preis. Jedoch in einer anderen Kategorie als die, in der | |
| „Lovemobil“ eingereicht war. | |
| 23 Mar 2021 | |
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| [4] https://www.youtube.com/watch?v=ZQ51XZKmGyE | |
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| ## AUTOREN | |
| Peter Weissenburger | |
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