| # taz.de -- Migrantische AfD-Anhänger: „Ausländer für Deutschland“ | |
| > Die Parteipräferenz von migrantischen Wähler:innen ist | |
| > unterschiedlich. Auch wenn es widersprüchlich scheint, wählen einige von | |
| > ihnen die AfD. Ein AfD-Wähler erklärt warum. | |
| Bild: Nach den Brandmauer-Demonstrationen lagen einige Wahlplakate am Boden. An… | |
| Berlin taz | Mehr als sieben Millionen Wahlberechtigte in Deutschland haben | |
| eine Einwanderungsgeschichte. Ihre Interessen und Parteipräferenzen sind | |
| divers, tendenziell gehen sie seltener wählen und fühlen sich von | |
| politischen Institutionen nur bedingt repräsentiert. Vor dem Hintergrund | |
| der Bundestagswahl 2025 stellt sich nun die Frage, welche Tendenzen sich in | |
| dieser Gruppe abzeichnen, welche Themen die Wahlentscheidung prägen und wie | |
| unterschiedliche Communitys wählen. | |
| Die größte Migrationsgruppe mit etwa 2,5 bis 3 Millionen Menschen ist | |
| türkeistämmig. Diese Gruppe entstand vor allem im Zuge der | |
| Arbeitsmigration. Nur etwa [1][eine Million der heute in Deutschland | |
| lebenden türkeistämmigen Menschen ist wahlberechtigt]. | |
| Harun Aydin ist einer von ihnen. Der gebürtiger Berliner, Mitte 30, möchte | |
| seinen richtigen Namen und sein genaues Alter nicht nennen. [2][Harun Aydin | |
| wählt die AfD]. Auf die Frage, warum, zuckt er mit den Schultern und | |
| grinst. Seine Großeltern kamen als Gastarbeiter in den 1970ern nach | |
| Kreuzberg und Deutschland wurde zu ihrer neuen Heimat. | |
| Aydin steht am Tresen eines Kreuzberger Spätis – dort arbeitet er. Er räumt | |
| gerade Zigaretten in das Regal ein und sagt: „Ich wähle die AfD. Das sage | |
| ich jetzt mal ganz offen. Viele sind dann verwundert. Vor allem die mit | |
| Migrationshintergrund, die runzeln dann die Stirn“, und er imitiert das | |
| Stirnrunzeln. Ob ihm denn klar sei, dass die AfD alle Ausländer abschieben | |
| wolle, fragen sie ihn. Für Aydin aber ist das Blödsinn. „Das stimmt einfach | |
| nicht. Es geht nicht um Leute wie mich. Wir zahlen unsere Steuern, es geht | |
| um die faulen Leute, die vom Staat leben“, erklärt er. | |
| ## Die Großeltern würden SPD wählen | |
| Und was denkt seine Familie? „Die verstehen meine Argumentationen überhaupt | |
| nicht. Meine Großeltern haben große Angst, dass sie aus Deutschland | |
| abgeschoben werden. Aber das ist absurd, das wird nicht passieren“, | |
| antwortet Aydin. Könnten seine Großeltern wählen, dann würden sie ihre | |
| Stimme der SPD geben, erzählt Aydin. Seine Eltern genauso, weshalb zu Hause | |
| einfach nicht mehr über die deutsche Politik geredet werde. Aydin sagt: | |
| „Ich bin hier geboren, ich bin Deutscher und Deutschland ist meine Heimat.“ | |
| Im Jahr 2021 habe er nämlich die SPD gewählt und jetzt bereue er diese | |
| Entscheidung. Außerdem, sagt Aydin, schiebe die SPD auch ab: „Ich erinnere | |
| an den Spiegel-Titel mit Scholz. Er schiebt doch schon im großen Stil ab. | |
| Aber wenn die AfD davon redet, dann weinen alle.“ | |
| Am meisten störe es ihn, dass er wegen seines Aussehens auch angefeindet | |
| werde und zu den Schlechten zähle. Er möchte nicht mehr, dass „fremde | |
| Menschen in meine Heimat strömen“. Als Beispiel nennt er die Syrer:innen, | |
| die 2015 nach Deutschland kamen: „Weil die sich nicht benehmen können, | |
| werden wir dann in die gleiche muslimische Schublade gesteckt“, sagt er mit | |
| einem wütenden Unterton. Er sieht in der AfD eine Partei, die seine Sorgen | |
| und Forderungen vertritt. | |
| ## Integration über Leistung | |
| Laut der [3][im Januar erschienenen Studie] „Migration und politische | |
| Partizipation in Deutschland“ vom Deutschen Zentrum für Integrations- und | |
| Migrationsforschung (DeZIM) wählen Migrant:innen in Deutschland | |
| tendenziell seltener als Personen ohne Migrationshintergrund. Während im | |
| Gesamtdurchschnitt etwa 60 Prozent der wahlberechtigten Migrant:innen an | |
| Wahlen teilnehmen, liegt die Wahlbeteiligung in bestimmten Gruppen, wie bei | |
| den türkeistämmigen Bürgern, teilweise um 10 Prozentpunkte niedriger. | |
| Konkret belegt die Studie, dass rund 8 Prozent der türkeistämmigen | |
| Wähler:innen die AfD unterstützen, während etwa 45 Prozent ihre Stimme | |
| Parteien wie der SPD oder Bündnis 90/Die Grünen geben. Zudem geben rund 32 | |
| Prozent der befragten Migrant:innen an, regelmäßig Diskriminierung zu | |
| erfahren, was ihr politisches Engagement zusätzlich beeinflusst. | |
| [4][Integrations- und Migrationsforscher Özgür Özvatan] aus Berlin sieht | |
| hier folgende Erklärung: „Türkeistämmige haben sich innerhalb der letzten | |
| Jahre viel aufgebaut, sie haben sich einen gewissen Status erarbeitet“, | |
| also definieren sie ihre Integration über Leistung, genau wie Harun Aydin. | |
| Ein weitaus bekannterer AfD-Wähler als Aydin ist Feroz Khan. Er selbst | |
| bezeichnet sich als nichtweißen AfDler, er wohnt in Dresden, ist gebürtiger | |
| Frankfurter und seine Eltern kommen aus Pakistan. In den sozialen Medien | |
| ist er unter dem Namen „achse:ostwest“ bekannt. Schon allein sein | |
| Telegram-Channel hat knapp 28.000 Abonnenten. | |
| ## Polarisierte Debatte | |
| Er scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, für die AfD Wahlkampf zu | |
| betreiben: Er reist von Stadt zu Stadt, stellt einen Tisch mit der | |
| Aufschrift „Ich wähle die AfD – Change my Mind“ auf und lädt | |
| Passant:innen zur offenen Diskussion ein. Doch von einer Diskussion ist | |
| in den meisten Videos nichts zu sehen. Die meiste Zeit erzählt | |
| (monologisiert) Khan in lautem Ton, wie schlimm die Flüchtlingspolitik im | |
| Jahr 2015 war. Die Flüchtlinge seien alle gefährlich. Weitere Themen sind | |
| die unkontrollierte Migrationspolitik und die Schließung der Grenzen. | |
| Während ein Teil der Passant:innen Verständnis zu zeigen versucht, | |
| erntet er auch Kritik, dann wird er besonders laut. Von einem Passanten | |
| wird Khan gefragt, was AfD-Mitglieder über ihn denken, wenn sie Feroz Khan | |
| auf der Straße begegneten. Er antwortet sofort und ohne die Miene zu | |
| verziehen: „Kann sein, dass die mich für einen dahergelaufenen Asylanten | |
| halten, aber was spielt das für eine Rolle? Es geht nicht mich um mich, | |
| nicht um Einzelschicksale.“ Für Khan gehe es um das Allgemeinwohl der | |
| Deutschen und außerdem beträfe ihn das alles nicht, er sehe sich selbst | |
| nicht in einem Abschiebeflugzeug sitzen. | |
| Khans Aktionen machen deutlich, wie polarisiert die Debatten über Migration | |
| und Identität in der Gesellschaft inzwischen geführt werden – ein Befund, | |
| der auch in der Studie zu den politischen Partizipationsmustern von | |
| Migrant:innen ablesbar ist. | |
| Özgür Özvatan kann die Studie nur bestätigen. Er selbst forscht seit Jahren | |
| zu diesem Thema. Im April erscheinen seine Ergebnisse in seinem Buch „Jede | |
| Stimme zählt: Von Demokraten unterschätzt, von Populisten umworben: | |
| migrantische Deutsche als politische Kraft“, das die Parteipräferenzen der | |
| migrantischen Community analysiert. | |
| ## Höhere Wahlbeteiligung bei Russlanddeutschen | |
| Warum türkeistämmige Menschen wie Harun Aydin der AfD ihre Stimme geben | |
| erklärt Özvatan wie folgt: „Der antiarabische Rassismus aus der Türkei wird | |
| von der Community hier in Deutschland übersetzt und da ist es nicht | |
| verwunderlich, dass Menschen wie Aydin oder Khan in diese Richtung | |
| argumentieren“, dies sei nichts Neues. | |
| Özvatan spricht aber von einer weiteren Community, über die man sich | |
| eigentlich sorgen müsse: Russlanddeutsche. Die Wahlbeteiligung der | |
| Russlanddeutschen liegt im Gegensatz zu den Türkeistämmigen bei 68 Prozent | |
| und ist somit deutlich höher. Dies wird häufig mit ihrer langen | |
| Integrationsgeschichte in Deutschland und dem hohen Maß an politischer | |
| Identifikation mit diesem Land begründet. | |
| Hinsichtlich der Parteipräferenzen offenbart die Studie ein differenziertes | |
| Bild. Etwa 25 Prozent der russlanddeutschen Wähler:innen tendieren in | |
| stabilen Zeiten zu konservativen Parteien wie der CDU, während rund 18 | |
| Prozent ihre Stimme der SPD geben. In Phasen gesellschaftlicher | |
| Unsicherheit steigt der Anteil, der sich für rechtspopulistische Parteien, | |
| beispielsweise die AfD, entscheidet – hier verzeichnet die Untersuchung in | |
| bestimmten Situationen Zustimmungswerte von etwa 10 Prozent. Diese Werte | |
| deuten darauf hin, dass das Wahlverhalten innerhalb der russlanddeutschen | |
| Community von einem Spannungsfeld zwischen traditioneller konservativer | |
| Orientierung und kurzfristiger Reaktion auf aktuelle Krisen geprägt ist. | |
| Özvatan sagt, dass es innerhalb der türkeistämmigen Gruppe, aber auch bei | |
| Deutschlandrussen, deutliche Unterschiede in den Parteipräferenzen gebe. | |
| Die Studie unterstreicht diese Sichtweise: Türkeistämmige Bürger tendieren | |
| deutlich seltener zur AfD und bevorzugen stattdessen demokratische | |
| Parteien. Özgür führt weiter aus, dass die Alltagsrealität vieler | |
| Migrant:innen – etwa der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die bekannte | |
| Diskriminierung auf dem Immobilienmarkt – Ängste schürt, was populistische | |
| Parteien ausnutzen. | |
| ## Andere Parteien „zu feige“ | |
| Zurück in Kreuzberg: Harun Aydin hat bald Feierabend, noch eine letzte | |
| Zigarette rauchen, bevor er sich „mit den Jungs“ trifft. Auf die Frage, was | |
| er an der AfD gut findet, antwortet er: „Sie lügen nicht. Sie sagen ganz | |
| klar, was sie machen werden.“ Die anderen Parteien seien zu feige. Er wolle | |
| Resultate sehen. | |
| Und ob er die Wahlprogramme gelesen hat? Die müsse er nicht lesen, das | |
| Wichtigste wisse er nämlich. Außerdem stünde die Abkürzung AfD nicht nur | |
| für Alternative für Deutschland, sondern eben auch für Ausländer für | |
| Deutschland. Er lacht und sagt: „Die beziehen uns eben mit ein, die sehen | |
| uns.“ Und schon deshalb fühle er sich der Partei zugehörig. „Dabei müssen | |
| die sich doch was gedacht haben, oder?“, fragt er, bevor er seine Zigarette | |
| wegschnipst und wieder in den Späti verschwindet. | |
| Harun Aydin und Feroz Khan begründen ihre AfD-Nähe mit einem Gefühl der | |
| Heimatverbundenheit und Zugehörigkeit. Die Forschung hingegen, wie die von | |
| Özgür Özvatan, sieht strukturelle Barrieren und systematische | |
| Benachteiligung als Grund. Was auch immer der Grund sein mag: Die AfD hat | |
| Khans und Aydins Stimmen im Februar sicher. | |
| 6 Feb 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://mediendienst-integration.de/artikel/wie-waehlen-menschen-mit-einwan… | |
| [2] /Vermoegensungleichheit-und-Bundestagswahl/!6063641 | |
| [3] https://www.dezim-institut.de/aktuelles/wie-waehlen-menschen-mit-migrations… | |
| [4] /Soziologe-ueber-Deutschtuerken/!5934760 | |
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