# taz.de -- Soziologe über Deutschtürken: „Erdoğans Fans nicht überschät… | |
> Erdoğans Anhänger in Deutschland sind zwar laut, aber eine Minderheit, | |
> sagt der Soziologe Özgur Özvatan. Er warnt vor pauschaler Verurteilung. | |
Bild: Freude auf dem Ku'damm über den Wahlsieg Erdoğans | |
taz: Herr Özvatan, warum haben [1][mehr als zwei Drittel der Deutschtürken | |
Erdoğan] gewählt? | |
Özgur Özvatan: Das stimmt so nicht. Es gibt ungefähr drei Millionen | |
Türkeistämmige. Etwa 1,5 Millionen waren wahlberechtigt, etwa 730.000 haben | |
abgestimmt und davon etwa 470.000 für Erdoğan. Das sind viele Menschen, | |
aber weit entfernt von zwei Dritteln. | |
Trotzdem – warum haben so viele für Erdoğan gestimmt? | |
Erdoğan ist in den letzten zehn Jahren [2][immer wieder in Deutschland | |
gewesen]. Er hat, was die Aufmerksamkeitsökonomie angeht, gut gearbeitet. | |
Und er hat den Menschen hier das Gefühl gegeben, dass sie zählen, dass er, | |
die Führungskraft, sich für sie einsetzt. Er hat gesagt, er würde die | |
Deutschtürken vor Assimilationsdruck schützen. Damit hat er gepunktet. Die | |
Opposition war hingegen hier kaum öffentlichkeitswirksam präsent. | |
Hängen das Gefühl, in Deutschland ausgegrenzt zu sein, und Sympathien für | |
Erdoğan zu haben zusammen? Gibt es Belege? | |
Wir haben keine direkten Daten dafür, dass Rassismuserfahrung in | |
Deutschland Erdoğan in die Hände spielt. Aber Rassismuserfahrungen werden | |
politisch ausgeschlachtet, wenn Präsident Erdoğan über Islamophobie im | |
Westen spricht. Es gibt auch keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen | |
geringerer Verbundenheit mit Deutschland und der Wahlentscheidung. Also – | |
nein. | |
Erdoğan hat eine Autokratie begründet, die Pressefreiheit abgeschafft, die | |
Justiz zu seinem Instrument gemacht. Warum ist das so vielen egal? | |
Erdoğan kommt auch im Gewand des Antikolonialen daher. Er erweckt den | |
Eindruck, die Türkei von den Fesseln des Westens zu befreien und endlich | |
auf Augenhöhe zum Westen zu sprechen. Er spielt in der internationalen | |
Politik eine relevante Rolle, etwa als Vermittler zwischen Russland und der | |
Ukraine. Dafür sind einige Diasporatürken, die Diskriminierungserfahrungen | |
erlebt haben, empfänglich. Es erzeugt das Gefühl, endlich ernst genommen zu | |
werden. Seine identitätspolitisch reaktionäre Außenpolitik spricht | |
gleichzeitig Wähler in der Türkei und in der Diaspora an. | |
Sind Erdoğan-WählerInnen Anhänger des Autoritären – oder übersehen sie d… | |
Repression einfach? | |
Viele halten Illiberalisierung und Repressionen für vorübergehende, | |
notwendige Maßnahmen, um Terrorismus und Unordnung zu beseitigen. Danach | |
werde die Gesellschaft wieder liberaler und offener. Das ist natürlich eine | |
Illusion. Denn die Illiberalisierung der Demokratie unter Erdoğan befindet | |
sich in einer Radikalisierungsspirale. | |
Es gab Autokorsos von Erdoğan-Anhängern. Cem Özdemir hält diese Demos für | |
eine „Absage an unsere pluralistische Demokratie“. Einverstanden? | |
Nein. Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns von lauten Minderheiten | |
beeindrucken zu lassen und Problemlagen größer zu machen, als sie sind. Die | |
Autokorsos intendieren mediale Aufmerksamkeit. Aber ich plädiere dafür, | |
jene Mechanismen zu vermeiden, die laute Minderheiten nutzen, um größer zu | |
erscheinen, als sie sind. Sie profitieren davon, als Giganten wahrgenommen | |
zu werden, die sie nicht sind. Wir sollten lieber mehr über die | |
demokratische Opposition in der Türkei und in Deutschland reden. | |
Glauben Sie, dass scharfe Kritik, wie sie Özdemir formuliert, der | |
Aufklärung nutzt? Oder provoziert dies gerade das Gegenteil: Wir lassen uns | |
doch nicht vorschreiben, wen wir wählen? | |
Diese Kritik am Wahlverhalten verstärkt bei vielen das Gefühl, im deutschen | |
medialen politischen Diskurs nicht vertreten zu sein. Und Minister Özdemir | |
gilt für viele leider als jemand, der gehört werde, weil er den Deutschen | |
nach dem Mund rede. Klüger, als nur verurteilend über die Erdoğan-Anhänger | |
zu reden, wäre, die Motivlagen unter dem Gesichtspunkt transnationaler | |
Lebensrealitäten zu bewerten. Mit Blick auf die Türkei unter Erdoğan lässt | |
sich die reaktionäre Identitätspolitik sachlich und weniger | |
pauschalisierend kritisieren. | |
Olaf Scholz hat Erdoğan gratuliert und sofort eingeladen. Ist das die | |
richtige Botschaft? | |
Deutschland zählt zu den wichtigsten Handelspartnern der Türkei, und die | |
Türkei ist mit Blick auf Migrationsabkommen bisher eine wichtige Partnerin. | |
Das ist die realpolitische Konstellation. Unter hiesigen Erdoğan-Wählern | |
kann es zudem als Heuchelei empfunden werden, wenn sie hier medial scharf | |
verurteilt werden und im gleichen Atemzug Kanzler Scholz Erdoğan nach | |
Berlin einlädt. Für viele Oppositionelle kann die Einladung wie ein Schlag | |
ins Gesicht wirken. | |
30 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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