# taz.de -- Türkische Präsidentschaftswahl: Landesvater der Abgehängten | |
> Erdoğans Sieg betont die tiefe Gespaltenheit in der Türkei: In | |
> Großstädten und wirtschaftlich starken Gebieten lag die Opposition vorne. | |
Bild: Kuss für den „Reis“: Ein Erdoğan-Anhänger feiert in Ankara den Wah… | |
Istanbul taz | Die Autokorsos in der Nacht ihres Sieges nahmen kein Ende. | |
Bis 3 Uhr morgens dröhnten immer wieder Autos mit fahnenschwenkenden jungen | |
Männern und lauter Musik mit dem immer gleichen Erdoğan-Ergebenheitssong | |
durch das Viertel. Das war nicht nur Freude über einen Wahlsieg, sondern | |
eine Kampfansage an die Verlierer. Gezielt suchten sich die | |
Erdoğan-Anhänger in Istanbul, wo die Opposition die Mehrheit der Stimmen | |
erhielt, solche Viertel heraus, die gegen den alten und neuen Präsidenten | |
gestimmt hatten. | |
Entlang dem Bosporus und auf der Bağdat Caddesi, der Hauptstraße durch die | |
CHP-Hochburg Kadiköy auf der asiatischen Seite der Stadt, paradierten diese | |
Erdoğan-Ultras. Und es blieb nicht bei den Autokorsos. Schüsse hallten | |
durch die Nacht, wenn auch nur in die Luft, hatten sie doch eine klare | |
Botschaft: Wir haben die Macht und die Waffen. | |
Kurz zuvor hatte Recep Tayyip Erdoğan, den die meisten seiner Anhänger | |
mittlerweile nur noch „Reis“, den Führer, nennen, eine seiner berüchtigten | |
Balkonreden zu seinem Wahlvolk gehalten. Dieses Mal nicht mehr wie sonst | |
vom Balkon seiner Parteizentrale in Ankara, sondern vor dem | |
Präsidentenpalast auf einem Hügel vor der Hauptstadt. Das Schema seiner | |
Rede entsprach den Balkonreden vorangegangener Wahlen. Zu Beginn gab er den | |
Landesvater, behauptete, sein Sieg sei ein Gewinn für alle TürkInnen, um | |
dann wie im Wahlkampf die Opposition als „von Terroristen gesteuert“ zu | |
denunzieren und deren Toleranz für Mitglieder der LGBTIQ-Community als | |
einen Anschlag auf die Familie zu bezeichnen. | |
Erdoğan wird das Land weitere fünf Jahre allein regieren, er hat es im 100. | |
Jahr des Bestehens der Türkischen Republik noch ein weiteres Mal geschafft, | |
sich durchzusetzen. Nach offiziellen Angaben des von ihm kontrollierten | |
Wahlrates hat er 52,14 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen, sein | |
Herausforderer [1][Kemal Kılıçdaroğlu] 47,86 Prozent. | |
## Pyrrhussieg | |
Das genügt als Vorsprung, um eine erneute Debatte über Wahlfälschungen | |
nicht noch einmal aufkommen zu lassen, doch die nackten Zahlen sagen erst | |
einmal wenig darüber aus, was dieser Wahlsieg wert ist. Ein Blick auf die | |
politische Landkarte zeigt, dass Erdoğan lediglich einen Pyrrhussieg | |
eingefahren haben könnte, wie die oppositionelle Zeitung Birgün am Montag | |
titelte. | |
Die Spaltung des Landes hat sich nach dem ersten Wahlgang am 14. Mai noch | |
einmal vertieft. Die Opposition hat die gesamte Mittelmeer- und Ägäisküste | |
plus die gesamte europäische Türkei gewonnen, dazu aber auch den gesamten | |
Südosten und Osten entlang den Grenzen zum Iran und zu Georgien. Das sind | |
einmal alle Provinzen, in denen die Kurden einen relevanten Anteil an der | |
Bevölkerung stellen, und dann alle Provinzen, die eher nach Westen | |
ausgerichtet sind. Wichtiger aber noch, Erdoğan kann in den urbanen | |
Ballungsgebieten nicht mehr Punkten. Kılıçdaroğlus Vorsprung in den drei | |
größten Städten des Landes, Istanbul, Ankara und Izmir, ist im zweiten | |
Wahlgang noch gewachsen. Mit den Provinzen Ankara und Eskişehir hat die | |
Opposition auch die wirtschaftlich wichtigsten Provinzen in der Landesmitte | |
gewonnen. Der Rest des Landes gehört zwar Erdoğan, aber das ist der eher | |
„abgehängte“ Teil der Türkei. | |
Dazu passt die Koalition der Parteien, die Erdoğan künftig im Parlament | |
unterstützt. Neben seiner AKP, die mit ihren 35 Prozent bei den | |
Parlamentswahlen am 14. Mai auch längst nicht mehr die früheren Werte von | |
über 40 Prozent erreichte, sind das die rechtsradikale MHP, mit der er | |
schon in den letzten Jahren regiert hat, plus zwei neue islamistische | |
Kleinparteien, die kurdische Hüda Par und die Yeniden Refah Partisi, die | |
vom Sohn des früheren türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan | |
gegründet wurde. Beide Parteien sind explizit frauenfeindlich und haben mit | |
ihren an die afghanischen Taliban erinnernden Forderungen nach einer | |
„traditionellen“ Familienpolitik selbst etliche Frauen innerhalb der AKP | |
sehr verstört. | |
So ist es kein Wunder, dass die Taliban in der Wahlnacht mit zu den ersten | |
Gratulanten Erdoğans gehörten und ihrer Hoffnung auf weitere gute | |
Zusammenarbeit Ausdruck gaben. Und dass die nächsten Gratulanten dann | |
Wladimir Putin und Viktor Orbán waren – alle noch bevor die Wahl überhaupt | |
ausgezählt war. Als Allererstes aber hatte Erdoğan den Scheich aus Katar, | |
Tamim bin Hamad Al Thani in der Leitung. Als wichtigster Finanzier Erdoğans | |
freute sich der Scheich ganz besonders, dass sich seine Investitionen in | |
den türkischen Präsidenten gelohnt haben. Der Rest der weltweiten | |
Investoren und Bankmanager ist da nicht so erfreut über Erdoğans Wahlsieg. | |
Gingen die Aktien türkischer Banken schon nach dem ersten Wahldurchgang in | |
den Keller, erreicht die türkische Lira am Montagmorgen einen historischen | |
Tiefstand. Für einen Dollar muss man in der Türkei jetzt 20,06 Lira zahlen, | |
der Euro steigt in Richtung 22 Lira. | |
Erdoğans Antwort auf die Wirtschaftskrise deutete er auch in der Wahlnacht | |
noch an: mehr vom Gleichen. Die Bauwirtschaft war schon immer Erdoğans | |
Konjunkturmotor und daran will er festhalten. Neben dem Wiederaufbau in den | |
[2][Erdbebengebieten], der ja in großen Teilen aus dem Ausland finanziert | |
werden soll, brachte er auch sein Lieblingsprojekt „Kanal Istanbul“, den | |
„zweiten Bosporus“ vom Schwarzen Meer zum Marmarameer wieder zur Sprache. | |
Dieses gigantische Bauprojekt, das aus Katar teilweise vorfinanziert wurde, | |
könnte nun tatsächlich in Gang kommen. Erdoğan setzt dabei auf Geldgeber | |
vom Golf, aus Russland und China. Mit der EU rechnet er dagegen eher nicht. | |
Leuten, die glauben, er würde nun wieder auf die EU zugehen, erklärte er | |
noch in der Wahlnacht, die Freilassung von Gefangenen, die der Europäische | |
Gerichtshof für Menschenrechte seit Langem fordert, komme nicht in Frage. | |
Der ehemalige HDP Vorsitzende Selahattin Demirtaş und der Kulturförderer | |
[3][Osman Kavala] bleiben in Haft. | |
Bei den Verlierern macht sich jetzt erst einmal die große Depression breit. | |
Die Oppositionsallianz wird wohl nicht halten und in der CHP, der größten | |
Partei der Opposition, wird es jetzt erst einmal darum gehen, ob | |
Kılıçdaroğlu den Vorsitz abgeben muss. Dramatischer sind die Reaktionen bei | |
vielen jungen Leuten, die nach der Wahlniederlage alle Hoffnungen | |
aufgegeben haben, dass es in der Türkei in absehbarer Zeit besser werden | |
könnte. „Nur weg von hier“ ist das am weitesten verbreitete Motto. | |
29 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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