# taz.de -- Mentale Gesundheit und Zwangsräumungen: Die Krisen-Maschine | |
> Jährlich werden über 1.000 Menschen in Berlin zwangsgeräumt. Oft ein | |
> vermeidbares Schicksal, wären Bürokratie und Markt nicht so unerbittlich. | |
Bild: Nach der Zwangsräumung droht die Wohnungslosigkeit: Sascha Kohling in ih… | |
BERLIN taz | Bis zum Auszug sind es noch mehrere Wochen, doch in Sascha | |
Kohlings Dachgeschosswohnung stehen bis auf ein paar Pflanzen kaum noch | |
Einrichtungsgegenstände. Das, was von Kohlings altem Leben übrig ist, steht | |
aufeinander gestapelt in Kartons im Hausflur. An der Wand hängt ein | |
Flipchart, vollgeschrieben mit Aufgaben, die vor der anstehenden | |
Zwangsräumung noch zu erledigen sind. Derzeit versuche sie, beim Jobcenter | |
eine Übernahme der Kosten für Umzug und Lagerung zu beantragen, ansonsten | |
würde sie all ihre Habe verlieren. | |
„Die Situation erfordert Funktionalität, die ich eigentlich nicht habe.“ | |
Trotz der drohenden Zwangsräumung wirkt die 43-Jährige gefasst. Der Schein | |
trügt, sagt Kohling, die eigentlich anders heißt. Schon ein Brief vom Amt, | |
eine Absage von Trägern, bei denen sie gerade versucht eine neue Bleibe zu | |
finden, könne sie schon zurückwerfen in einen Zustand, in dem sie kaum in | |
der Lage ist, das Haus zu verlassen, Briefe zu öffnen oder mit Menschen zu | |
reden. Das war in den vergangenen Monaten oft der Fall. Allein die Kraft | |
für das Pressegespräch zu sammeln hätte schon Wochen gedauert. „Ich war mir | |
nicht sicher, ob ich über all den Scheiß reden kann.“ | |
Kohling ist eine der jährlich über 1.000 Menschen, die in Berlin | |
zwangsgeräumt werden. Allein 2021 waren es 1.668. Häufig trifft es | |
Personen, die sich [1][ohnehin schon in einer Krise] befinden. Die | |
Zwangsräumung steht am Ende eines unerbittlichen Teufelskreises aus | |
psychischen Problemen, überfordernder Bürokratie und Verwertungsinteressen | |
der Vermieter:innen. Für die Betroffenen droht auf dem leer gefegten Markt | |
die Wohnungslosigkeit. | |
## Am System gescheitert | |
Wie so oft, war es auch bei Kohling eine Verkettung persönlicher | |
Rückschläge, die in die Krise führten. Inmitten der Coronapandemie | |
erkrankte ihre Mutter unheilbar an Krebs. Ihr neuer Arbeitgeber, bei dem | |
sie erst vor Kurzem als IT-Technikerin begonnen hatte, wollte Kohling nicht | |
freistellen, als die Mutter im Sterben lag. Es folgte die Kündigung. | |
„Emotional war das ein Katastrophe“, erinnert sie sich. | |
Danach ist Kohling nicht in der Lage, weiter zu arbeiten. Um das Arbeitsamt | |
zu besänftigen, dass ihr als gut qualifizierte Fachkraft ein Stellenangebot | |
nach dem anderen schickte, beschloss sie, eine Weiterbildung zu machen. | |
Dort kam es zum Konflikt mit einem Teilnehmer, der sich immer wieder | |
übergriffig verhält, bis hin zur persönlichen Bedrohung. | |
Der Vorgang löst alte Traumata aus. Kohling reagiert panisch, bricht die | |
Maßnahme ab, zieht vorübergehend zu einer Freundin, weil sie sich zu Hause | |
nicht mehr sicher fühlt. Unterdessen stellt das Arbeitsamt die Zahlungen | |
ein; trotz mehrfacher Beschwerden sei die Maßnahme „zumutbar“ gewesen. Die | |
Briefe vom Amt kann sie nicht mehr öffnen. „Ich hab das zu dem Zeitpunkt | |
nicht mehr hingekriegt, die sind alle auf dem Stapel gelandet.“ Auch die | |
Krankenkassenbeiträge werden nicht mehr gezahlt, die Schulden häufen sich. | |
„Irgendwann stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür.“ Mit Hilfe einer | |
Freundin konnte sie einen Bürgergeldantrag stellen und zumindest drohende | |
Mietschulden abwenden. | |
Doch ihr psychischer Zustand verbesserte sich nicht. Der Umgang mit den | |
Behörden, das Begleichen der Schulden, all das kostet schon genug Kraft. | |
Anspruch auf einen Therapieplatz oder eine geeignete Behandlung hatte sie | |
nicht – die Krankenkasse hatte die Leistungen eingestellt. „Ich habe in dem | |
Moment nach einer psychischen Stabilisierung gesucht, aber ich bin am | |
System gescheitert.“ | |
## Wem nicht geholfen wird, ist selber Schuld | |
Kohling erzählt ihre Geschichte ruhig, fast schon distanziert. Nicht wie | |
jemand, der anklagen oder Mitleid erregen will. Sondern eher wie jemand, | |
die selber versucht zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Und sich | |
selbst immer wieder hinterfragt, ob sie nicht hätte mehr tun können, um das | |
alles zu verhindern. | |
Dass sich Menschen in solchen Situationen selbst Vorwürfe machen, ist für | |
Hafsah Salehi von der [2][Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener] | |
nicht verwunderlich. Der Verein organisiert abseits der psychiatrischen | |
Institutionen Hilfe für Menschen in Krisen. Die Erzählung vom starken | |
Sozialstaat, in dem jeder, der will, Hilfe bekommen kann, sei in | |
Deutschland sehr stark verankert. „Schnell heißt es, wenn du dir keine | |
Hilfe suchst, bist du selber schuld“, sagt Salehi. | |
Gerade in den Behörden ist diese Einstellung fest etabliert. Sie fordern | |
ständige Bereitschaft zur Kommunikation, für jeden Antrag müssen umfassende | |
Nachweise eingereicht werden, die in den seltensten Fällen beim ersten Mal | |
vollständig sind, ansonsten drohen Sanktionen. Statt einer schnellen | |
Integration in den Arbeitsmarkt bewirken der Druck vom Amt und die damit | |
immer realer werdende Gefahr des Existenzverlusts oft das genaue Gegenteil. | |
„Das verstärkt in alle Richtungen, was immer auch vorhanden war“, sagt | |
Salehi. | |
Ohne geeignete Hilfe wiederholte sich die Geschichte ein weiteres Mal. Im | |
September 2022 gerät Kohling in ihre bislang schwerste Krise, monatelang | |
zog sie sich in die eigene Wohnung zurück, hatte Angst, vor die Tür zu | |
gehen, mit Freund:innen hatte sie kaum noch Kontakt. Auch die Briefe vom | |
Jobcenter, die das Auslaufen ihres Bürgergelds ankündigten, blieben | |
ungelesen. Die Mietzahlungen werden nicht beglichen, Schulden häufen sich | |
an. Diesmal folgte eine Räumungsklage mitsamt Abwesenheitsurteil. | |
## Existenzzerstörende Dynamik | |
Als Kohling im März vor der Tür einer Freundin auftauchte und um Hilfe bat, | |
war es schon zu spät. Das Jobcenter sagte zwar zu, die Mietschulden zu | |
übernehmen, doch der Vermieter lehnte ab. „Die haben kein Interesse daran, | |
dass ich weiter hier bleibe“, sagt Kohling, „Ich wohne seit 15 Jahren hier, | |
die können die Wohnung für sehr viel mehr weitervermieten.“ | |
Heute liegen die Briefe der Behörden sauber abgeheftet auf dem Küchentisch. | |
Sie zeichnen die Chronologie einer Krise, die vielleicht vermeidbar gewesen | |
wäre, hätten die Beamt:innen darauf Rücksicht genommen, in welcher | |
Ausnahmesituation sich Kohling befindet. Zwar gibt es in vielen Jobcentern | |
in Berlin mittlerweile Kooperationen mit Psycholog:innen und | |
Sozialarbeiter:innen, doch Menschen, die diese Angebote nicht vor Ort | |
aufsuchen können, fallen weiterhin durch das Raster. „Ämter sind oft gar | |
nicht in der Lage, mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen zu | |
kommunizieren“, weiß auch René Jacubowsky zu berichten, der beim Bündnis | |
Zwangsräumungen viele vergleichbare Fälle betreut hat. | |
In Kohlings Fall hätte ein [3][noch vom rot-grün-roten Senat geplantes | |
Pilotprojekt] helfen können, indem die Zustellung der Räumungsklagen | |
persönlich durch Justizbedienstete und Sozialarbeiter:innen erfolgen | |
soll. Damit soll verhindert werden, dass Räumungsklagen wie in Kohlings | |
Fall ungeöffnet untergehen. Doch auch das Pilotprojekt wäre nur ein Tropfen | |
auf dem heißen Stein. | |
## Ein Fehler genügt | |
Warum ansonsten nur vorübergehende psychische Krisen eine derart | |
existenzzerstörende Dynamik entwickeln? Der Grund dafür liegt in der kaum | |
regulierten kapitalistischen Verwertung von Wohnraum. Eigentümer:innen | |
nutzen Zwangsräumungen als willkommene Gelegenheit, um Altmieter:innen | |
zu verdrängen. Zwei ausbleibende Monatsmieten reichen aus, damit eine | |
Kündigung rechtmäßig ist. | |
[4][„Das Problem ist der fehlende Kündigungsschutz“], sagt Katrin | |
Schmidberger, mietenpolitische Sprecherin der Grünen. Räumungsklagen | |
offenbaren ein massives Machtungleichgewicht zugunsten der | |
Eigentümer:innen: „Du machst einen Fehler und dann bist du draußen.“ | |
Notwendig wäre eine Gesetzesänderung des Mietrechts auf Bundesebene, die | |
länger Nachzahlungen der Mietschulden zulässt. Doch ob und wann die kommt, | |
ist unklar. | |
Für Kohling kämen diese politischen Maßnahmen ohnehin zu spät. Nach einer | |
Einigung mit dem Vermieter konnte die Zwangsräumung bis Ende des Monats | |
aufgeschoben werden. Doch Kohling steht ohne Bleibe da, die Chancen, eine | |
eigene Wohnung zu finden, sind aufgrund des Schufa-Eintrags verschwindend | |
gering. Was ihr bleibt, ist, sich für [5][Notunterkünfte für Obdachlose] zu | |
bewerben. | |
21 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Polizeieinsatz-in-Berlin-Spandau/!5951431 | |
[2] https://bopp-ev.de/ | |
[3] /Gentrifizierung-in-Berlin/!5941725 | |
[4] /Brief-an-Justizminister-Buschmann/!5884563 | |
[5] /Kolumne-Poebelmanie/!5896799 | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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