# taz.de -- Menschenrechte in der Lieferkette: Den Firmen ausgeliefert | |
> Im April 2023 wurde die erste Beschwerde nach dem viel diskutierten | |
> Lieferkettengesetz eingereicht. Was ist daraus geworden? | |
Bild: Näherinnen demonstrieren Anfang 2024 in Dhaka, Bangladesch, gegen ihre E… | |
taz | Berlin Firmen sollen ihre Gewinne nicht auf Kosten von | |
Umweltzerstörung oder Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferkette | |
erwirtschaften. Dass es auf den Plantagen und in den Nähfabriken korrekt | |
zugeht, dafür soll ein Regelwerk namens | |
Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sorgen. | |
Die Idee ist, dass Unternehmen ihre Lieferketten kennen und auf Beschwerden | |
auch reagieren müssen. Es soll auch dazu führen, dass der Dialog mit | |
Gewerkschaften, Interessengruppen und Zulieferern gestärkt wird, dass | |
Einkaufspraktiken angepasst werden, damit Löhne und Preise bezahlt werden, | |
von denen Näherinnen oder Bauern auch leben können. Die Befürchtung von | |
NGOs ist aber, dass das Gesetz zwar einen Katalog an Verpflichtungen mit | |
staatlichem Stempel darauf produziert, aber de facto nichts passiert – weil | |
Unternehmen sich weiter selbst kontrollieren. | |
Wie die Vorgaben umgesetzt werden, hängt maßgeblich an einer Behörde im | |
sächsischen Borna. Die Abteilung 7 des Bundesamts für Ausfuhrkontrolle, | |
kurz Bafa, ist zuständig für die Kontrolle des Lieferkettengesetzes. Seit | |
Januar 2023 gilt das Gesetz. Seitdem arbeiten die rund 100 | |
Mitarbeiter*innen an der Umsetzung. | |
## Gesetz in den Mühlen der Haushaltsverhandlungen | |
Zuletzt geriet das Gesetz zwischen die Mühlen der Haushaltsverhandlungen | |
innerhalb der Ampelkoalition. Obwohl es viele in seiner Partei ganz anders | |
sehen, erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das | |
Lieferkettengesetz zur Verhandlungsmasse. Um sein „Wachstumspaket“ gegen | |
den Widerstand der FDP durchzusetzen, nahm er [1][Einschränkungen beim | |
Lieferkettengesetz] in Kauf, das der FDP ohnehin ein Dorn im Auge ist. | |
Jetzt gilt das Gesetz für weniger als 2.000 der rund 3,4 Millionen | |
deutschen Unternehmen. | |
Dass es überhaupt verbindliche Sorgfaltspflichten gibt liegt auch an | |
[2][Rana Plaza]. Als das Fabrikgebäude in Dhaka, Bangladesch, im April 2013 | |
einstürzte, wurden für viele die katastrophalen Arbeitsbedingungen entlang | |
der Lieferkette deutlich. Über 1.000 Menschen kamen ums Leben und viele | |
mehr wurden schwer verletzt – auf Grund erheblicher Sicherheitsmängel in | |
dem Gebäude. Zum ersten Mal weltweit waren Unternehmen dazu bereit, eine | |
verbindliche Vereinbarung zu unterzeichnen, um für die Sicherheit der | |
Arbeitenden zu sorgen: der [3][Bangladesh Accord]. Rana Plaza war auch der | |
Anstoß für das deutsche und europäische Lieferkettengesetz. | |
Zehn Jahre nach Rana Plaza und ein paar Monate nach Inkrafttreten des | |
Lieferkettengesetzes in Deutschland reichten im April 2023 zwei NGOs und | |
eine Gewerkschaft die [4][erste öffentlich bekannte Beschwerde beim Bafa] | |
ein: die Menschenrechtsorganisationen Femnet und das Europäische Zentrum | |
für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR), zusammen mit der Nationalen | |
Bekleidungsgewerkschaft in Bangladesch, NGWF. Sie glauben, dass Ikea und | |
Amazon gegen das Lieferkettengesetz verstoßen, weil sie bis heute den | |
Bangladesh Accord nicht unterzeichnet haben. | |
Der Bangladesh Accord verpflichtete Unternehmen zunächst, für | |
Gebäudesicherheit zu sorgen. Später ging es auch um die weitere Sicherheit | |
der Arbeitnehmer*innen, zum Beispiel für gewerkschaftliche Vertretung und | |
Mutterschutz oder gegen Gewalt am Arbeitsplatz. Mittlerweile wurde der | |
Vertrag [5][durch den International Accord ersetzt], der weltweit | |
ausgeweitet werden soll. Besonders ist, dass Unternehmen, NGOs und | |
Gewerkschaften gemeinsam im Vorstand des Accords sitzen. Unter Leitung der | |
Gewerkschaften wurde eine branchenweite Beschwerdestelle eingerichtet, die | |
unabhängige Überprüfungen vor Ort durchführt. | |
## „Unterzeichnung des Accords sollte als geeignete präventive Maßnahme | |
gelten“ | |
Die beschwerdeführenden Organisationen argumentieren, dass der Accord | |
nachweislich zu Verbesserungen der Menschenrechtssituation von | |
Arbeitnehmer*innen im Textilsektor geführt habe und daher als | |
geeignete präventive Maßnahme von Textilunternehmen gelten sollte. „Der | |
Accord ist einer der ganz wenigen Fälle, bei dem ein breiter Konsens | |
besteht, dass er die beste Maßnahme ist, um das Thema Sicherheit in | |
Fabriken zu adressieren“, sagt Sina Marx von Femnet. Wenn sich Unternehmen | |
dagegen entscheiden daran mitzuarbeiten, weil es teuer ist, dann ist das | |
eine unterlassene Sorgfaltspflicht. | |
Ikea antwortet: „Wir glauben, dass unsere eigenen Systeme, die auf | |
jahrzehntelanger Erfahrung und Zusammenarbeit mit Tausenden von Lieferanten | |
auf der ganzen Welt basieren, es uns am besten ermöglichen, die Bedingungen | |
im Produktionssektor und darüber hinaus weiter zu verbessern und zu | |
stärken“. Das Unternehmen bevorzugt, „unabhängig von der internationalen | |
Vereinbarung“ zu sein. | |
Auch Amazon schreibt, es habe eigene Standards mit Lieferanten. Globale | |
Teams würden regelmäßig die Bewertungen für Gebäude-, Elektro- und | |
Brandsicherheit „für strategische Zulieferer“ überprüfen. | |
Im Mai ist Amazon dem Beschwerdesystem LABS (Life and Building Safety) | |
beigetreten, das Aktionspläne für Sicherheit erarbeitet, sowie ein | |
Beschwerdesystem anbietet. Allerdings ist sie für Amazon noch nicht in | |
Bangladesch tätig, schreibt die Organisation. Zudem sind im LABS nur | |
Unternehmen vertreten, Gewerkschaften sitzen nicht mit am Tisch. | |
## Sicherheitsmängel und Arbeitsrechtsverletzungen in Fabriken | |
Um eine Beschwerde einzureichen, müssen Beschwerdeführende konkrete Mängel | |
benennen. Dafür hat das NGWF Missstände in Zulieferbetrieben der beiden | |
Unternehmen zusammengetragen. Die Gewerkschaft fand Sicherheitsmängel wie | |
fehlende Inspektionen und Arbeitsrechtsverletzungen, wie mangelnde | |
Gewerkschaftsfreiheit. | |
In einer ersten Anhörung hat das Bafa mit Femnet als Vertretung von NGWF | |
gesprochen. Danach hat das Amt die Beschwerden angenommen und ein | |
Prüfverfahren eingeleitet. Das Bafa erklärt, dass es „keine Auskünfte über | |
seine Kontroll- und Prüfprozesse oder zu etwaigen Beschwerden gegen | |
einzelne Unternehmen geben kann“. Klar ist nur so viel: Das Verfahren ist | |
nach 16 Monaten noch nicht abgeschlossen, sonst wären die | |
Beschwerdeführenden darüber informiert worden. | |
Das Bafa kann sich nicht öffentlich zu laufenden Prüfverfahren äußern. Aber | |
auch die NGOs kritisieren, dass sie keine offiziellen Informationen von der | |
Behörde erhalten. Das Bafa habe bislang die Gewerkschaft NGWF in Vertretung | |
durch Femnet auch nach Anfrage nicht als Beteiligte an dem weiteren | |
Verfahren anerkannt, sagt Annabel Brüggemann von ECCHR. „Falls es hierbei | |
bleibt, würden den Betroffenen zentrale Informations- und Beteiligtenrechte | |
abgeschnitten“, erklärt die Juristin. Das würde die Bedeutung des | |
behördlichen Verfahrens „als zentrales Rechtsschutzinstrument des | |
Lieferkettengesetzes“ massiv schwächen. | |
Das Verfahren beim Bafa ist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt. | |
Darin steht, dass Antragstellende grundsätzlich Akteneinsicht haben. | |
Allerdings nicht, wenn „die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben der | |
Behörde beeinträchtigt“ würde. Bislang haben die NGOs keine Akteneinsicht. | |
## Ikea: Vorwürfe wurden durch Audits „nicht bestätigt“ | |
Amazon will sich auf Anfrage nicht zu den konkreten Beschwerdefällen | |
äußern. Ikea schreibt, es habe mit dem Bafa „zusammengearbeitet“, um die | |
Vorwürfe zu untersuchen. Unangekündigte Audits vor Ort in Bangladesch | |
hätten konkrete Vorwürfe „nicht bestätigt“. | |
Problematisch findet Brüggemann, dass weder die örtliche Gewerkschaft NGWF | |
von Ikea in ihre Überprüfung einbezogen wurde noch die Methode oder die | |
Ergebnisse mit den Beschwerdeführenden und Betroffenen geteilt wurden. So | |
sei „keine kritische Gegenprüfung“ möglich, ob sich Missstände in der | |
Zwischenzeit verbessert hätten. | |
Auch Amirul Haque Amin, Präsident der NGWF, sagt, weder das Bafa, noch Ikea | |
und Amazon hätten sich mit der Gewerkschaft zu den Anschuldigungen in | |
Verbindung gesetzt. Von Gesprächen mit Arbeitervertretungen in den | |
Betrieben habe er nichts erfahren. Sina Marx erklärt, dass ein | |
Mitbestimmungsausschuss der Arbeitnehmer*innen häufig nicht den | |
Ansprüchen an eine ordentliche Vertretung genüge. Sie sagt: „Wozu haben wir | |
gesetzliche Sorgfaltspflichten erstritten, wenn am Ende eine freiwillige | |
Selbstkontrolle dabei herauskommt?“, fragt sie. | |
Mitglieder von Femnet waren im November 2023 und Januar 2024 vor Ort in | |
Bangladesch und berichten, dass sich die Situation seit Inkraftreten des | |
Lieferkettengesetzes in den Fabriken nicht geändert habe. So erzählt es | |
auch Amin. Eigentlich habe er gehofft, dass die Beziehungen zu | |
Gewerkschaften gestärkt würden. | |
Derzeit setzt Amin sich dafür ein, dass Gerichtsverfahren gegen 20.000 | |
protestierende Textilarbeiter*innen zurückgezogen werden, die teils | |
von den Fabrikbesitzern selbst angestrebt wurden. „Diese Verfahren | |
behindern die Organisierung von Betriebsgewerkschaften und legitimen | |
Protesten“, sagt Amin. „Wir versuchen Druck auf die Regierung, die | |
Fabrikbesitzer und die Markenhersteller zu machen, damit die Verfahren | |
zurückgezogen werden.“ | |
## Schwerer Stand für Gewerkschaften | |
Ein weiteres Problem: Viele Unternehmen haben den erhöhten Mindestlohn – | |
der noch weit unter den Forderungen der Gewerkschaften lag – unterstützt. | |
Bezahlen dafür wollen sie aber nicht. Laut dem Verband der | |
bangladeschischen Textil Manufakturen und Exporteure (BGMEA) haben nur 20 | |
Prozent angegeben, dass ihre Abnehmer die Einkaufspreise erhöht haben. Nur | |
drei Prozent der Firmen haben fünf Prozent höhere Einkaufspreise bezahlt, | |
ergab eine Umfrage des Branchenverbands. | |
Im Kern geht es bei der Beschwerde beim Bafa also um die Stellung, die | |
Gewerkschaften und Zivilgesellschaft in der Durchsetzung der | |
Sorgfaltspflichten beim Lieferkettengesetz haben. Inwiefern sind sie bei | |
der Definition von Missständen und vor allem: bei der Beseitigung selbiger | |
beteiligt? | |
Auch der Bangladesh Accord hat nicht alle Probleme abgestellt, zumal er | |
bislang nicht für die Zahlung existenzsichernder Löhne ausgelegt ist. Und | |
nur ein Bruchteil der Textilarbeiter*innen sind in Gewerkschaften, | |
weil das weiterhin mit einem hohen Risiko verbunden ist. Aber beim Accord | |
sitzen alle an einem Tisch, es gibt unabhängige Beschwerdestellen und | |
Kontrollen – und die Unternehmen zahlen dafür. | |
Zu Beginn habe das Lieferkettengesetz auch positive Signalwirkung gezeigt, | |
sagte Brüggemann: „Wir haben gesehen, dass nach Inkrafttreten des Gesetzes | |
manche Unternehmen erstmals bereit waren mit Gewerkschaften zu sprechen“. | |
Bislang ist – auch eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten des | |
Lieferkettengesetzes – also nicht klar, wie weit das Bafa in seinen | |
Forderungen an die Unternehmen geht. Es ist unklar, welche Informationen es | |
von den Unternehmen erhält, und welche Kapazitäten es überhaupt hat, diese | |
Informationen hernach zu überprüfen. | |
Femnet, ECCHR und NGWF hoffen nun auf mehr Transparenz im Prüfverfahren. | |
Und sie hoffen ganz konkret auf eine Entscheidung ihrer Beschwerde beim | |
Bafa: „Nach über einem Jahr sollten Betroffene grundsätzlich mit einem | |
Ergebnis rechnen können“, findet Brüggemann. | |
2 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Aenderungen-am-Lieferkettengesetz/!6019516 | |
[2] /Bundestag-beschliesst-Lieferkettengesetz/!5774706 | |
[3] https://bangladeshaccord.org | |
[4] /Beschwerde-nach-dem-Lieferkettengesetz/!5927329 | |
[5] /Konzerne-unterstuetzen-TextilarbeiterInnen/!5793106 | |
## AUTOREN | |
Leila van Rinsum | |
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