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# taz.de -- Meisternarrativ zu Migration: Verlockend einfach
> In Deutschland werden gängige Erzählungen zur Migration nicht gern
> infrage gestellt. Ursache dafür ist das wirkmächtige Meisternarrativ.
Bild: Verlockend einfache Botschaften gibt es nicht nur bei der AfD: zerstörte…
Kürzlich war ich in einer Diskussionsrunde zum Thema Migration. Nach der
Debatte erklärte mir einer meiner Mitdiskutanten, dass ich „anmaßend“
gewesen sei. Ich hätte ständig gesagt, dass die anderen Personen nicht
komplex genug argumentierten. Tatsächlich hatte ich das nicht gesagt. Ich
hatte gesagt, dass das Thema Migration viel zu komplex sei, um es anhand
der gängigen Narrative zu besprechen. Ich merkte an dieser Reaktion
allerdings: Es wird nicht gern gesehen, wenn man gängige Erzählungen
infrage stellt.
In der Geisteswissenschaft gibt es einen Begriff für diese herrschenden
Erzählungen: das Meisternarrativ. Seine Macht zeigt sich selten so deutlich
wie nach der Europawahl, in der autoritäre Kräfte in vielen Ländern
gestärkt wurden. Auch in Deutschland. Das Meisternarrativ zeigt sich, wenn
etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese nach der Wahl einen härteren
Kurs bei der Begrenzung der Migration fordert.
Wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder als Ursache für die
[1][hohen AfD-Wahlergebnisse] die Migrationspolitik der Ampel ausmacht.
Wenn der Grünen-Politiker Anton Hofreiter erklärt, dass sich in der
Migrationspolitik „ein ganzer Schwung“ ändern müsse. Wenn eine Journalist…
im ZDF behauptet, dass die Grünen verloren hätten, weil ihnen nicht
zugetraut werde, das „Migrationsthema zu lösen“. All diese Behauptungen
ergeben sich aus dem Meisternarrativ.
Das soll keine Bewertung sein, ob diese Behauptungen richtig oder falsch
sind, sondern nur eine Beobachtung, woraus sie sich speisen. Diese
Meistererzählung, die in Deutschland seit vielen Jahrzehnten herrscht,
lautet: „Ausländer“ sind verantwortlich für strukturelle Probleme in
Deutschland. Folgerichtig lauten die immer gleichen zwei Antworten auf
viele gesellschaftliche und politische Probleme: Begrenzung und Ausweisung.
Kriminalität – Ausländer. Sexualisierte Gewalt – Ausländer. Wohnraummang…
– Ausländer.
## Reflexhafte Schuldzuweisung
Antisemitismus – Ausländer. Fehlende Kitaplätze – Ausländer.
Bildungsnotstand – Ausländer. Diese Liste ließe sich fortführen. Natürlich
wird im politischen und medialen Diskurs unterschieden, um welche
„Ausländer“ es geht, zum Beispiel um geflüchtete, geduldete oder
abschiebungspflichtige. Gleichzeitig ist diese „Differenzierung“
überflüssig, die rassistischen Narrative, die dadurch gefüttert werden,
machen keinen Unterschied. Diese Arten von Denkmuster treffen am Ende alle,
die als „anders“ definiert werden.
Eine weitere wichtige Konsequenz aus einem solchen Diskurs: Jene Probleme,
die eigentlich gelöst werden müssten, bleiben ungelöst. Wie ein Teppich
legt sich das Meisternarrativ auf all diese gesellschaftlichen und
strukturellen Probleme. Ressourcen, politische und mediale, werden dafür
aufgewendet, sich mit den Problemen des Meisternarrativs zu beschäftigen.
Beispiel sexualisierte Gewalt: Die [2][Sozialwissenschaftlerin Monika
Schröttle] beschreibt, dass Femizide in Deutschland noch immer als
„Beziehungstat“ gesehen werden und nicht als strukturelles Problem: „Oft
wird das Problem […] vermeintlich traditionellen Kulturen zugeschoben.
Statistisch bestätigt sich das bei Femiziden in Deutschland nicht. In
vielen anderen Ländern Europas wird die Tötung der Partnerin klar als
geschlechtsspezifische Tat gesehen – während man sie in Deutschland noch
eher als Beziehungstat benennt und bei deutschstämmigen Tätern eher als
individuelles Psychoproblem einstuft.“
Dass diese Kulturalisierung ein Grund dafür sein könnte, dass nachhaltige
Schritte fehlen, um das Problem geschlechtsspezifischer Gewalt anzugehen,
kann man zumindest in Betracht ziehen.
## Einfache Botschaften sitzen
Und so ist es keine Überraschung, dass gerade junge Menschen vermehrt die
AfD wählen. Die Meistererzählung herrscht überall – ob auf Tiktok, in der
Bild oder in der Süddeutschen Zeitung. Natürlich wird sie vereinzelt
infrage gestellt. Aber nicht strukturell. Alternative Erzählungen haben
kaum eine Chance. Schon allein deswegen, weil sie von Hassnachrichten
überlagert werden. Auf junge Menschen drücken die Probleme dieser
Gesellschaft ganz besonders: [3][Wie soll man sich ein WG-Zimmer in der
Universitätsstadt leisten]?
Wie die hohen Lebensmittelkosten bewältigen? Wie den Klimawandel bekämpfen?
Dass viele junge Menschen ebenfalls dem Meisternarrativ glauben, nach dem
Migration das größte Problem sei, ist kein Wunder. Einfache Erzählungen
setzen sich durch. Und Erzählungen schlagen Fakten. Immer. Heißt das, dass
es keine Probleme gäbe, die sich aus Einwanderung ergeben? Natürlich nicht.
Es wäre weitaus effektiver, wenn man diese Probleme ohne rassistische
Narrative besprechen könnte.
Dann wäre es wahrscheinlicher, Lösungen zu finden. Begrenzung und
Ausweisung werden diese Probleme nicht lösen. Im Gegenteil – je mehr das
behauptet wird, umso stärker werden autoritäre Kräfte wie die AfD, die
genau auf dieser Welle reiten. Für viele Politiker:innen erscheint es
allzu verlockend, anhand des Meisternarrativs zu agieren – und das seit
vielen Jahrzehnten.
Schließlich scheint es weitaus einfacher, immer wieder zu erklären, wie man
nun das „Migrationsproblem“ „lösen“ möchte, dabei von der europäisch…
Ebene zu sprechen und eine vage Zukunft in Aussicht zu stellen, in der
alles „besser“ wird – wenn man es endlich schaffe, Migration „einzudäm…
Tatsächlich ist es weitaus schwieriger, sich damit auseinanderzusetzen,
warum es nicht gelingt, für alle Menschen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen,
genügend Lehrer:innen auszubilden, [4][Armut] zu bekämpfen oder sich der
Verbreitung islamistischen Gedankenguts entgegenzustellen.
Und so bedient man sich, ob bewusst oder unbewusst, einer
Verantwortungsverlagerung – und wundert sich, warum viele Menschen
rassistischen und menschenfeindlichen Narrativen Glauben schenken. Es mag
„anmaßend“ sein, solche Dinge zu sagen. Diese Perspektive mag genauso
falsch oder richtig sein wie das Meisternarrativ. Sie ist einfach nur eine
andere.
19 Jun 2024
## LINKS
[1] /AfD-bei-der-Europawahl/!6015452
[2] /Frauenmorde-in-Deutschland-und-Tuerkei/!5487608
[3] /Oekonom-ueber-geplante-Bafoeg-Reform/!6013412
[4] /Soziale-Ungleichheit-in-Deutschland/!6003837
## AUTOREN
Gilda Sahebi
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