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# taz.de -- Debatte über Migration: Warmes Herz, kühler Kopf
> Es kommen derzeit zu viele Geflüchtete. Wir als Kommune können uns um
> alle nur noch gleich schlecht kümmern. Ein Zwischenruf.
Bild: Die Kommunen würden gern helfen, können aber nur reagieren
Unser Land ist seit geraumer Zeit Ziel von einer hohen Zahl geflüchteter
Menschen. Seit Februar 2022 kommen Menschen aus der Ukraine in Folge des
russischen Angriffskrieges und suchen Schutz. Spätestens seit dem
Spätsommer 2022 ist festzustellen, dass auch wieder viele Menschen aus den
sogenannten Drittstaaten nach Europa flüchten und Asyl begehren. Die
Bundesinnenministerin hat dies und die Hinweise aus den Kommunen lange Zeit
ignoriert. Dadurch ist wertvolle Zeit für steuernde und ordnende Maßnahmen
verloren gegangen – insoweit ist der Gesetzentwurf [1][der Bundesregierung
für erleichterte Abschiebungen in dieser Woche ein Schritt in die richtige
Richtung].
Für die Kommunen bedeutet die derzeitige Lage eine enorme Herausforderung.
Woche für Woche, wenn die Menschen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen des
Landes auf die Kommunen verteilt werden – und eigentlich inzwischen
tagtäglich. Die Akquise von Wohnungen als idealtypische
Unterbringungsmöglichkeit ist faktisch eine Unmöglichkeit. In vielen
Regionen fehlt schon heute Wohnraum, vor allem bezahlbarer.
Zur Vermeidung einer Belegung von Bürgerhäusern oder Turnhallen werden in
aller Eile leerstehende Gewerbeimmobilien angemietet und mit enormem
finanziellem Aufwand hergerichtet; die Hoffnung, mehrere kleinere
Immobilien herzurichten und so autark zu betreibende Unterkünfte zu
schaffen, scheitert schon nach kurzer Zeit an fehlenden und geeigneten
Immobilien. Gewerbe– und Leichtbauhallen werden angemietet und mit
Schlafparzellen zu Unterkünften umfunktioniert.
In Orten, in denen dies nicht möglich ist, müssen Zeltstädte errichtet
werden, [2][weil Container] auf dem Markt schon lange Mangelware sind, zu
lange Lieferzeiten haben, oder keine geeignet erschlossenen Flächen
vorhanden sind, auf denen diese an die notwendige Infrastruktur von Wasser,
Abwasser und Strom angeschlossen werden können. Zeitgleich müssen Caterer
für die Versorgung, Träger für die Vor-Ort-Betreuung und Security
ausgeschrieben und beauftragt werden; von der Beschaffung von Betten,
Spinden, Bettzeug und Geschirr ganz zu schweigen. Das Ziel, Menschen nur
für einen kurzen Zeitraum in Notunterkünften unterzubringen und sie zeitnah
in geordnete Wohnverhältnisse oder wenigstens kleinere
Gemeinschaftsunterkünfte weiterverteilen zu können, ist ein hehres, aber
kein realistisches Ziel mehr.
Die Frage, wann diese teuren Provisorien wieder aufgelöst werden können und
es städtebaulich dauerhaft sinnvolle Lösungen gibt, steht im Raum, kann
aber nicht beantwortet werden. Fachkräftemangel in der Verwaltung zwingt zu
Einschnitten und Prioritätensetzungen: Leistungsgewährung wird oberste
Aufgabe, für eine vernünftige Betreuung sind faktisch keine Kapazitäten
mehr vorhanden. Die Planung von Kindertagesstätten oder Schulen – wie auch
anderer kommunaler Infrastruktur – erinnert inzwischen an eine Fahrt auf
Sicht bei dichtem Nebel.
Die enorme Herausforderung wird zur dauerhaften Überforderung der Kommunen
und Menschen vor Ort und sukzessive der Gesellschaft insgesamt. Die
Kommunen wollen helfen und unterstützen. Auch dies wird in den Kommunen
geleistet: Große Hilfsbereitschaft und viel ehrenamtliches Engagement für
die Menschen, welche zu uns kommen. Aber auch hier gilt, dass dieses
großartige ehrenamtliche Engagement und die Hilfsbereitschaft endlich sind.
## Viele haben keine Bleiberechtsperspektive
Wir müssen uns ehrlich machen: Wir schaffen das nicht mehr. [3][Es kommen
zu viele Menschen zu uns], von denen sehr viele keine
Bleiberechtsperspektive haben. Der Artikel 16a im Grundgesetz ist Auftrag
und Verpflichtung zugleich. Wer unter dessen Schutzbereich fällt, dem
wollen und dem müssen wir als Kommune helfen und Asyl gewähren, dies ist
unstrittig. Wir müssen aber unterscheiden zwischen Asylbewerbern, Kriegs-
und Katastrophenflüchtlingen und Menschen, die aus anderen, zumeist
wirtschaftlichen, Gründen zu uns kommen und sich ein besseres Leben
erhoffen.
Wir müssen aber auch anerkennen, dass wir durch die ungeregelte Migration
den Menschen, welche unseres Schutzes tatsächlich bedürfen, nicht mehr
gerecht werden. Wir können ihnen kein vernünftiges Integrationsangebot
machen, weil unsere knappen Ressourcen für alle zu uns geflüchteten
Menschen – unabhängig von ihrem Fluchtgrund – eingesetzt werden, mit der
Folge, dass wir uns um alle Menschen nur noch gleich schlecht kümmern
können.
Integration findet in den Kommunen statt. Allerdings haben die Kommunen
aber auf die Rahmenbedingungen keinerlei Einfluss. Die Kommunen müssen
wieder in die „Vorhand“ kommen, sie müssen die bestehende Situation wieder
gestalten können, also weg vom bloßen Reagieren hin zum planvollen Agieren.
Dies bedeutet, dass den Kommunen nur Menschen zugewiesen werden sollten,
die auch eine Bleiberechtsperspektive haben. Dies setzt aber voraus, dass
Verschiedenes auch verschieden behandelt wird. Die Kategorien „Politisches
Asyl“, „Flucht vor Krieg und Vertreibung“, sowie die gezielte Einwanderung
aus wirtschaftlichen Gründen gehören gesondert betrachtet und gelöst.
Viele Menschen kommen als Asylbewerber, wenngleich klar ist, dass nicht
allen Menschen Asyl gewährt werden kann. Für Menschen, denen Asyl gewährt
wurde, ist es notwendig, ihnen ein Integrationsangebot zu machen, da sie
dauerhaft in unserem Land verbleiben werden. Menschen, welche temporären
Schutz genießen, sind zu unterstützen und zu fördern, sodass ihr temporärer
Aufenthalt auch für sie zur Weiterentwicklung und Vermittlung von
Kenntnissen und Fähigkeiten genutzt wird. Die gezielte Ansprache für den
Arbeitsmarkt, verbunden mit der Möglichkeit der Erlangung eines dauerhaften
Bleiberechts, sollte forciert werden.
## Humanität und Ordnung
Für Menschen, welche aus wirtschaftlichen Gründen flüchten, muss durch ein
modernes und flexibles Einwanderungsgesetz geregelt werden, dass es
bestimmte, unabdingbare Rahmenbedingungen gibt, die eine Einreise und einen
dauerhaften Aufenthalt ermöglichen. Die Umsetzung dieses Modells kann aber
nur gelingen, wenn an den europäischen Außengrenzen die Vorentscheidung
über eine Aufnahme getroffen wird und zunächst nur Menschen mit einer
realistischen Bleiberechtsperspektive die Einreise in die EU gewährt wird.
Menschen mit einer geringen Bleiberechtsperspektive sollten ihr Verfahren
in Asylzentren an der EU-Außengrenze durchlaufen. Dies trägt dem Umstand
Rechnung, dass wir anerkennen müssen, dass es in der Realität fast nicht
möglich ist, Menschen ohne Bleiberecht zeitnah abzuschieben, wenn sie
einmal in der EU angekommen sind. Das Prozedere an den Außengrenzen muss
unter Kontrolle der EU und unter humanitären Standards erfolgen. Eine
solche Regelung entspräche dem Leitmotiv von „Humanität und Ordnung“: Es
regelt die Verfahren, den wirklich Betroffenen könnte zügig und wirksam
geholfen werden – und für die Kommunen träte eine wirksame Entlastung ein.
Solange es nicht zu einer europäischen Regelung kommt, müssen schnell
realisierbare nationale Lösungen etabliert werden. Dazu gehören aus meiner
Sicht mobile und stationäre Grenzkontrollen sowie eine Ausdehnung der
Schleierfahndung zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität, ebenso der
Aufbau von Ankerzentren, in denen Verfahrens- oder
Verfahrensvorentscheidungen getroffen werden. Nochmals: Ziel sollte es
sein, irreguläre Migration zu minimieren, den Fokus auf die wirklich
Betroffenen zu richten und den Kommunen Schritt für Schritt wieder aktives
Handeln zu ermöglichen.
Auch die Bundesländer sind gefordert, ihre Kapazitäten der
Erstaufnahmeeinrichtungen auszubauen und aus diesen den Kommunen nur
Menschen zu überlassen, die auch eine realistische Bleiberechtsperspektive
haben. Und, ja, es muss auch darum gehen, dass die Rückführungsquote erhöht
wird und Menschen mit einem negativ beschiedenen Asylverfahren ausreisen
oder zeitnah nach der Entscheidung abgeschoben werden.
## Mehr Sprachkurse
Aus kommunaler Sicht müssen aber auch die weiteren Rahmenbedingungen
verändert werden. Die Kommunen schaffen derzeit viele Unterkünfte und
wenden erhebliche Mittel für den Aufbau und den Betrieb dieser Unterkünfte
auf. Neben den tatsächlichen Betriebs- und Betreuungskosten sollten auch
die Vorhaltekosten für Unterkünfte in die Kostenerstattung einbezogen
werden. Denn wir als Kommune müssen Unterkünfte auf Vorrat schaffen, um die
dynamische Situation bewerkstelligen zu können. Die im Bundeshaushalt
vorgesehene Kürzung der Integrationsmittel muss unbedingt korrigiert
werden!
Es ist absurd, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Situation eine
Kürzung vorgesehen ist und damit laufende Integrationsprogramme gekappt
werden müssten. Die aktuelle Situation erfordert gerade das Gegenteil. Wir
brauchen mehr Sprachkurse, damit die Integration in Arbeit und Gesellschaft
schneller gelingen kann. Die Anerkennung von Bildungs- und
Berufsabschlüssen muss vereinfacht, betriebliche Integrationsarbeit
gefördert werden.
Die Menschen müssen raus aus den provisorischen Unterkünften. Integration
bedeutet nicht nur Sprache und Arbeit, sondern auch eigenständiges und
selbstbestimmtes Wohnen. In vielen Kommunen ist Fläche ein rares Gut.
Allein durch Nachverdichtung wird es nicht gelingen, das Wohnungsproblem zu
lösen. Schon heute fehlt bezahlbarer Wohnraum. Es ist daher nötig,
Restriktionen in den Flächennutzungsplänen aufzuheben, damit die
Integration auch städtebaulich sinnvoll gelöst werden kann.
Aktuelle Debattenbeiträge, die einerseits die Situation kleinreden oder
beschönigen oder andererseits durch Populismus Vorurteilen Vorschub
leisten, werden der Situation nicht gerecht und sind Teil des Problems und
nicht dessen Lösung. Es muss mit warmem Herz, aber kühlem Kopf der
Situation begegnet und jetzt entschlossen gehandelt werden.
29 Oct 2023
## LINKS
[1] /Verschaerfung-fuer-Gefluechtete/!5965501
[2] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/02/berlin-tempelhofer-feld-tempoh…
[3] /Forscher-ueber-neue-Migrationsdebatte/!5959280
## AUTOREN
Matthias Schimpf
## TAGS
Migration
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