# taz.de -- Migration gegen Arbeitskräftemangel: Proaktiv für Einwanderung | |
> Die Aufnahme von Menschen auf der Flucht ist längst keine rein humanitäre | |
> Sache mehr. Deutschlands Wirtschaft braucht die Immigration. | |
Bild: Integrationskurs in Velbert | |
Ja, Deutschland ist ein Einwanderungsland, das war vor ein paar Jahren und | |
viel zu spät der zähneknirschende Satz, mit dem eine längst bestehende | |
Realität politisch anerkannt wurde. Mittlerweile ist der Fokus ein anderer | |
und die Dringlichkeit auch: Ja, Deutschland muss ein attraktives | |
Einwanderungsland werden. Einwanderung, lange als eine hinzunehmende | |
Tatsache gesehen, ist eine wirtschaftliche und gesellschaftliche | |
Notwendigkeit geworden. | |
Das Problem ist: Der gegenwärtige politische Diskurs ist nicht auf der Höhe | |
der Realität und der Zukunftsaussichten, es verliert sich in rhetorischen | |
Unterbietungsanstrengungen einer Politik der „neuen Härte“. Diese Politik | |
ist nicht nur aus humanitären Gründen unzulänglich – sie ist schlicht nicht | |
im deutschen Interesse. In vielen Branchen der deutschen Wirtschaft | |
herrscht seit Jahren ein [1][massiver Mangel an qualifiziertem | |
Fachpersonal], aber auch an gering- oder nichtqualifiziertem Personal in | |
Sektoren wie Bau, Gastronomie oder Einzelhandel. | |
Und die Prognosen sind düster: Etwa ein Drittel aller Arbeitskräfte geht in | |
den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand, innerhalb der nächsten 15 Jahre | |
etwa die Hälfte der Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung. Das Altern | |
der Boomer wird zu einer zentralen Bedrohung unserer Wirtschaft, unseres | |
Wohlstands. Der [2][Sachverständigenrat für wirtschaftliche Entwicklung] | |
macht klar: Es braucht eine Netto-Zuwanderung von 400.000 Menschen netto | |
pro Jahr. | |
Was das konkret heißt: es müssen abzüglich der 1,1 Millionen Abwandernden | |
1,5 Millionen Menschen pro Jahr nach Deutschland kommen, um die | |
Gesellschaft und den Wohlstand am Laufen zu halten.Aber wie soll man | |
Deutschland attraktiv für Einwanderung und fit für das 21. Jahrhundert | |
machen? Der [3][Migrationsökonom Herbert Brücker] hat vorgerechnet, dass | |
bereits 2021 nahezu zwei Drittel der Schutzsuchenden, die 2015 nach | |
Deutschland kamen, erwerbstätig waren. | |
## Weniger Bürokratie, schnellere Sprachförderung | |
Wenn wir unsere Behörden auf Vordermann bringen, Barrieren für den | |
Arbeitsmarktzugang abbauen, [4][mehr Plätze in Bildungseinrichtungen] | |
schaffen, dann beschleunigen wir die Erwerbsbeteiligung von | |
Schutzsuchenden. Durch Bildungspolitik speziell auch für Frauen, deren | |
Erwerbsbeteiligung aufgrund von Care-Tätigkeiten noch ausbaufähig ist. Das | |
gilt im Übrigen auch für nichtmigrantische Frauen. | |
Deutschland hat [5][2015 ein humanitäres Zeichen] gesetzt und | |
Schutzsuchenden zeitgleich den Weg in ein Leben in Beschäftigung geebnet. | |
Fluchtmigration leistet Abhilfe am Arbeitsmarkt, humanitäre treffen | |
wirtschaftliche Argumente. Das Neue an der Situation ist: Deutschland darf | |
nicht den Abwehrmodus gegen Einwanderung wählen, weil es sich in einem | |
Wettbewerb nicht nur um „die besten“ Köpfe, sondern um Einwanderung | |
überhaupt befindet. Die neue Realität heißt Anwerbemodus. | |
Andere westliche Einwanderungsländer wie USA, Kanada, Australien und | |
Großbritannien werben längst um Arbeitskräfte. Deutschland hinkt hinterher | |
– und hat hier sprachbedingte Wettbewerbsnachteile. Es kann sich also nicht | |
leisten, nur widerwillig Einwanderungsland sein, es muss proaktiv ein | |
attraktives Einwanderungsland werden. Dafür braucht es ein | |
parteiübergreifendes politisches Gamechanger-Narrativ, das nicht von | |
Abschottung geprägt ist, sondern von Anwerbung, Aufnahme und Attraktivität. | |
Beunruhigend dabei ist, wie gering etwa Deutschlands Bleibeattraktivität | |
ist – im internationalen Vergleich von 53 Ländern landet Deutschland auf | |
Platz 49. Wie werden wir Menschen halten können, die zu uns kommen? Weder | |
Push- oder Pull-Faktor, sondern Stay-Faktor sollte der Anfang einer | |
realpolitischen Neuorientierung der Einwanderungspolitik sein. | |
## Zum Bleiben motivieren | |
Denn unsere Unattraktivität speist sich nicht nur aus Alltagsrassismus, | |
sondern auch aus Abbau am Sozial- und Wohlfahrtsstaat – [6][mangelnde | |
Digitalisierung], unfreundliche bis überforderte Verwaltung und | |
anachronistische Bürokratie. Wenn Schutzsuchende nach einigen Jahren | |
Deutschland wieder verlassen, dann ist das, neben humanitären Verlusten, | |
ein demografisch und wirtschaftlich nachhaltiger Verlust für uns. Statt mit | |
einer echten Zeitenwende das inländische, migrantische Gold zu heben, | |
verprellen wir es. | |
Die nationale Strategie „Attraktives Einwanderungsland“ muss | |
infrastrukturell flankiert werden. Das erfordert eine vorausschauende | |
Migrationspolitik und Migrationsverwaltung, sozial-ökologischen | |
Immobilienbau, Digitalisierung, flächendeckende Integrationskurse, | |
personelle und finanzielle Ausstattung der Kommunen, schnellen | |
Arbeitsmarktzugang und ein zeitgemäßes Partizipationsgesetz, das politische | |
Teilhabe ab dem ersten Tag in Deutschland fördert. | |
Die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe im Sommer der Migration 2015 und nach | |
[7][Russlands Angriffskrieg] war überwältigend. Beide historische Momente | |
haben die Schlüsselrolle migrantischer Communities für das Ankommen von | |
Geflüchteten in Deutschland unterstrichen. Sie gilt es für unsere | |
Attraktivität als Einwanderungsland nachhaltig zu stärken. Unser | |
moralisches Potenzial ist unstrittig, in der Migrationsverwaltung muss mit | |
Infrastruktur und Ressourcen nachgelegt werden. Dafür braucht es ein | |
entsprechendes Narrativ und politischen Willen. | |
Die Wirtschaft hat längst den Handlungsbedarf erkannt: Etwa 80 Prozent der | |
Unternehmer:innen sehen den Standort Deutschland in Gefahr. | |
[8][Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger] fordert offensiv eine wirksame | |
Bekämpfung des Mangels und die Etablierung einer Willkommenskultur. Lange | |
als Migrationsromantik abgetan, verschränken sich nun wirtschaftliche und | |
humanitäre Positionen. Was wir brauchen, ist eine offensive Realpolitik für | |
ein attraktives Einwanderungsland, die humanitäre und wirtschaftliche | |
Potenziale von Migration verschränkt in den Blick nimmt. | |
18 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Fachkraeftemangel-in-Deutschland/!5865909 | |
[2] https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/index.html | |
[3] https://www.fachkommission-integrationsfaehigkeit.de/fk-int/ueber-uns/prof-… | |
[4] /Weiterbildung-und-Arbeitsrealitaet/!5918741 | |
[5] /Fuenf-Jahre-Wir-schaffen-das/!5701650 | |
[6] /Digitalisierung-der-deutschen-Verwaltung/!5958504 | |
[7] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[8] https://arbeitgeber.de/den-standort-deutschland-neu-denken/ | |
## AUTOREN | |
Özgür Özvatan | |
Volkan Sezgin | |
## TAGS | |
Migration | |
Fachkräftemangel | |
Arbeitsministerium | |
Babyboomer | |
Arbeitsmigration | |
Migration | |
Fachkräftemangel | |
Zuwanderung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ministerin reist nach Marokko: Ihr Fachkräfte, kommet | |
Deutschland braucht Arbeitskräfte. Um die anzulocken, reist | |
Entwicklungsministerin Schulze nach Marokko. Doch es geht auch um | |
Abschiebungen. | |
Debatte über Migration: Warmes Herz, kühler Kopf | |
Es kommen derzeit zu viele Geflüchtete. Wir als Kommune können uns um alle | |
nur noch gleich schlecht kümmern. Ein Zwischenruf. | |
Basis-Arbeit und Fachkräftemangel: Boom der Helfer:innen | |
Sogenannte einfache Tätigkeiten werden immer wichtiger – trotz und gerade | |
wegen der Digitalisierung. Die Gefahr der Ausbeutung steigt aber. | |
Politik und Fachkräftemangel: Deutschland sucht Personal | |
Die Bundesregierung will mit einer „Fachkräftestrategie“ gegen den | |
Arbeitskräftemangel vorgehen. Mehr Frauen und Zuwanderer sollen in den | |
Jobmarkt. |