# taz.de -- Mediziner über Triage in der Pandemie: „Vom Gesetzgeber alleinge… | |
> In Augsburg ist die Lage auf den Intensivstationen besonders angespannt. | |
> Axel Heller vom dortigen Universitätsklinikum übers eigene | |
> Triage-Konzept. | |
Bild: Sterile Gänge und Schutzkleidung: ein Arzt auf dem Weg zu einem Coronapa… | |
taz: Professor Heller, das Universitätsklinikum Augsburg hat ein eigenes | |
Triage-Konzept für den Fall entwickelt, dass es im Rahmen der [1][Pandemie] | |
nicht mehr genügend Behandlungsplätze geben sollte. Warum war das nötig? | |
Axel Heller: Weil die Situation so wenig reguliert ist. Das wirklich Fatale | |
ist ja, dass die Juristen uns sagen: Ihr könnt würfeln, ihr könnt Lose | |
ziehen, ihr könnt nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ | |
vorgehen. Es ist aus medizinischer Sicht aber überhaupt nicht vermittelbar, | |
dass eine Person, die sehr wahrscheinlich versterben wird, in solch einem | |
Fall den Vorrang bekommt vor einer Person mit einer viel besseren Prognose. | |
Wir sehen da einen großen Regulierungsbedarf vonseiten des Gesetzgebers. | |
Aber wir werden damit alleingelassen. | |
Es gibt doch die Leitlinien der intensivmedizinischen Fachgesellschaften. | |
Die Leitlinien sind sehr allgemein, und deswegen hat sich unser klinisches | |
Ethikkomitee hingesetzt, um ein ganz operationalisiertes Triage-Protokoll | |
zu schreiben. | |
Und wie genau sieht das aus? | |
Als Allererstes ist festzustellen, ob der Patient eine Intensivtherapie | |
überhaupt will. Wir halten die Leute hier in der Region an, dass sie schon | |
zu Hause Patientenverfügungen vorbereiten – Krankenhaus ja oder nein, | |
Intensivstation ja oder nein, Beatmung ja oder nein. Wenn der Patient das | |
nicht möchte, wird er nicht auf eine Intensivstation aufgenommen, sondern | |
palliativ behandelt. Das heißt, diese Patienten werden symptomkontrolliert, | |
sie bekommen Schmerzmittel, ihre Atemnot wird gelindert und so weiter. | |
Was passiert mit den Notfällen, die behandelt werden müssen und wollen? | |
Auf der Intensivstation wird sowieso jeden Tag bei jedem Patienten der | |
sogenannte SOFA-Score ermittelt, um zu schauen, wie krank ist dieser | |
Patient. Aus diesem Score lässt sich auch eine Überlebensprognose ableiten. | |
Mit einem zusätzlichen Gebrechlichkeits-Score wird dann noch geschaut, was | |
ist denn das Beste, was der Patient im Vergleich zu seinem vorherigen | |
Zustand nach der Intensivstation jemals wieder erreichen kann. Und dann | |
wird eine Rangfolge gebildet, bei der nach Krankheitsintensität und | |
Erfolgsaussichten abgestuft wird. Mit entsprechenden Farben wird die | |
Aufnahme oder Weiterbehandlung auf der Intensivstation definiert. | |
Welche Farben stehen da für was? | |
In unserem Augsburger Modell gilt die Farbe Rot für die, die den | |
dringlichsten Behandlungsbedarf und die höchsten Erfolgsaussichten haben. | |
Die Gelben sind diejenigen, die am Ende der Skala sind und bei denen die | |
Erfolgsaussicht sehr niedrig ist. Orange ist dazwischen. | |
Und wenn jemand schon am Beatmungsgerät ist, aber nur Orange oder Gelb hat | |
und dann kommt jemand mit Rot, dann würde die erste Person vom | |
Beatmungsgerät getrennt werden und die zweite kriegt es? | |
Es ist ein Gebot der Fairness, dass man alle Patienten, die zu dem | |
Zeitpunkt in Behandlung sind, in die Bewertung mit reinnimmt. Auch einer, | |
der gestern mit einem Herzinfarkt gekommen ist, wird im selben Verfahren | |
eingeschlossen. Und derjenige, der die schlechtesten Erfolgsaussichten hat, | |
der müsste dann als Erster von der Ressource getrennt werden. | |
Wer soll diese Entscheidungen treffen? | |
Ein dreiköpfiges Team aus Intensivmedizinern und Pflegekräften, das nicht | |
unmittelbar an der Behandlung dieses Patienten beteiligt ist, um auch eine | |
gewisse Objektivität zu haben. Und dieses Gremium würde dann jeden Tag über | |
die Intensivstationen gehen und jeden Tag neu evaluieren. | |
Haben Sie dieses Team bereits? | |
Das Team ist namentlich benannt, ja. | |
Das klingt schon sehr konkret. Mussten Sie dieses Triage-Protokoll bereits | |
anwenden? | |
Wir haben glücklicherweise hier nie die Situation gehabt. Momentan habe ich | |
auch die Hoffnung, dass es in diesem Jahr dabei bleiben wird. Die Prognose, | |
die vom RKI für unsere Region herausgegeben wurde, zeigt zum Jahreswechsel | |
hin zumindest einen leichten Abfall. Damit wird das, was wir jetzt an | |
Kapazität haben, wahrscheinlich nicht überzogen. Aber wenn wir die | |
aktuellen Zahlen von Omikron sehen und das vorhersehbare | |
Infektionsgeschehen über die Weihnachtsferien, dann kann es durchaus sein, | |
dass wir im Januar dann doch vor die Entscheidung gestellt werden. | |
Wie nah sind Sie der Notwendigkeit einer [2][Triage] in dieser Pandemie | |
bereits gekommen? | |
Tatsächlich hatten wir die letzten ein, zwei Tage die Situation, dass wir | |
in ganz Nordschwaben nur noch ein Coronabett hatten. Das lässt sich nur | |
sehr kurze Zeit durchhalten. Umso wichtiger ist es, da vorausschauend zu | |
handeln. Wenn Sie eine Intensivstation mit 20 Betten haben und die sind | |
voll ausgelastet und es gibt keine Reserven mehr, dann ist die | |
Triage-Situation erreicht, sobald der 21. Patient kommt. Also muss man | |
bereits bei der Belegung des 18. Betts schauen, dass man Betten frei | |
bekommt. | |
Durch Verlegung in andere Krankenhäuser? | |
Wir haben hier in Nordschwaben schon in der zweiten Welle über drei Monate | |
hinweg 180 Intensivpatienten zwischen den Krankenhäusern verlegt. Und das | |
war noch wenig. Jetzt haben wir allein im November knapp 120 Patienten | |
verlegt, einige wurden mit der Bundeswehr nach Norddeutschland ausgeflogen. | |
Aber erst wenn diese Möglichkeiten der Verlegung genau wie die | |
Möglichkeiten, Personal zwischen den Krankenhäusern zu verschieben und die | |
Verschiebung aller elektiven Eingriffe vollständig ausgeschöpft sind, dann | |
würde das Triage-Protokoll ausgelöst werden. | |
Von wem? | |
Das entscheidet letztlich der Ärztliche Direktor des Krankenhauses im | |
Benehmen mit der Führungsgruppe Katastrophenschutz der Stadt. Was wir auch | |
noch versuchen, ist, 36 bis 24 Stunden vor dieser Situation einen Voralarm | |
in die Katastrophenschutzstruktur des Freistaats auszugeben, um mit dem | |
Druck der drohenden Triage noch einmal weitere Ressourcen zu mobilisieren. | |
Wobei man natürlich auch wissen muss: Wenn es so knapp wird, dann kann | |
gerade der Transport zum größten Engpass werden. | |
Also geht es im Moment vor allem darum, alle Kapazitäten auszunutzen, um | |
nicht diese schwierigen Triage-Entscheidungen treffen zu müssen? | |
Wir nutzen im Prinzip schon alle Kapazitäten. Wir haben hier noch das | |
lokale Problem, das wir in Schwaben im Bayernvergleich pro 100.000 | |
Einwohner die wenigsten Intensivplätze haben. Das muss in den kommenden | |
Jahren verbessert werden. Aktuell bleibt uns, die Kapazitäten in einem | |
Rahmen zu dehnen, der noch medizinisch vertretbar ist und wo uns auch das | |
Pflegepersonal nicht davonläuft. | |
Haben auch Sie weniger Intensivkapazitäten als im vergangenen Winter? | |
Ja, das haben wir sehr schmerzhaft feststellen müssen. Letzten Winter | |
hatten wir hier in der Region Nordschwaben um die 150 Intensivplätze, jetzt | |
sind es 26 weniger. Rund 80 Leute haben der Intensivpflege den Rücken | |
gekehrt. | |
Werden zur Freihaltung von Intensivkapazitäten auch beispielsweise | |
Krebsoperationen verschoben? Und ist das nicht auch eine Form der weichen | |
oder latenten Triage? | |
Den Begriff halte ich nicht für passend. Aber tatsächlich stellen wir schon | |
seit Anfang des Jahres auch Krebsoperationen zurück, so weit sie | |
zurückgestellt werden können. Wir haben hier durchweg | |
Covid-Intensivpatienten gehabt, die Auslastung der Intensivstationen hat | |
nie 85 Prozent unterschritten. Nun ist das noch mal schärfer geworden, die | |
Auslastung liegt nahe 100 Prozent und auch dringlichere Operationen werden | |
jetzt zurückgestellt, bis wieder Plätze frei sind. | |
Kann sich das nicht auch negativ auf die Erfolgsaussichten der betroffenen | |
Patienten auswirken? | |
Es wird bei niemanden eine Operation geplant, bei dem keine Indikation zur | |
Operation da ist. Also wirkt sich das natürlich auf den Gesundheitszustand | |
der Patienten aus. Insofern passiert das, was wir eigentlich vermeiden | |
wollen, schon die ganze Zeit. | |
Wenn wir davon ausgehen, dass die Situation mindestens noch bis Januar | |
angespannt bleibt, was bedeutet das dann für die Krebspatient:innen? Müssen | |
sie so lange auf ihre OP warten? | |
Wir haben hier jeden Tag eine virtuelle Sitzung zwischen den leitenden | |
Oberärzten der chirurgischen Abteilungen und dem OP-Management. Da gibt es | |
dann eine Anzahl von Intensivbetten, die am nächsten Tag annehmbar frei | |
sind. Und dann wird geschaut, dass die dringlichsten Tumorpatienten | |
drankommen. Wenn jemandem mehrfach abgesagt werden musste, dann wird auch | |
das berücksichtigt. | |
Wenn Sie jetzt so ein dezidiertes Konzept für den Fall einer Triage | |
ausgearbeitet haben, heißt das, dass Sie damit rechtlich auf der sicheren | |
Seite sind? | |
Die Tatsache, dass man ein Beatmungsgerät abschaltet, um es einem anderen | |
zu geben, ist strafbewehrt. Derjenige, der das dann am Ende macht, der | |
Schichtarzt, muss sich nach jetziger Rechtsauffassung einem Verfahren wegen | |
Totschlags stellen. Wie auch immer das am Ende ausgeht. Wir haben in einer | |
Expertengruppe beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe | |
verschiedene Online-Konferenzen gehabt, auch zusammen mit Staatsanwälten, | |
mit Praktikern, mit Dogmatikern, mit Ethikern und je nach ihrer Ausrichtung | |
hatte jeder ein anderes Rechtsempfinden. Entsprechend kann jeder Fall | |
anders ausgehen. | |
Viele Ihrer Kolleg:innen sind sehr zurückhaltend im öffentlichen | |
Gespräch über das Thema Triage. „Gibt es bei uns nicht“ und „Ist für u… | |
kein Thema“ kommen da oft als Antworten auf Anfragen. | |
Natürlich will man den Eindruck des Alarmismus vermeiden. Aber ich | |
beschäftige mich mit dem Thema Großschadenslagen seit Jahren, habe mehrere | |
Studien dazu gemacht. Insofern sind Sichtung und Triage für mich auch ein | |
Studiengegenstand, ich habe keine Berührungsängste, das zu erörtern. Für | |
mich ist Triage auch kein Vermeidungsthema wie für viele Tod und Krankheit | |
generell. Weil ich finde, dass wir einen breiten gesellschaftlichen Diskurs | |
und klare gesetzliche Rahmenbedingungen dafür brauchen. Sonst lassen wir | |
die alleine, die ganz am Ende der Nahrungskette die schwierigen | |
Entscheidungen umsetzen müssen. | |
12 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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