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# taz.de -- Risikoethiker über Triage in Pandemie: „Wir haben politisch kras…
> Haben wir als Gesellschaft in der Bekämpfung der Corona-Pandemie versagt?
> Ein Gespräch mit den Risikoethikern Adriano Mannino und Nikil Mukerji.
Bild: Ausnahmezustand: Behelfskrankenhaus auf dem Messegelände in Hannover
taz am wochenende: Herr Mannino, Herr Mukerji, [1][seit einer umstrittenen
Meldung aus Sachsen] wird wieder intensiv über Triage, also die
Priorisierung verschiedener Patientengruppen bei Ressourcenknappheit in der
Notfallmedizin, debattiert. Wie lassen sich denn Menschenleben einteilen,
oder sollte man das doch lieber lassen?
Mannino: Das ist ethisch und rechtlich natürlich eine heikle und kontrovers
diskutierte Frage, und ich glaube, die akademische wie auch die öffentliche
Debatte würden sehr davon profitieren, wenn allseitig auch Unsicherheit
eingeräumt würde. Eindeutige Positionen gibt es hier nicht, und die
verschiedenen beteiligten Disziplinen – etwa Medizin, Rechtswissenschaft,
Philosophie – liegen oftmals im Dissens. Grundsätzlich ist es rechtlich wie
ethisch unbestritten, dass jedes Leben gleich viel zählen muss. Diesem
Grundsatz entspricht es, jede Patient:in im medizinischen Alltag gleich zu
priorisieren, entsprechend der natürlichen Zufallsreihenfolge, in der etwa
Patient:innen in einer Klinik eingeliefert werden.
Nun kann es aber zugleich Notsituationen geben, in denen es mir ethisch
zumindest diskussionswürdig erscheint, auch aus Gerechtigkeitsgründen zu
fragen, für welche Patient:in zum Beispiel mehr auf dem Spiel steht. Das
muss nicht nur die Frage sein, ob eine 85-jährige Person schon wesentlich
größere Teile ihres Lebens hinter sich hat als eine 30- oder 40-jährige.
Das könnte auch der Konfliktfall sein, dass Sie und ich ungefähr im selben
Alter sind, ich aber bei ausbleibender Behandlung drei Finger verlieren
würde, Sie dagegen beide Arme. Obwohl wir beide gleich zählen, sollten Sie
hier priorisiert werden, denn für Sie steht in diesem Fall viel mehr auf
dem Spiel. Aus Bereichen, in denen solche Konfliktfälle und Notsituationen
auftreten – etwa der Katastrophenmedizin oder der Vergabe von
Spenderorganen, die immerhin gesetzlich geregelt ist –, lassen sich einige
Kriterien ableiten.
Zum Beispiel?
Mannino: Unkontrovers ist das Kriterium der Dringlichkeit, also der
Lebensgefahr im Falle eines Nichteingreifens. Hinzu kommt das Kriterium der
kurzfristigen Erfolgsprognose, also die Wahrscheinlichkeit, mit der ein
Eingriff auch tatsächlich das Überleben sichern kann. Hier fangen aber die
Kontroversen schon an, weil man diese Erfolgsprognose als implizite
Altersdiskriminierung betrachten und als solche ablehnen kann. Andere
halten dagegen, dass man ohnehin immer auch die langfristige Prognose
berücksichtigen sollte, weil etwa für eine jüngere Person viel mehr auf dem
Spiel stehe als für eine ältere. Wenn Ihre 50 verbleibenden Lebensjahre
geopfert werden, damit mein verbleibendes Jahr gerettet werden kann,
scheint Ihr Leben nicht gleich zu zählen. Ein Problem ist es, dass wir kein
allgemeines Triage-Gesetz haben, das diese mehr oder weniger kontroversen
Kriterien in einem demokratischen Prozess abwägt und den unter
Handlungsdruck stehenden Ärzt:innen und Pfleger:innen verbindliche
Richtlinien für ihre Entscheidungen zur Verfügung stellt.
Mukerji: An dieser Stelle sollten wir allerdings auch noch mal einen
Schritt zurücktreten und feststellen, dass es moralisch schon höchst
problematisch ist, dass wir im Augenblick überhaupt über Triage nachdenken
müssen. Das oberste Gesetz der Triage ist es, sie nach Kräften zu
vermeiden. Und hier haben wir als Gesellschaft in dreifacher Weise versagt.
Erstens haben wir für diese Pandemie keine Prävention betrieben, auch
nicht, als die Gefahr längst absehbar war: Wir haben keine Maskenvorräte
angelegt, Einreisesperren für Menschen aus betroffenen Gebieten verhängt
oder frühzeitig schlaue Apps vorbereitet. Zweitens haben wir ein schlechtes
Pandemiemanagement betrieben: etwa den ganzen Sommer über die Gefahr einer
zweiten Welle heruntergespielt, obwohl das wissenschaftlicher Unsinn war.
Und drittens haben wir auch jetzt wieder zu spät eingegriffen, was uns
überhaupt erst in die aktuelle Lage gebracht hat.
Sie beide gehören zu den wenigen Experten hierzulande, die schon sehr früh
vor den Gefahren der Pandemie gewarnt haben und viel zu lange ignoriert
wurden. Warum fiel es uns als Gesellschaft so schwer, rechtzeitig zu
reagieren, obwohl das rational geboten gewesen wäre?
Mukerji: Darauf haben wir in unserem Buch viele Antworten zu geben
versucht: etwa die Fehlwahrnehmung exponentiellen Wachstums, das
Präventionsparadox oder eine selbstbestätigende Expertenselektion. Einer
der wichtigsten Denkfehler war vermutlich der sogenannte
Truthahn-Fehlschluss: Wie ein Truthahn, der aus seiner Lebenserfahrung des
täglichen Gemästet- und Umsorgtwerdens heraus nicht damit rechnet, eines
Tages geschlachtet zu werden, haben wir aus unserer kollektiven Erfahrung
eines sehr langen Nichteintretens derartiger Katastrophen gefolgert, dass
sie uns auch tatsächlich nicht ereilen werden. Dabei war schon das
generelle Risiko einer solchen Pandemie aus zahlreichen Faktoren ablesbar,
etwa den Folgen des Klimawandels oder auch der Massentierhaltung.
Mannino: Hinzu kommen auch politische und sozioökonomische Aspekte, die wir
im Buch aus Platzgründen nicht thematisieren konnten. Etwa die Frage, ob es
bei uns womöglich auch die Problematik einer bestimmten Form
liberal-kapitalistischer Gesellschaftsordnung war, die effektive Maßnahmen
behindert hat und das zum Teil weiterhin tut. [2][Beispielsweise in meinem
Heimatland, der Schweiz, die viel höhere Fallzahlen hat als Deutschland,
aber trotzdem lange über einen Lockdown nicht einmal diskutieren wollte].
Das ist natürlich auch ökonomisch paradox: Die Mehrzahl der Ökonom:innen
haben sich für einen frühzeitigen Lockdown ausgesprochen, doch
Wirtschaftslobbys waren dagegen. Es scheint einen gewissen liberalistischen
Überschuss zu geben, der bestimmte Freiheitseinschränkungen auch in
lebensbedrohlichen Situationen viel zu zögerlich in Kauf nimmt und dadurch
in einen [3][Egoismus zu kippen] droht. Der Ausgleich zwischen Individuum
und Gemeinschaft scheint in den Demokratien Asiens, etwa in Japan, Südkorea
und Taiwan, wesentlich besser funktioniert zu haben.
Kann die aktuell noch einmal verschärfte Lage dazu beitragen, dass wir in
Zukunft mit solchen Bedrohungen verantwortungsvoller umgehen?
Mukerji: Der Philosoph David Hume hat schon im 18. Jahrhundert den
psychologischen Mechanismus analysiert: Wir reagieren auf Gefahren anfangs
sehr alarmiert, vernachlässigen diese Risiken mit zunehmender Gewöhnung
aber wieder. So hat auch bei uns die Pandemie im Laufe der ersten Welle
eine starke Alarmbereitschaft hervorgerufen, die aber offensichtlich nicht
einmal bis zum gegenwärtigen Herbst und Winter angehalten hat.
Hätten wir uns weniger von psychologischen Effekten leiten lassen, sondern
vernünftig agiert, dann hätten wir uns stärker auf die wissenschaftliche
Evidenz bezogen und dadurch die zweite Welle vorhersehen und besser
abwenden können.
Mannino: Es ist tragisch, wie lernresistent wir sind. Anscheinend können
wir aus Katastrophen nur dann lernen, wenn sie in unserem eigenen Haus so
richtig zuschlagen. Wichtig wäre hier eine umfassende politische
Fehlerkultur, die auch zu Konsequenzen führt. Die Öffentlichkeit hat
inzwischen gesehen, dass es in der Wissenschaft auch Dissens geben kann.
Aber wenn international 90 Prozent der Virolog:innen mit einer zweiten
Welle rechnen, sollte man die davon abweichende Ansicht etwa eines Hendrik
Streeck politisch nicht einfach als gleichberechtigte Alternative
betrachten.
Eine solche Fehlerkultur müsste sich zunächst also eingestehen, dass wir
politisch krass versagt haben. Denn eine erfolgreiche Pandemieprävention
muss nicht nur die gesundheitlichen Schäden vermeiden, sondern auch die
sozioökonomischen Schäden durch Lockdowns, wie das in Südkorea oder Taiwan
gelungen ist, weil man dort vorbereitet war: Reisesperren, Masken,
Testkapazitäten, wirksame Tracking-Apps. Dachten wir, in Europa könne uns
nichts passieren?
Nun müssten wir risikoethisch dringend die Frage stellen: Wie viele weitere
Katastrophen könnten uns heimsuchen, die wir noch gar nicht auf dem Radar
haben?
26 Dec 2020
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## AUTOREN
Tom Wohlfarth
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