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# taz.de -- Risikoforscher über das Coronajahr: „Wir sind gefordert“
> Der Risikoforscher Stefan Böschen zieht eine erste Bilanz des
> Coronajahres. Ein Gespräch über Nähe, Distanz und neue soziale
> Reibungspunkte.
Bild: Aber jeder nur in seinem Kreis: Im Sommer auf der Düsseldorfer Rheinprom…
taz am wochenende: Herr Böschen, als Anfang des Jahres das Virus über uns
kam, haben Sie ein virtuelles „Corona-Tagebuch“ für Bürger:innen
eingerichtet. Was hat es damit auf sich?
Stefan Böschen: Wir haben Menschen eingeladen, ihre Gedanken, Eindrücke und
Gefühle während der Pandemie für uns aufzuschreiben.
Sozialforscher:innen stellen den rund 70 Teilnehmer:innen dazu seit
dem Frühjahr Fragen. Uns interessiert: Wie gehen die Menschen mit dieser
massiven Unterbrechung ihres Alltags um? So etwas Herausforderndes hat ja
kaum jemand bisher erlebt, und wir sehen, was das für einen deutlichen
Einfluss hat, auf die Wahrnehmung, das Fühlen und Handeln.
Nun zieht sich das [1][„Social Distancing“] schon bald ein Jahr. Kann da
etwas einrasten, was die Gesellschaft kühler oder prüder macht?
Für eine Weile müssen wir sicher noch mit situativ anderen Ausdrucksformen
zurechtkommen. Aber so grundlegende Dinge wie Nähe und Intimität: Nein, ich
glaube nicht, dass sich daran nachhaltig etwas verändert.
Aber Sie haben gesellschaftliche Reibungspunkte festgestellt, die sich
unter Corona verstärken, richtig?
Das, was wir derzeit erleben, hebt die alten sozialen Gewohnheiten erst
einmal auf. Das erfordert eine neue Aufmerksamkeitssteuerung. Und das ist
anstrengend, deswegen empfinden viele das als total nervig. Zugleich sind
die Maßnahmen und Hygieneregeln grundsätzlich richtig, und das verstehen
auch die meisten. Mit diesen Ambivalenzen leben zu können, und auch mit den
damit verbundenen Gefühlen von Angst, Frustration und Wut umzugehen, ist
schwierig. Wut war bisher ein stark reguliertes Gefühl und der legitime
Ausdruck war Ausnahmesituationen vorbehalten. Was wir jetzt aber schon
seit einer Weile beobachten, ist, dass Wut als Ausdruck individueller
Befindlichkeit durchaus gesellschaftsfähig geworden ist.
Zu den „alten sozialen Gewohnheiten“ gehört etwa, dass man auf dem Gehweg
nicht um jede fremde Person einen Bogen macht. Auf den ersten Blick scheint
die Welt nun unhöflicher geworden zu sein.
Man könnte von „typischen Distanzen“ sprechen, die wir jetzt
gezwungenermaßen brechen. Überall gibt es Distanzen, die als angenehm
wahrgenommen werden, und solche, die als unangemessen empfunden werden. Bei
Menschen, mit denen man nicht persönlich verbunden ist, gilt im Regelfall
eine gute Armeslänge als „normaler“ Abstand.
Wenn ich jetzt zu Weihnachten meine Eltern in Hessen besuche, werde ich die
Zwei-Meter-Regel brechen, das ahne ich schon. „Papa, wir müssen uns dann
zurückhalten“, sagte ich am Telefon. Er, Mitte siebzig: „Aber es gibt
Dinge, die sind wichtiger.“
So wie wir mit der [2][Distanz zu fremden Menschen] immer auch unser Revier
markieren, so haben wir bei anderen einen gewissen Nähebedarf. Der lässt
sich nicht so einfach verändern. Einer unserer Forschungsansätze besteht
darin, dass wir die Maßnahmen zum Infektionsschutz unter diesem Aspekt noch
einmal näher betrachten wollen. Das Regelwerk ist top-down beschlossen
worden. Die Politik hat einen Rahmen gesetzt und Einschränkungen „von oben“
durchgegeben. Das ist für manche ein Vermittlungsproblem.
Wir wollen, auch mit Blick auf künftige Pandemiefälle, schauen: Wäre es
nicht auch umgekehrt möglich, bottom-up? Man muss gucken, welche sozialen
Hilfeformen als akuter Bedarf bei Menschen in einer solchen Krise bestehen
bleiben oder ganz neu entstehen. Welche anderen sinnvollen Umgangsweisen
wären in einer Pandemie noch denkbar, welche Regeln könnten von den
Betroffenen mitentwickelt werden – und dann vielleicht eine größere
Legitimität haben? Wenn das Regelwerk als reine Kontrollmaßnahme auf
staatlicher Ebene aufgefasst wird, führt das zu den Schwierigkeiten, die
wir gerade erleben, bis hin zu Diktaturvergleichen, die wirklich unsäglich
sind.
Wer sich an Maskenpflicht und Abstandsregeln hält, wird von sogenannten
Coronaleugner:innen gern als „Schaf“ beschimpft. Wie betrachten Sie diese
Entwicklung?
Wir sind gerade Zeugen eines großen Sinnstiftungsproblems. Für viele stellt
sich die Frage: Wie soll ich ein weltweites Großereignis wie diese Pandemie
in meinen persönlichen Deutungshaushalt integrieren? Früher hat das mal
Gott erledigt. Der [3][Theologe Fulbert Steffensky] sagte einmal: „Wir
leben in einer Gesellschaft, deren Weisheit schwach und deren Apparate
stark sind.“ Insgeheim sind wir daran gewöhnt, dass moderne Technik all
unsere Probleme schon lösen wird. Jetzt sind wir auf einmal wieder selbst
gefordert.
In der Pandemie ist Kooperation gefragt – eine uralte Menschheitstechnik.
Mit Störungen im Alltag umzugehen, sich selbst umzustellen, und das nicht
nur zum eigenen Wohl, sondern im Namen des Kollektivs: Das fällt vielen,
mich eingeschlossen, durchaus schwer. Das sind sicher auch die Auswirkungen
eines forcierten Individualismus. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht
inzwischen ja von der „Gesellschaft der Singularitäten“.
Sich über die Pandemie und die Maßnahmen lustig zu machen, bedeutet auch:
„Meine individuellen Rechte zuerst!“
Es hat jedenfalls mit der Fähigkeit zu tun, mit seinen Gefühlen souverän
und sozialverträglich umzugehen. Es gibt heute bei manchen einfach einen
ungeheuren Drang, den eigenen Regungen spontan und vermeintlich authentisch
Ausdruck zu geben. In einem Umfeld, welches den Selbstausdruck
kontinuierlich er- und einfordert, ist das verständlich, die Fähigkeit des
Sich-Zurücknehmens ist heutzutage einfach nicht so stark ausgeprägt – aber
genau das wird nun gerade verlangt, in so einer Situation.
Hat das etwas mit Charakterstärke, mit persönlicher Reife zu tun?
Ich will mich gar nicht über die Schreihälse und Maskenverweigerer erheben.
Es ist heute für alle schwieriger, innerweltliche Problemlagen zu
bewältigen. Das gilt generell für säkularisierte Gesellschaften, in denen
Religion keine große Rolle mehr spielt. Solche modernen Gesellschaften
haben sehr viele Vorteile, zweifellos. Was Verschwörungstheorien im
Mittelalter alles angerichtet haben, war noch viel schrecklicher, ganz
klar. Aber eigentlich gehörte es immer zum kulturellen Repertoire von
Gesellschaften: Dass sie Deutungsmuster anbieten für etwas, das der oder
die Einzelne nur schwer aushalten kann. Unter Corona sehen wir jetzt: Was
sind denn eigentlich die Sinnstiftungsressourcen, die diese unsere
individualisierte Gesellschaft zur Verfügung hat?
Jeder zimmert sich seine eigene provisorische Moral – aber die ist im
Zweifel zu schwach, um mit tiefgreifenden Zumutungen umgehen zu können.
Auch ich selbst habe mich in den vergangenen Monaten immer wieder überprüft
und mir die Frage gestellt: Was wäre nun eigentlich die größte Zumutung für
mich und wie würde ich damit umgehen?
Und? Worauf kamen Sie da?
Ohne meine Frau leben zu müssen, wäre das Schlimmste für mich. Wir sind
beide Mitte 50 und haben beide Vorerkrankungen, so wie rund 30 Prozent der
hiesigen Bevölkerung. Wenn das von manchen, auch in der Politik, bei der
AfD zum Beispiel, jetzt so abgetan wird... na ja. Das ist dann eben eine
unzulässige Vereinfachung und Trivialisierung der Problemlage. Ich bin ein
Christ, da fühle ich mich verwurzelt, daraus ziehe ich einen Teil der
Stärke, die nötig ist, in dieser Zeit. Und ich möchte betonen: Parallel zu
allen Differenzen erleben wir gerade auch ein beeindruckendes
Solidaritätsmoment in dieser Gesellschaft – eine große Mehrheit, die bereit
ist, zugunsten von Schwächeren für einen gewissen Zeitraum zurückzustecken.
Es wäre sehr schade, wenn das in der öffentlichen Diskussion zu kurz kommt.
Auch im Lager der Vernünftigen gibt es allerdings unschöne Tendenzen – etwa
wenn „südländische Großfamilien“ verdächtigt werden, die Regeln eher zu
brechen als andere. Dabei waren hierzulande Karnevalist:innen im Rheinland
und Skiurlauber:innen die ersten Superspreader.
Ja, aber der Rassismus war schon vor Corona da. Rund 10 Prozent der
Bevölkerung haben eine rechtspopulistische Orientierung, das ist ein seit
Langem stabiler Wert. Die Wut, die ich vorhin erwähnte, äußert sich auch in
solchen Äußerungen. Da werden Sündenböcke bemüht, um Unklarheiten zu
bewältigen – irgendwer muss an allem schuld sein. Es ist eine einfache
Mechanik, den inneren Druck loszuwerden. Man muss keine große Hürde
überwinden, um Leute, die ohnehin leicht zu entrechten sind, zu
beschuldigen oder anzugreifen. Das geht sehr einfach, auch hier nun wieder.
Sie haben sich vorhin als Christ beschrieben. Mein Eindruck ist: Sie sind
ein gelassener Optimist.
Nein, das wäre mir zu einseitig positiv belegt. Ich bin zuversichtlich –
lassen Sie es mich lieber so sagen. Was wir weltweit nun erleben und
durchleiden, sind Anpassungsschwierigkeiten an neue, ungewohnte Umstände.
Je nachdem, wie lange diese Umstände dauern, wird sich zeigen:
Verflüchtigen sich diese Anpassungen später, wird also alles wieder ganz
wie früher? Oder behalten wir Teile der Anpassungen bei, weil sie gar nicht
so schlecht sind? Im Feld der Arbeit deutet sich schon etwas an: Ist es
wirklich nötig, für eine einzige Teambesprechung zehn Leute quer durch die
Republik zu schicken, oder tut es auch eine Bildschirmkonferenz?
Tut es eine Bildschirmkonferenz aber auch zu Weihnachten? Wie gehen Sie
persönlich damit um?
Auch für mich ist diese Krise ein lebensbiografisches Ereignis, ein
Einschnitt. Meine Kinder, Enkel und Geschwister sind verstreut in der
ganzen Republik. Mein Vater ist in seinen Achtzigern, nach dem Tod meiner
Mutter lebt er allein. Sich nicht richtig sehen zu können – das war und ist
wirklich schwer. Zu Weihnachten fahren meine Geschwister und ich nun
getrennt zu unserem Vater, alle einzeln und nacheinander, jeweils für
einen Tag. Das kann man schrecklich finden. Man kann aber auch sagen: Wir
müssen gerade durch einen heftigen Sturm navigieren – aber wir tun es
gemeinsam. Das kann auch ein gutes Gefühl sein.
24 Dec 2020
## LINKS
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[3] /Ex-Moench-beim-Kirchentag/!5068027
## AUTOREN
Katja Kullmann
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