| # taz.de -- Bischöfin über den Umgang mit Corona: „Der Ton ist nervös und … | |
| > Regionalbischöfin Petra Bahr wurde gerade in den Ethikrat gewählt. Ein | |
| > Gespräch über schwierige Abwägungen, Boris Palmer und | |
| > Verschwörungstheorien. | |
| Bild: In Corona-Zeiten müssen Interessen neu verhandelt werden: In Dresden wir… | |
| taz am wochenende: Frau Bahr, Sie sind Religionsphilosophin, | |
| Regionalbischöfin für Hannover und gerade in den Deutschen Ethikrat berufen | |
| worden. Welche Perspektiven bringen Sie mit? | |
| Petra Bahr: Ich komme aus dem Alltag von Kirchengemeinden und diakonischen | |
| Einrichtungen in Dörfern und kleinen Städten. Dort ist mit Händen zu | |
| greifen, dass diese Jahrhundertkrise besonders die trifft, die sowieso | |
| schon schwach waren oder im toten Winkel der gesellschaftlichen | |
| Aufmerksamkeit. Die Hochbetagten, die Kranken und Dementen in | |
| Pflegeeinrichtungen. Aber auch Familien, die sich eben nicht mit zwei | |
| Tablets hinsetzen können, um ihre Kinder zu Hause zu beschulen, abgesehen | |
| davon, dass der Netzempfang viel zu schlecht ist. | |
| Hinter uns liegt eine Woche der [1][Lockerungsforderungen]. Boris Palmer | |
| von den Grünen hat über Schutzmaßnahmen für ältere Menschen gesagt, da | |
| würden möglicherweise „Menschen gerettet, die in einem halben Jahr sowieso | |
| tot wären“. Wie sehen Sie das? | |
| Boris Palmers Aussage ist zynisch. Ab welchem Lebensalter soll die Frist | |
| denn verwirkt sein, bis zu der eine Gesellschaft ihre Alten schützt? Hinzu | |
| kommt, dass durch die Pandemie auch jüngere Leute gefährdet sind. | |
| Zuvor hatte sich schon [2][Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu Wort] | |
| gemeldet. Er sagte, das Recht auf Leben gelte nicht uneingeschränkt und sei | |
| daher – anders als die Menschenwürde – nicht das höchste Gut. | |
| Es ist auch in ethischen Fragen nicht ganz gleichgültig, wer spricht, ob es | |
| ein gesunder junger Mann ist oder jemand im Alter von Wolfgang Schäuble mit | |
| offensichtlich erhöhtem Risiko. Der Bundestagspräsident hat eigentlich nur | |
| auf das Grundgesetz hingewiesen. Der Staat kann und soll nicht alle | |
| Lebensrisiken ausräumen. Für Unendlichkeit ist er nicht zuständig. Die | |
| Würde der Freien und Gleichen kann auch bedeuten, dass Menschen in Würde | |
| sterben. Schäuble macht auf falsche Hoffnungen und leichtfertige | |
| Versprechungen aufmerksam. Manchmal führt das zu anspruchsvollen | |
| Abwägungen. Absoluten Gesundheitsschutz kann es nicht geben, wenn | |
| wirtschaftliches Überleben, die Resilienz der Psyche oder | |
| Bildungsbiografien nicht kolossalen Schaden nehmen sollen. Entscheidend | |
| ist, wie wir trotz der zurückgewonnenen Freiheiten die besonders | |
| Gefährdeten schützen, damit nicht sie den Preis für die „neue Normalität�… | |
| zahlen. | |
| Sprechen Sie von gegenseitiger Ausgrenzung? | |
| Natürlich gibt es Prioritäten, die eine Gesellschaft setzt, oft ohne | |
| Rechenschaft abzulegen. Wir haben doch, vorsichtig gesagt, alle eine Art | |
| Triage im Kopf. Was ist im Zweifel wichtiger? Das muss man offenlegen und | |
| diskutieren. Die Menschenwürde ist deswegen so unbedingt, weil sie nicht | |
| nur Aussagen über unser aller Leben trifft. Sie nimmt auch die Frage in den | |
| Blick, wie wir mit dem Sterben umgehen. Damit hat sich der Ethikrat bereits | |
| ausführlich befasst, und es gab kontroverse und gute Debatten dazu im | |
| Deutschen Bundestag. Es ist ja nicht so, dass uns erst in Zeiten der | |
| Pandemie die eigene Sterblichkeit vor Augen geführt wird. Wenn es hier | |
| überhaupt eine Botschaft gibt, dann die, auf absehbare Zeit mit radikaler | |
| Ungewissheit leben zu müssen. | |
| Gesundheitspolitik war noch nie darauf ausgerichtet, uneingeschränkt das | |
| Leben aller zu retten. Woher rührt dieser mitunter beinahe kindliche | |
| Anspruch gegenüber dem Staat auf Schutz und Freiheit zugleich? | |
| In der Tat muss der Staat Strukturen schaffen, um möglichst alle Leben zu | |
| retten. Gleichzeitig kann er das individuelle Lebensrisiko nicht aufheben. | |
| Der Staat kann nicht viel dagegen tun, wenn ich von der Leiter falle oder | |
| beim Skifahren verunglücke. Trotzdem ist es richtig, große Ressourcen zu | |
| mobilisieren, damit möglichst viele Menschen gut und lange leben können. Zu | |
| einem anspruchsvollen Verständnis von Gesundheit gehört allerdings mehr als | |
| körperliches Wohlergehen. Auch psychische Stabilität ist für eine | |
| Gesellschaft wichtig. | |
| Erwartet dieses Land eine Welle des Kummers? | |
| Ja. An Telefonen und in Briefen ist diese Welle schon da. Nach dem Schock | |
| gibt es jetzt parallel eine Phase der Verdrängung und der Trauer bei denen, | |
| die jetzt schon viel verloren haben. Bei anderen ist der Kummer noch stumm. | |
| Aus der Seelsorge weiß ich aber, dass existenzielle Ängste zunehmen. Die | |
| Unsicherheit bei Soloselbstständigen, Unternehmern, bei Künstlern. Diese | |
| Gefährdung muss der Staat jetzt in den Blick nehmen. Aber auch die | |
| Gesellschaft kann viel tun. Zu Beginn der Pandemie gab es eine Welle der | |
| Zugewandtheit. Die verschwindet jetzt in der Konkurrenz der Forderungen. | |
| Der Ton ist laut, nervös und ruppig. Hinter dem verständlichen Lobbyismus | |
| starker Kräfte bleiben die leiseren Anliegen vermutlich ungehört. Die | |
| Bundesliga hat einfach anderen Einfluss als alleinerziehende Mütter mit | |
| zwei Kindern. | |
| Geht es um die Frage nach Geld oder Leben? | |
| Es geht in der Tat um sehr viel Geld. Massiver Steuerausfall, Rezession, | |
| das heimliche Sterben ganzer Kulturbereiche. Es geht aber nicht nur um | |
| Arbeitsplätze, um Zukunftschancen. Es geht auch um die Frage: Wie wollen | |
| wir denn in Zukunft leben, wirtschaften, mobil sein, lernen? Deshalb ist | |
| diese Gegenüberstellung „Geld oder Leben“ für einen Westerndialog super, | |
| aber für die Beschreibung der Lebenswirklichkeit ungeeignet. Die Frage ist | |
| doch eher: Was machen wir, wenn das Geld knapper wird? Ist das schnelle | |
| Zurück zu dem Zustand vor der Krise wirklich eine so gute Idee? Wir müssen | |
| über intelligente Innovationen und Transformationen streiten. In meiner | |
| Kirche diskutieren wir das kontrovers. | |
| Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger, | |
| befürchtet, dass Frauen aufgrund der ökonomischen Folgen der Pandemie „eine | |
| entsetzliche Retraditionalisierung“erfahren werden. Wie sehen Sie das? | |
| Es ist zu früh, das zu sagen. Ihre Beobachtungen teile ich aber. In den | |
| systemrelevanten Bereichen wie Pflege, Handel, Dienstleistungen arbeiten | |
| viel mehr Frauen. Sie sind da entweder mehr denn je gefordert oder | |
| verlieren am schnellsten ihre Jobs. Dazu oft Küchenschule und | |
| Wohnzimmerkita. Da steigt der psychische Druck, alles trotzdem richtig | |
| machen zu müssen. Geteilte Sorgearbeit ist immer noch die Ausnahme, wenn es | |
| ernst wird. | |
| Sie sind viel auf Twitter unterwegs und diskutieren dort. Was sagen Sie | |
| Leuten, die aus dem momentanen Eingriff in ihre Grundrechte eine | |
| persönliche Widerstandspflicht gegen den Staat ableiten? | |
| Öffentlich die drastischen Einschnitte in die Grundrechte zu thematisieren | |
| ist nachgerade Bürgerinnenpflicht. Die Frage ist aber, wie das geschieht! | |
| Daraus eine Analogie zum Nationalsozialismus abzuleiten, von | |
| „Virologendiktatur“ oder Ähnlichem zu schwadronieren finde ich unerträgli… | |
| geschichtsvergessen. Mich beunruhigt, wie schnell kluge Menschen übelsten | |
| Verschwörungstheorien aufsitzen, oft verbunden mit offensivem | |
| Antisemitismus. Da inszenieren sich die einen als widerspenstige | |
| Untertanen, die anderen als die neue, wahre Zivilgesellschaft. Das ist viel | |
| gefährlicher als die Beschwörung von „Deutschtum und Volk“, weil so auch | |
| Leute aus dem eher linken Spektrum für diese Art von Aufstandsfolklore | |
| anfällig werden. Mündige Bürger:innen sind aber in der Lage, die | |
| Einschränkungen und ihre Gründe kritisch zu reflektieren. Die Frage der | |
| Angemessenheit muss weiterhin diskutiert werden – aber klug und abwägend. | |
| Ist diese Entwicklung ein Thema für den Ethikrat? | |
| Der neue Ethikrat hat sich noch nicht konstituiert. Dass der Ethikbedarf, | |
| das ruhige, interdisziplinäre Abwägen und Klären von Argumenten, in den | |
| kommenden Monaten wichtig bleibt, zeigen schon die schattenöffentlichen | |
| Diskussionen über den sogenannten Immunitätspass. Es wird schnell schrill | |
| und laut. Die Unterstellung einer staatlichen Impfpflicht wird bei Demos | |
| mit dem Tragen des gelben Sterns in Zusammenhang gebracht. Das ist eine | |
| teuflische Aneignung der Schoah. Der Ethikrat hat für mich die Funktion | |
| zeitnaher Beratung, aber auch der Differenzierung, wo einfache Lösungen wie | |
| Heilsbotschaften erscheinen und gehetzte Entscheidungen ungeahnte | |
| Nebenfolgen haben könnten. | |
| 10 May 2020 | |
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| Anja Maier | |
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