| # taz.de -- Linken-Chefin über Zukunft der Partei: „Entfremdung? Das trifft … | |
| > Laut Susanne Hennig-Wellsow hat die Linke das Potential, grüne Themen in | |
| > die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Außerdem möchte sie die | |
| > individuelle Freiheit stärken. | |
| Bild: Linken-Vorsitzende Hennig-Wellsow sieht den Klimawandel als größte Hera… | |
| taz: Frau Hennig-Wellsow, welche Rolle spielt das Thema Klimaschutz für die | |
| Linkspartei? | |
| Susanne Hennig-Wellsow: Eine zentrale. Die [1][Bekämpfung des Klimawandels] | |
| ist die größte Herausforderung, die wir als Gesellschaft zu bewältigen | |
| haben, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern global. Und aus Sicht der | |
| Linken geht das nur mit einem sozialen Fundament, das es allen Menschen | |
| ermöglicht, den notwendigen Wandel mitzugestalten. | |
| Wie erklären Sie dann, dass die Fraktion im Bundestag, zu der Sie ja auch | |
| gehören, [2][den Autofan Klaus Ernst] im Dezember zum Vorsitzenden des | |
| Ausschusses für Klima und Energie bestimmt hat? | |
| Es gab um die Besetzung dieses Ausschusses sehr viele Diskussionen. Janine | |
| Wissler und ich hätten als Parteivorsitzende der Linken gern eine andere | |
| Person dort gesehen. Die Fraktion hat sich in der Mehrheit für Klaus Ernst | |
| entschieden. Er wird zeigen, ob er den klimapolitischen Weg der Partei auch | |
| an der Seite von Bewegungen, die sich dem Pariser Abkommen verpflichtet | |
| fühlen, gehen wird. | |
| Was erwarten Sie denn konkret von ihm? | |
| Ich fände es gut, wenn er sich mit Fridays for Future, Ende Gelände und | |
| anderen Bewegungen auseinandersetzt und hilft, eine Debatte auf den Weg zu | |
| bringen, wie unterschiedliche Generationen beim Thema Klimaschutz an einem | |
| Strang ziehen können. Und ich habe den Anspruch an ihn, dass wir gemeinsam | |
| sehr deutlich machen, dass fossile Energien nicht die Zukunft dieses | |
| Planeten sind. | |
| Dazu gehört ja dann auch Erdgas. | |
| Und das meine ich auch. | |
| Klaus Ernst und andere in der Linksfraktion werben aber offensiv für die | |
| Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2. Die Linkspartei drückt sich | |
| um eine klare Position herum. Im Wahlprogramm wurde [3][Nord Stream 2] | |
| nicht erwähnt. | |
| Im Wahlprogramm fordern wir ein Erdgasausstiegsgesetz und den Rückzug des | |
| Staates aus Investitionen, die der fossilen Energiegewinnung dienen. Das | |
| heißt also, wer für Nord Stream 2 wirbt, muss gleichzeitig ein | |
| Ausstiegsszenario formulieren. | |
| Ist es aus Ihrer Sicht notwendig, dass Nord Stream 2 den Betrieb aufnimmt? | |
| Für die Energieversorgung brauchen wir die Trasse und diese | |
| Erdgaslieferungen grundsätzlich nicht. Das ist aktuell allerdings schwierig | |
| zu vermitteln, da mit der Verknappung von Gas die Energiepreise steigen. | |
| Tausende Linke haben einen offenen Brief gegen die Wahl von Ernst | |
| unterschrieben. Wie ist die Stimmung in der Partei, nachdem die Fraktion | |
| sich für ihn entschieden hat? | |
| Erwartbar unterschiedlich. Die einen sagen, mit der Personalie wird eine | |
| politische Entscheidung getroffen, die nicht der Klimapolitik der Linken | |
| entspricht. Und andere sagen, jetzt lasst ihn doch erst mal machen. | |
| Es gab über die Linke hinaus enttäuschte Reaktionen von Menschen und | |
| Organisationen, die der Linken nahestehen, wie zum Beispiel [4][Carola | |
| Rackete] und Fridays for Future. Kann der Fall Ernst langfristig zum Bruch | |
| zwischen der Linkspartei und solchen Bewegungen führen? | |
| Nein, das sehe ich nicht. Die Grünen in der Ampel werden wahrscheinlich die | |
| von ihnen versprochenen Klimaziele nicht erreichen können. Das ist | |
| bedauerlich in der Sache. Zugleich liegt darin eine Aufgabe für die Linke. | |
| Denn viele Menschen glauben an die Linke. Daran, das wir eine wesentlich | |
| radikalere Klimapolitik machen könnten, weil wir eine gesellschaftliche | |
| Perspektive in den Mittelpunkt rücken und nicht einfach weitermachen wollen | |
| in einem grünen Kapitalismus. Und wir können uns keinen Ausfall der Partei | |
| Die Linke leisten. Die Nominierung und die Wahl von Klaus Ernst spiegelt | |
| vor allem eine Form von Entfremdung in den politischen Zielsetzungen und | |
| der Strategie zwischen Partei und Fraktionsspitze wieder. | |
| Sie sprechen von Entfremdung zwischen Partei und Fraktion. So ernst ist es? | |
| Ja, das trifft es. Man könnte auch formulieren: eine sehr unterschiedliche | |
| Sicht auf die Funktion der Linken in einer sich rasant wandelnden | |
| Gesellschaft und ihre Herausforderungen. Wir werden aber daran arbeiten, | |
| dass der Abstand kleiner wird und nicht größer. Miteinander reden ist das A | |
| und O. | |
| Welche gesellschaftliche Perspektive soll die Linke in den Mittelpunkt | |
| rücken? In einem Strategiepapier schreiben Janine Wissler und Sie, es gehe | |
| nicht mehr nur um die gerechte Verteilung von Reichtum, es gehe um eine | |
| andere Art des Arbeitens und Wirtschaftens. | |
| Mehr Verteilungsgerechtigkeit lässt sich mit politischen Mitteln auch im | |
| Kapitalismus erreichen. Wir, die Linke, wollen perspektivisch eine andere | |
| Gesellschaft, eine solidarische Gesellschaft, die tatsächlich ihre | |
| Wirtschaftsweise verändert, die gerecht miteinander umgeht, die nicht alles | |
| dem Profit unterordnet. In der es darum geht, ein gutes Leben für alle zu | |
| ermöglichen. | |
| Die Idee eines grünen Kapitalismus, wie sie die Ampel verfolgt, bedeutet | |
| doch, dass wir die derzeitigen Wirtschaftsstrukturen und die | |
| gesellschaftlichen Strukturen beibehalten. Diese fußen aber auf einem | |
| haltlosen Wachstum, sie spalten die Gesellschaft in arm und reich und sie | |
| gehen mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen einher. | |
| Das Problem ist doch: Im Alltag traut sich die Linke im Bundestag noch | |
| nicht mal ein Ja oder Nein zu einer Impfpflicht in Pflegeheimen zu, sondern | |
| enthält sich. Wie soll man der Linken dann zutrauen, dass sie tatsächlich | |
| eine ganze Gesellschaft verändern kann? | |
| Dass wir nicht an dem Punkt sind, das sehe ich auch. Aber Fakt ist, dass | |
| wir jetzt eine Partei sind, die sich neu aufrappelt, die eine Idee davon | |
| hat, was dieser Gesellschaft fehlt. Und das sind Solidarität, Freiheit, | |
| Gleichheit. | |
| Solidarität und Gleichheit o.k. Aber Freiheit? Kaum eine Gesellschaft hält | |
| individuelle Freiheitsrechte so hoch wie unsere. Mit der FDP ist zudem eine | |
| Partei in der Regierung, die sich als Garantin für diese sieht. | |
| Wir sind der komplette Gegenpol zum Freiheitsbegriff der FDP. Freiheit bei | |
| der FDP heißt zugespitzt: Jede und jeder kann machen, was sie oder er will. | |
| Staat und Gesellschaft sind notwendige Übel. Andersherum wird ein Schuh | |
| draus: Erst eine vernünftig eingerichtete Gesellschaft ermöglicht | |
| individuelle Freiheit für jede und jeden. Dort sind wir aber noch nicht. | |
| Wir als Linke sagen, wir wollen die individuelle Freiheit für jede und | |
| jeden garantieren. Und wir wollen die Voraussetzungen dafür stärken. Das | |
| bedeutet, wir brauchen ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit. Diejenigen, die | |
| auf ganz viel Geld sitzen, sollen davon etwas abgeben, damit es Freiheit | |
| für alle geben kann. Wir brauchen auch andere Beschäftigungsbedingungen, um | |
| allen mehr politische Teilhabemöglichkeiten zu ermöglichen. Wer den ganzen | |
| Tag malocht, geht nach Feierabend nicht mehr in eine Stadtratssitzung oder | |
| zur Parteiversammlung. | |
| Janine Wissler und Sie haben angekündigt, die Linke neu aufstellen zu | |
| wollen. Was ist denn Ihrer Meinung nach schief gelaufen, warum klebt die | |
| Linke bei 5 Prozent? | |
| Aus meiner Sicht gibt es eine Vielzahl von Ursachen. Das ist zum Beispiel | |
| das bisherige Verhältnis zwischen Partei und Fraktion. Dazu kommt unsere | |
| Kommunikation. Wir erreichen Bauch und Herzen von Menschen nicht, eventuell | |
| noch die Köpfe. Und das hat etwas mit unserer gesellschaftlichen | |
| Verankerung zu tun. Die hat in den letzten Jahren immer stärker abgenommen. | |
| Wir hatten zeitweise zwar viele Eintritte, aber wir haben es nicht | |
| vermocht, die Parteistrukturen in Ost wie West nachhaltig zu erneuern. Dazu | |
| kommt, dass wir viele Konflikte nicht geklärt haben. | |
| Wie sich die Linke zur EU verhält, zum Beispiel. | |
| Richtig. Aber auch in der Frage, wie wir mit Migration umgehen und welches | |
| die richtigen Mittel sind, um die Coronapandemie zu bekämpfen. Eine Partei, | |
| die Bedeutung haben will, die von sich behaupten will, sie ist für die | |
| Menschen wichtig, weil sie deren Leben zum Besseren verändern kann, die | |
| muss auch genauso handeln. Und das bedeutet, Entscheidungen zu treffen und | |
| konsequent vorzugehen. | |
| Sie waren eine derjenigen, die im Bundestagswahlkampf sehr stark auf das | |
| Thema Regierungsbeteiligung gesetzt haben. War das vielleicht auch ein | |
| Fehler? | |
| Ich halte es nicht für falsch. Ein Fehler war, dass wir nicht schon über | |
| viele Jahre hinweg deutlich gesagt haben, wir sind bereit, alle Hebel in | |
| Bewegung zu setzen, um die Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Und das | |
| hat sich auch in dieser Wahl niedergeschlagen. Und dann gab es natürlich | |
| auch gegenläufige Entwicklungen wie die Afghanistanentscheidung im | |
| Bundestag. | |
| Ein Teil der Linken hat sich enthalten, einige haben zugestimmt und andere | |
| dagegen. Was wäre am besten gewesen? | |
| Aus meiner Sicht hätten wir dem Einsatz ausnahmsweise zustimmen müssen. Es | |
| gab in der Bevölkerung wenig Verständnis dafür, warum man einer | |
| Evakuierungsmaßnahme nicht zustimmen kann. Es gibt sicher politische | |
| Gründe, warum man das noch sehr viel differenzierter betrachten kann. Aber | |
| im Wahlkampf sind Zwischentöne selten vernehmbar. Da wäre ein klares Signal | |
| für die Rettung der Menschen in Not angebracht gewesen. | |
| Warum wurden eigentlich keine Konsequenzen aus diesem verkorksten Wahlkampf | |
| gezogen? Die Vorsitzenden der Bundestagsfraktion bleiben im Amt, obwohl | |
| Dietmar Bartsch Spitzenkandidat war. Und der Bundesgeschäftsführer Jörg | |
| Schindler, der den Wahlkampf gemanagt hat, macht ebenfalls weiter. | |
| Der jetzige Parteivorstand ist erst seit Februar im Amt. Wir haben damals | |
| eine sehr schwierige Aufgabe übernommen, die jetzt noch größer geworden | |
| ist, nämlich die Neuaufstellung der Partei. Ich habe aber darüber | |
| nachgedacht, ob ich persönliche Konsequenzen ziehe. | |
| Was hat Sie bewogen weiterzumachen? | |
| Dass ich in dieser Situation nicht gehen und einen noch größeren | |
| Scherbenhaufen hinterlassen kann. Weil wir Vorsitzenden es sind, die den | |
| Prozess einer Neuaufstellung organisieren müssen. Ob wir das schaffen, das | |
| wird sich über die nächsten Monate zeigen. Aber wenn ich feststelle, dass | |
| ich nicht die Richtige dafür bin, dann werde ich auch nicht an meinem Amt | |
| kleben. Das ist so. Und das würde ich auch allen anderen empfehlen. | |
| Woran messen Sie, ob Sie die Richtige sind? | |
| Der entscheidende Punkt ist, ob es uns gelingt, die Partei in eine neue | |
| Zeit zu führen und ob es uns gelingt, die Herzen der Genossen neu zu | |
| entfachen. Nur wenn wir das schaffen, werden wir in der Gesellschaft | |
| Begeisterung für unsere Ideen entfachen können. Die Europawahl 2024 wird | |
| entscheidend sein für uns. | |
| Wie wollen Sie die Stimmung denn bis dahin heben? | |
| Ich habe keine fertigen Antworten. Wir werden uns darüber vergewissern, | |
| welche Rolle die Linke hier und heute spielen kann und muss. Der | |
| Bundesparteitag in Erfurt im Juni soll erste Antworten geben. Und der | |
| Parteitag 2023 muss dann definitiv auch eine Strategie für die nächste | |
| Bundestagswahl und personelle Entscheidungen auf den Weg bringen. | |
| Wie wichtig ist es in diesem Prozess der Neuaufstellung, dass Partei und | |
| Fraktion an einem Strang ziehen? | |
| Sehr wichtig. Wir haben ja im Parteivorstand schon darüber diskutiert, dass | |
| wir auf dem Parteitag 2023 auch eine Empfehlung für die Besetzung der | |
| nächsten Fraktionsspitze und damit auch für die SpitzenkandidatInnen 2025 | |
| abgeben werden. | |
| Dann werden diese wohl andere sein als die derzeitigen? | |
| Mit großer Wahrscheinlichkeit ja. | |
| 2 Jan 2022 | |
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| Anna Lehmann | |
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