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# taz.de -- Linke Parteien in Europa: Nah bei den Leuten, fern der Macht
> Die linken Parteien in Europa sind in der Krise. Wenn sie zu Orten der
> Hoffnung und des Optimismus werden, geht es wieder aufwärts.
Bild: Man hat sich damit abgefunden, die schlimmsten Auswirkungen der neolibera…
Die Diagnose, dass die Linke in einer Krise sei, ist fast so alt wie alle
heute lebenden Linken. Sie hat also eigentlich keinen großen
Neuigkeitswert. Aber seien wir ehrlich: So desolat wie im Augenblick waren
die politischen Kräfte links der Mitte noch nie in Europa.
Sozialdemokratien schrammen an der 20-Prozent-Marke herum – wenn sie nicht
gleich völlig untergehen, wie die einstmals glorreichen französischen
Sozialisten oder die niederländische Partij van de Arbeid, die zuletzt
gerade noch 5,7 Prozent der Wählerstimmen holte. Die griechische Pasok
besteht faktisch nicht mehr. Die österreichischen Sozialdemokraten könnten
da auf ihre 27 Prozent bei der jüngsten Wahl noch stolz sein, wären sie
nicht in die Opposition gefallen, was zur Bildung einer rechts-ultrarechten
Koalition führte. Dagegen rangelt [1][die SPD] gerade mit der AfD um Platz
zwei in den Umfragen.
Linke Parteien jenseits der Sozialdemokratie können dieses Vakuum nirgends
auffüllen. Die deutsche Partei „Die Linke“ stagniert seit Jahren bei 10
Prozent und hat das Monopol der Opposition gegen das System an die extreme
Rechte verloren. Allein im Sonderfall Griechenland gelang es [2][der linken
Syriza], zumindest für einige Jahre, zur neuen hegemonialen Kraft zu
werden.
Konnte man vor ein paar Jahren noch auf die Möglichkeit einer neuen Allianz
sozialdemokratischer und linker Regierungen von Portugal über Griechenland
bis Schweden, Österreich und Frankreich setzen, ist heute von einer solchen
Achse kaum noch etwas übrig. Allein die britische Labour Party unter Jeremy
Corbyn ist eine überraschende Erfolgsgeschichte.
## Fundamentale Krise
Aber auch jenseits der blass- oder tiefroten Parteienformationen und
einiger grüner Tupfer gibt es keine breiten gesellschaftskritischen
Bewegungen, die sich auf einen Ton stimmen können. Insofern ist hämisches
Fingerzeigen der Bewegungslinken auf die Parteilinken unangebracht, denn
die Grass-Roots-Bewegungen sind selbst Teil des Problemkomplexes. Es sind
ja im besten Falle lebendige Basisbewegungen, denen es gelingt, einen
Zeitgeist zu prägen, die den Boden für Wahlerfolge von Mitte-links-Parteien
bereiten. Aber auch da gibt es wenig Positives zu vermelden.
Diese Krise ist also eine fundamentale. Ihre Hauptursache ist die geistige
und konzeptionelle Auszehrung des gesamten linken Milieus. Klar, es gibt
immer eine endlos lange Liste von Konzepten: von Maschinen- und
Robotersteuern bis zur Bürgerversicherung, von Bildungsreformen bis zu
höheren Erbschaftsteuern und dem Austrocknen von Steueroasen – aber fügt
sich das zu einem kongruenten Bild, einem Narrativ für eine bessere
Gesellschaft, an die die politischen Anführer der Mitte-links-Parteien noch
glauben? Und zwar im Sinne von: Wir haben hier eine Idee, und wenn wir
diese umsetzen, dann werden wir unsere Gesellschaften auf einen eminent
besseren Pfad setzen; und diese Umsetzung ist auch möglich.
Leider glaubt kaum ein Spitzenpolitiker, kaum eine Spitzenpolitikerin aus
dem Spektrum der Linksparteien an so etwas. Man hat sich damit abgefunden,
die schlimmsten Auswirkungen der neoliberalen Ordnung zu zügeln. Aber damit
sendet man das Signal: „Wählt uns, denn mit uns wird es langsamer
schlechter.“ Wen soll das begeistern?
## Mit Hoffnung wählen
Es fehlt also nicht nur an fünfzehn oder fünfhundert guten Vorschlägen, von
denen manche vielleicht gewagt genug wären, auch noch jemanden aufzuregen –
es fehlt vor allem an einer Geschichte dazu. Es ist ein Irrglaube,
anzunehmen, eine Handvoll guter Ideen würde sich schon von selbst zu einem
Bild summieren, „wofür man steht“. Das tun sie nicht, besonders wenn sie
sich um das Kleingedruckte der Sozialversicherungswirtschaft oder der
Investitionsanreize drehen. Die Ideen müssen durch eine Geschichte
zusammengehalten werden. Sie müssen von Personen verkörpert werden. Und all
das muss glaubwürdig sein.
Die Linken bräuchten mehr Mut zum Konzept, um zu einer glaubwürdigen
Alternative zu werden. Der Zeit-Redakteur Bernd Ulrich hat dafür die schöne
Formel von der „besonnenen Radikalität“ geprägt. Radikal nicht im Sinne v…
Krawall schlagen, sondern im Sinne von Konzepten, die über die
Bescheidenheit des Klein-Klein hinausgehen. Nur so kann der Nebel des
Dauerdepressiven weggeblasen werden, der über unseren Gesellschaften hängt,
dieses Klima der Angst, dass der Boden unter den Füßen schwankender wird.
Linke Parteien müssen Parteien der Hoffnung sein und des Optimismus.
Owen Jones, der britische Blogger, Aktivist und Guardian-Kolumnist, hat
dazu unlängst gescheite Sachen gesagt. „Was haben Ronald Reagan und
Spaniens radikale Podemos-Partei gemeinsam?“, schrieb er. „Wenig, mögen Sie
annehmen. Ersterer war ein dogmatischer Ideologe, der die freien Märkte
wüten lassen wollte; Letztere sind, teilweise, eine direkte Rebellion gegen
dieses Dogma. Aber beide definierten ihre gegensätzlichen Philosophien auf
ähnliche Weise: mit Hoffnung, Optimismus und Ermächtigung.“ Reagans Mantra
war „Morning in America“. Der Podemos-Anführer Pablo Iglesias sagt: „Wir
repräsentieren nicht nur die Stimme der Wütenden, sondern die Stimme der
Hoffnung.“ Und er fügt hinzu: „Wann war das letzte Mal, dass Ihr mit
Hoffnung gewählt habt?“
## Zu „postmodern“ geworden?
Die Menschen, die den Status quo satthaben, werden niemandem Vertrauen
schenken, der nicht glaubwürdig für etwas Neues steht. Aber das wäre nur
ein erster Schritt. Linke Parteien waren immer dann stark, wenn sie Fäden
und Netzwerke geknüpft haben, wenn sie den Alltag in den Stadtvierteln
strukturierten oder einfach nur vor Ort präsent waren. Wenn sie selbst als
Netzwerke und Bewegungen funktioniert haben.
Sigmar Gabriel hat die unsägliche These aufgestellt, dass die
Sozialdemokratien zu „postmodern“ geworden seien, also sich zu viel um
Feminismus und Schwulenrechte gekümmert haben und zu wenig um den
ausgebeuteten Postzusteller, die Verkäuferin oder den Kohlegrubenarbeiter.
Unfug! Sozialdemokratien, die glaubwürdig sind, sind dies in beiden
Milieus, in den liberal-urbanen und den (post-)proletarischen. Und wenn sie
unglaubwürdig sind, sind sie es auch in beiden.
Im Lichte all dessen ist in mancher Hinsicht zumindest die Labour Party
unserer Zeit ein echtes Erfolgsmodell. Mit Jeremy Corbyn hat sie einen Mann
an der Spitze, der nicht gerade mit strahlendem Charisma beschenkt ist, der
vom Blatt liest und langweilig erschien. Aber er verfügte über die
Glaubwürdigkeit dessen, der sich nicht mit der Oberklasse und dem
Mainstream arrangierte und seit rund dreißig Jahren das Gleiche sagt.
## Koalition von Engagierten aus verschiedenen Milieus
Man sollte nun den [3][Erfolg von Labour] nicht übertreiben. In der
Opposition ist es natürlich leichter, Glaubwürdigkeit zu erlangen, als sie
in der Regierung zu behalten (wobei beides verdammt schwer ist). Labour
steht heute in den Umfragen bei sagenhaften 40 Prozent – aber angesichts
der unfähigen Theresa-May-Regierung hat Labour es da auch leichter. Zudem
hilft das Mehrheitswahlrecht, da es zu einem Herdentrieb zu den großen
Parteien der jeweiligen Lager führt. Die Umfragen bei der nächsten Wahl in
Ergebnisse zu verwandeln kann noch schwer werden für Labour, besonders
dann, wenn die Torys Theresa May durch eine unverbrauchte Spitzenfigur
ersetzen.
Aber dennoch lässt sich bei Labour durchaus Modellhaftes abschauen. An der
Basis, in den Stadtteilen und kleinen Städten, entstand dort wieder ein
lebendiges Parteileben, in der dezentralen Parteiarbeit entwickelte sich
das Bild, dass sich die Partei um die Menschen kümmert. Zudem formierte
sich eine Bewegung junger Leute, die sich für Corbyn und seinen Kurs
starkmachen, angeführt von der Bewegung „Momentum“. Genau diese Kombination
aus Bewegung und Partei führte auch Syriza nach 2010 von der Kleinpartei
zur 40-Prozent-Partei. So entwickelt sich eine Art Mitmachpartei, die der
Falle „entweder Traditionspartei oder neue, linksliberale urbane
Mittelschichten“ entgeht – indem sie alle Milieus repräsentiert.
In Großbritannien entsteht gerade das, was große progressive Parteien immer
ausgezeichnet hat: eine Koalition von Engagierten aus verschiedenen
sozialen Milieus, von Menschen, die unterschiedliche Lebensarten pflegen,
aber doch das Bewusstsein haben, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Ganz
dem Wort von Bernie Sanders entsprechend, dass „Demokratie etwas anderes
ist als ein Fußballspiel. Demokratie ist kein Zusehersport.“
## „Oppositionelle Regierende“
Zuletzt noch ein Punkt, auf den der Gesellschaftsanalytiker Oliver Nachtwey
(„Die Abstiegsgesellschaft“) jüngst hinwies: Es ist ja nicht falsch, dass
die linken politischen Eliten „selbst Teil des Establishments geworden“
sind. Nicht selten erwecken sie den Anschein, als wollten sie von den
ökonomischen Machteliten akzeptiert werden. Oder sogar selbst Teil davon
werden. Zum Teil ist das Ausdruck von schwachem Selbstbewusstsein: Man
möchte von der ökonomischen Superklasse und deren Repräsentanten, diesen
Verkörperungen der modernen Erfolgskultur, respektiert werden.
Es ist aber nicht die Aufgabe von Linken, sich der Macht anzubiedern. Es
ist ihre Aufgabe, sie zu bekämpfen. Parteien der demokratischen Linken
müssen immer in Opposition sein. Sogar wenn sie regieren, müssen sie so
etwas wie „oppositionelle Regierende“ sein.
Verlieren Parteien diese Identität, untergräbt das jede Glaubwürdigkeit.
Kein Mensch wird einer Anbiederungslinken glauben, dass sie noch die
Energie hätte, gegen die Widerstände der herrschenden Eliten alternativ zum
neoliberalen globalen Kapitalismus Entwicklungspfade durchzusetzen.
25 Feb 2018
## LINKS
[1] /SPD/!t5008456
[2] /Syriza/!t5011009
[3] /Labour/!t5008668
## AUTOREN
Robert Misik
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