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# taz.de -- Debatte Politische Teilhabe: Ja, nein, vielleicht
> Die Demokratie verkommt immer mehr zum interaktiven Mitmachspiel. Volks-
> und Mitgliederentscheide sind das Gegenteil von wirklichem Engagement.
Bild: Es herrscht eine Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen
Ja. Nein. Vielleicht. Als ich in der vierten Klasse war, wurden mit dieser
dreigliedrigen Entscheidungsformel Liebesbeziehungen begonnen und
aufgegeben. Auch in der fünften ging es noch so. Auch in der sechsten.
Irgendwann hatten wir aber alle begriffen, dass Beziehungen schmerzhafter,
komplexer und mitunter leidenschaftlicher sind als dieser Dreiklang.
Vermutlich wussten wir es mit zehn schon, wir trauten uns nur nicht zu mehr
Worten.
Seit einigen Jahren scheint es eine Sehnsucht zu geben, wichtige
Entscheidungen des Lebens, des öffentlichen mehr noch als des privaten,
wieder auf genau diese drei Worte zu verknappen. Ja. Nein. Enthaltung. Es
ist der Dreiklang der Plebiszite und Mitgliederentscheide, das scheinbare
Urteil über die Groko, den Flughafen Tegel und den Brexit, und das Lied
wird umso lauter vorgetragen, desto weniger die repräsentative Demokratie
noch begeistert oder ihr überhaupt geglaubt wird.
Am Wochenende durften 463.722 Bürger über die Bildung der Bundesregierung
abstimmen. Das hatte freilich wenig mit repräsentativer Demokratie zu tun,
es war eher eine Art Bonuszahlung, um die SPD-Mitglieder bei der Stange zu
halten und ihnen etwas von Mitbestimmung vorzusingen. Oder, wie Olaf Scholz
es ausdrückte: Das Mitgliedervotum hat die Partei zusammengeführt. 50.000
Neueintritte waren zudem zu verzeichnen gewesen. Glückwunsch. Anders
gesagt: Dass, wer sich bei diesem Prozedere ausgeschlossen fühlte, gegen
ein geringes Entgelt kurzfristiges Parteimitglied der SPD werden konnte,
machte die Idee von politischen Parteien zur lachhaften
Ramschveranstaltung. Wir schließen! Alles muss raus! Mitbestimmung so
günstig wie noch nie!
Den Wähler wieder zu erreichen gelingt, wie ich vermute, nur partiell und
bloß kurzfristig durch derlei interaktive Mitmachspiele. Solch ein Manöver
lenkt vor allem von jenen Leerstellen ab, an denen klare, vermittelbare
Konzepte stehen sollten, Problemanalysen und Lösungsvorschläge.
## Nicht alles, was geht, ist auch gut
Eine Regierungsbildung ist zudem nicht nur ein Kinderparadies für den
eigenen Nachwuchs oder ein Programm, um die Familienbindung zu vertiefen.
Natürlich ist es der SPD freigestellt, wie sie innerparteilich zu ihren
Entscheidungen kommt, solch ein Prozedere verstößt nicht gegen geltendes
Recht, ebenso wenig, wie die Brexit-Abstimmung gegen das britische Recht
verstoßen hat. Nur ist nicht alles, was geht, auch gut. Unabhängig von der
verfassungsrechtlichen Möglichkeit höhlen solche Verfahren die Idee der
repräsentativen Demokratie aus.
Diese Demokratieform setzt schließlich nicht aus versteckter Machtgier
darauf, dass der Bürger einen Vertreter wählt, der sich für ihn in die
relevanten Fragen einarbeitet und Entscheidungen trifft. Es gibt schlicht
Grenzen dessen, was dem Bürger zugemutet werden kann. Weil es einfach nicht
möglich war, dass sich jeder stimmberechtigte Brite in die komplexen Folgen
(allein die ökonomischen) eines EU-Austritts einarbeitete, blieb die
Brexit-Entscheidung bei den allermeisten ein Bauchgefühl, das sich überdies
gut durch Kampagnen und Medien lenken und leiten ließ.
Es war, ja, auch ein wenig feige: Man wälzte auf die Menge ab, wofür die
entscheidungspflichtigen Politiker allein nicht einstehen wollten. Man
schielte nach der Beliebtheit einer bestimmten Entscheidung, weil man den
Thron des Experten wanken fühlte. Dabei ist es ausgesprochen schlecht,
Teilhabe von Verantwortung zu lösen. Die Rechnung kam, und derzeit ist zu
beobachten, wie die britische Regierung herumhantieren muss mit ihren
Scheidungsverhandlungen. Die allermeisten Bürger, die damals für den Brexit
gestimmt haben, stehen jetzt nicht in der Verantwortung, Wirtschaftsraum
und Arbeitsmarkt neu zu verhandeln. Einige Fragen lassen sich aber eben nur
ausgesprochen schlecht auf den binären Code des Ja/Nein herunterbrechen.
## Recht spezielle Schweiz
Natürlich gibt es das gern herbeizitierte Beispiel der Schweiz mit ihrer
gewachsenen Kultur der Volksabstimmungen. Während die SPD über die Groko
entschied, waren die Schweizer an diesem Wochenende aufgefordert, über die
Rundfunkgebühren in ihrem Land abzustimmen. All jenen, die den
öffentlich-rechtlichen Rundfunk für eine sinnvolle Einrichtung halten, kam
dabei das klare Ja/Nein zugute, denn sicherlich wäre die Entscheidung
anders ausgefallen, wenn man nicht nur für die vollständige Abschaffung der
Gebühren und damit die gänzliche Privatisierung hätte stimmen können,
sondern auch Möglichkeiten dazwischen wählbar gewesen wären: Der halbe
Beitrag. Oder zwei Drittel. Oder ein Drittel. Oder eine andere Ausrichtung
der Sendeformate. Oder, oder … Kompromisse und inhaltliche Gestaltungen
aber sieht das Plebiszit nicht vor.
Nun lässt sich weder das politische Leben der recht speziellen Schweiz mit
ihrer Konsensdemokratie so ohne Weiteres übertragen, noch kann man sagen,
dass die Schweizer Volksabstimmungen gar keine Kritiker hätten. Nicht nur
gibt es Entscheidungen, die man aus linksliberaler Sicht nicht gerade
bejubeln würde, etwa bei Fragen zur Einwanderung oder zum Moscheebau, in
Bereichen also, in denen es um Inklusion versus Exklusion geht. Auch werden
Abstimmungen mitunter als Kampagnen genutzt und die Sichtbarkeit einer
Partei dank solcher Verfahren erhöht. Dasselbe ließ sich auch in Berlin bei
der Tegel-Kampagne der FDP beobachten, die sich mit ihren poppigen
Flugzeugplakaten schnell zum Stadtgespräch gemausert hatte, dabei ging es
ja eigentlich um den Bundestagswahlkampf, in dem die Frage nach dem Tegeler
Flughafen wenig verloren hatte.
Gibt es ihn denn nun eigentlich, den Wunsch nach mehr politischer
Mitbestimmung? Oder ist es eher eine Übersprungshandlung, die dann
eintritt, wenn man auf Facebook alle politischen Artikel, Kommentare und
Katzenvideos gelikt hat? Politische Teilhabe von wirklichem und
langfristigem Engagement zu entkoppeln, ist jedenfalls weder Ja noch Nein,
sondern lediglich das schnöde Vielleicht.
10 Mar 2018
## AUTOREN
Nora Bossong
## TAGS
Krise der Demokratie
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Rechtspopulismus
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