| # taz.de -- LGBT-Rechte in Ostasien: Regenbogen über China | |
| > Im Französischen Viertel von Shanghai können Lesben und Schwule offen zu | |
| > ihrer Sexualität stehen. Doch die Toleranz der Behörden hat ihre Grenzen. | |
| Bild: Bild vom ersten Gay Pride Festival in Shanghai 2009. Jetzt wurden alle Ak… | |
| Shanghai taz | Wer die Kunstausstellung der Shanghai Pride besichtigen | |
| möchte, muss eine ordentliche Portion Spürsinn mitbringen: Die Adresse | |
| führt zu einem Art-déco-Prachtbau an der repräsentativen Uferpromenade des | |
| Huangpu-Flusses, vis à vis der ikonischen Skyline Schanghais. Doch weder | |
| Poster noch Neonschilder weisen an der gläsernen Erdgeschosszeile darauf | |
| hin, dass hier aufstrebende homosexuelle Künstler ihre Werke zur Schau | |
| stellen. Nur wer sich zuvor online registriert hat, wird überhaupt durch | |
| die transparente Zugangsschranke in die Galerie eingelassen – einem Safe | |
| Space, der möglichst wenig Anstoß erregen soll. | |
| Auch die präsentierten Malereien vermeiden explizite Darstellung von | |
| Sexualität, schließlich benötigt jede Ausstellung in China die Genehmigung | |
| des lokalen Kulturbüros. In abstrakten Digitaldrucken im Pop-Art-Stil wird | |
| gleichgeschlechtliche Liebe nur hauchzart angedeutet. Auf einem der Bilder | |
| ist ein sich umarmendes Männerpaar zu sehen, im Hintergrund prangt ein | |
| traditioneller chinesischer Scherenschnitt. Der 29-jährige Künstler Yang | |
| Yiliang erklärte während der Vernissage die melancholische Botschaft hinter | |
| dem vermeintlich idyllischen Werk: Familiäre Einheit und gesellschaftliche | |
| Akzeptanz sind für schwule Männer in China oft nur ferne Utopie. | |
| „From the Community and the Allies“ wurde organisiert von der Shanghai | |
| Pride; einer Organisation, die jeden Sommer bei Filmfestivals und | |
| Diskussionsabenden den Status quo der LGBT-Community der Stadt abzubilden | |
| versucht. Dieses Jahr jedoch haben die Mitglieder in einer ominösen | |
| Stellungnahme nach zwölf Jahren überraschend sämtliche Aktivitäten | |
| eingestellt: „Wir hofften, jedem, der danach suchte, ein Gefühl der | |
| Zugehörigkeit zu vermitteln und ein Umfeld der Inklusion und Liebe zu | |
| schaffen“, heißt es darin. | |
| Mit der Bitte um Anonymität gibt ein weibliches Mitglied der | |
| Pride-Organisation Aufschluss: „Wir haben über die Jahre immer mehr | |
| Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft bekommen. Je populärer wir wurden, | |
| desto stärker hat jedoch auch der Druck der Behörden zugenommen“, sagt die | |
| junge Frau. Bereits in der Vergangenheit mussten Veranstaltungen in | |
| kleinere Örtlichkeiten verlegt werden. Dieses Jahr jedoch haben sich die | |
| Polizeiverhöre und -überwachungen gehäuft. Zudem baten die Behörden | |
| mehrmals zu unangekündigten Drogentests – offenbar um Vorwände zu finden, | |
| gegen die Organisatoren vorzugehen. | |
| ## Polizeiverhöre und Überwachungen | |
| „Es ist fast unmöglich zu wissen, was für Motive die chinesischen Behörden | |
| hegen – etwa ob sie sich speziell gegen die Homosexuellenbewegung richten | |
| oder aber generell gegen die Zivilgesellschaft“, sagt der Filmemacher Fan | |
| Popo, der in Peking ein Queer-Filmfestival geleitet hat, ehe er zuletzt | |
| nach Berlin gezogen ist. Der 34-Jährige hat sich in der Szene mit | |
| Dokumentarfilmen einen Namen gemacht. In „Mama Rainbow“ aus dem Jahre 2012 | |
| begleitete er vier Mütter mit ihren schwulen und lesbischen Kindern. Zu | |
| jener Zeit sei es noch sehr schwer gewesen, chinesische Eltern zu finden, | |
| die offen vor der Kamera zu der Sexualität ihrer Kinder stehen, sagt er. | |
| „Die chinesische Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren jedoch stark | |
| verändert, zumeist in eine positive Richtung“, sagt Fan Popo. | |
| Nichtregierungsorganisationen haben für gesellschaftliche Aufklärung über | |
| sexuelle Minderheiten gesorgt. Auf sozialen Medien tauschen sich junge | |
| Chinesen freimütig über Outing-Erfahrungen aus. Auch die chinesische | |
| Popkultur hat sich längst von starren Gender-Identitäten gelöst. Für ein | |
| Land, das Homosexualität noch bis 1997 unter Strafe gestellt hat, ja bis | |
| 2001 als mentale Krankheit klassifizierte, ist dies eine beachtliche | |
| Entwicklung. | |
| Im liberalen Shanghai sind jene Veränderungen allerorten sichtbar: Im Lucca | |
| 390 treffen sich schwule Chinesen zum Feiern und Trinken, der Treffpunkt | |
| für Lesben ist die schummrig beleuchtete Roxie-Bar. Wer gut vernetzt ist, | |
| taucht tiefer in die Underground-Kultur ab – in die versteckten | |
| Kellerclubs, die monatliche „Drag Queen Nights“ veranstalten. Für Dates | |
| haben Chinas Schwule ihre eigene App: „Blued“, ein Abklatsch der weltweit | |
| verbreiteten Dating-App Grindr, zählt mit rund 50 Millionen registrierten | |
| Nutzern als weltweit größte ihrer Art. | |
| Samstagabend, in den engen Gassen der ehemaligen Französischen Konzession, | |
| einem bis Ende der 1940er Jahre exterritorialen und damals europäisch | |
| geprägten Viertel: Hippe Millennials in exzentrischer Kleidung flanieren | |
| unter den grünen Platanen, lesbische Pärchen zeigen ihre Zuneigung mit | |
| offenem Händchenhalten. In den zweistöckigen Kolonialbauten haben sich | |
| unzählige Modeboutiquen schwuler Designer eingenistet, Künstlerstudios und | |
| japanische Whisky-Bars. Viele der Party-Gänger sitzen mit ihren Drinks auf | |
| dem Trottoir. Masken trägt praktisch niemand mehr, die in Peking | |
| obligatorischen Fiebermessungen haben bereits vor Monaten aufgehört. | |
| Auch der 30-jährige Chong – blaues Hawaiihemd, Vokuhila-Schnitt – mit | |
| vorne kurzem und hinten langem Haar – und Perlenkette am Hals ist an diesem | |
| Samstagabend mit seinen Freunden zum Feiern gekommen. Ob er einen | |
| zunehmenden Druck der Behörden gegenüber sexuelle Minderheiten spürt? „Ich | |
| werde in meinem Alltag im Grunde gar nicht eingeschränkt“, sagt der | |
| Angestellte eines IT-Unternehmens, der offen schwul lebt. Natürlich | |
| widerspreche Homosexualität fundamental den konfuzianischen Werten, meint | |
| er: „Für den Mann gilt es traditionell als höchstes Ziel, sich | |
| fortzupflanzen und die familiäre Blutlinie fortzuführen.“ | |
| Doch Chong sagt auch, dass China mittlerweile seine konfuzianische | |
| Tradition durch einen beinharten Kapitalismus ersetzt hat: „Heutzutage geht | |
| es in der chinesischen Gesellschaft doch vor allem darum, als Mann | |
| effizient zu sein und Geld zu machen.“ Die Sexualität sei dabei absolut | |
| zweitrangig. | |
| ## Die Gesellschaft wird liberaler | |
| Die gesellschaftlichen Einstellungen zur Homosexualität haben sich in China | |
| seit der Jahrtausendwende dramatisch verändert. Das Institut für Sexual- | |
| und Geschlechterforschung an der Pekinger Renmin-Universität hat von 2006 | |
| bis 2015 landesweite Studien publiziert. Demnach ist zwar der Anteil | |
| innerhalb der Bevölkerung, die dieselben Rechte für Homosexuelle fordern, | |
| bei etwa 45 Prozent relativ konstant geblieben. Gleichzeitig ist jedoch der | |
| Anteil der Kritiker einer Gleichstellung von über 52 Prozent auf 28 Prozent | |
| gesunken. „Was die Aussicht auf Gleichberechtigung der schwulen | |
| Gemeinschaft in naher Zukunft betrifft, gibt es keinen Grund für | |
| unangemessenen Optimismus – aber definitiv auch keinen Grund für extremen | |
| Pessimismus“, heißt es von Institutsleiter Pan Suiming. | |
| Jene Ambivalenz zeigt sich auch in der Gesetzgebung: Rechtlich werden | |
| gleichgeschlechtliche Ehen in China nicht anerkannt, sind Adoptionen unter | |
| Homosexuellen verboten und es existiert auch kein Antidiskriminerungsgesetz | |
| zum Schutz sexueller Minderheiten. In einer Publikation des | |
| Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2016 heißt es, | |
| dass sich nur fünf Prozent aller Homosexuellen in ihrer Arbeit oder Schule | |
| outen würden. Über die Hälfte von ihnen gibt an, Diskriminierung erfahren | |
| zu haben. | |
| Zudem lässt sich mit dem Amtsantritt Xi Jinpings zum Generalsekretär der | |
| Kommunistischen Partei im Jahr 2013 eine besorgniserregende Entwicklung | |
| beobachten: Nichtregierungsorganisationen werden zunehmend an der kurzen | |
| Leine gehalten, das betrifft Umweltaktivisten gleichermaßen wie | |
| Menschenrechtsanwälte. 2015 haben die Behörden ausgerechnet zum | |
| Weltfrauentag fünf führende Feministinnen verhaftet – und das nur, weil sie | |
| Aufklärungsbroschüren gegen sexuelle Belästigung verteilt haben. „Verstoß | |
| gegen die soziale Ordnung“ heißt in solchen Fällen meist die Begründung. | |
| Es scheint, als würde die Kommunistische Partei vor allem | |
| gesellschaftskritischen Aktivismus fürchten, vor allem wenn dieser von | |
| ausländischen Konsulaten, Kulturinstituten oder Denkfabriken gefördert | |
| wird. Ob es sich um Schwulenrechte oder Menschenrechte dreht, spielt | |
| letztlich nur eine untergeordnete Rolle. | |
| Der Shanghaier Chong sagt jedoch trotz des restriktiveren | |
| Gesellschaftsklimas über sein Heimatland: „Für mich ist China tendenziell | |
| eher weiblich: Liebend, fürsorglich und weich.“ Wegziehen möchte er auf | |
| keinen Fall. Zwar gebe es andere Städte – wie etwa Chengdu in der Provinz | |
| Sichuan –, die toleranter seien und eine größere LGBT-Community | |
| beherbergten. Doch nur Shanghai biete diese einmalige Mischung aus | |
| Freizügigkeit, Kultur und Historie. | |
| 30 Aug 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Kretschmer | |
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