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# taz.de -- Angriffe auf Popkultur in der Türkei: Kulturelle Paranoia
> TV-Sender in der Türkei unterliegen schon der Zensur: kein Alkohol, keine
> Zigaretten, keine Homosexualität. Jetzt sind Netflix und Social Media
> dran.
Bild: Immer online: Eltern warten am Eingang der Istanbul University auf ihre K…
Erst Print und Fernsehen. Jetzt das Internet. Schritt für Schritt engt die
türkische Regierung die medialen und kulturellen Freiräume ein. Der
Großteil der herkömmlichen Medienunternehmen gehört mittlerweile
regierungsnahen Konzernen. Nur noch ein paar kleine und mittelarme
Publikationen versuchen dagegenzuhalten.
Dazu sind sie in der Lage, weil es das Internet gibt. Aber auch das Netz
ist nicht unangreifbar. Das zeigen zwei aktuelle Ereignisse. Vor gut zwei
Wochen wurde bekannt, dass die Produktion einer türkischen Netflix-Serie
abgesagt worden war, nachdem türkische Behörden in das Drehbuch
eingegriffen hatten. Diese Woche wurde im türkischen Parlament ein neues
Internetgesetz verabschiedet, das bislang noch vorhandene Freiheiten in den
sozialen Medien bedroht. Die Mächtigen wissen schon lange um den
renitenten, globalisierten, schwer kontrollierbaren Charakter des
Internets. Diesen letzten Raum für Widerspruch wollen sie nun beseitigen –
mit allen seinen politischen, kreativen und kulturellen Ausdrucksformen.
Reed Hastings, Gründer und Geschäftsführer der Streaming-Plattform Netflix,
[1][sagte einmal]: „Wir sind in Saudi-Arabien. Wir sind in Pakistan. Wenn
es dort keine Probleme gibt, werden wir dann Probleme in der Türkei haben?
Ich kann mir das nicht vorstellen.“
Eine mutige Aussage. Denn in der Türkei gibt es nach den niedergeschlagenen
Geziprotesten im Sommer 2013 nichts, was nicht vorstellbar wäre. Seit
August 2019 unterliegen Netflix und andere Streamingdienste offiziell der
Kontrolle [2][der türkischen Medienaufsichtsbehörde RTÜK] und müssen sich
bei ihr eine Linzenz einholen. Es dauerte nicht lange, bis diese Kontrolle
Auswirkungen hatte. Ende April 2020 verschwand die [3][siebte Folge der
zweiten Staffel der Serie „Designated Survivor“] aus dem türkischen Angebot
von Netflix. In der Folge streitet ein fiktiver amerikanischer Präsident
mit einem aufmüpfigen fiktiven türkischen Präsidenten. Letzterer droht
damit, die Nato zu verlassen.
## Zu schwul fürs Ministerium
Vor Kurzem nun machte die Drehbuchautorin Ece Yörenç bekannt, dass sie für
die türkische Netflix-Produktion „If Only“ (Türkisch: „Şimdiki Aklım
Olsaydı“) keine Drehgenehmigung bekommen habe, weil einer der Charaktere
schwul sei. Neben der Aufsicht durch die Behörde RTÜK, die
Medienerzeugnisse nach Ausstrahlung kontrolliert und sanktioniert, müssen
ausländische Produktionen eine solche Erlaubnis beim Ministerium für Kultur
und Tourismus einholen.
[4][Drehbuchautorin Yörenç sagte dem türkischen Kinomagazin Altyazı
Fasikül], dass das Ministerium seine Entscheidung nicht begründet habe, das
Team aber in dem Moment eine Genehmigung bekommen habe, wo sie den schwulen
Charakter aus dem Drehbuch entfernt hätten. Jedoch habe sich Netflix nach
einer Zusammenkunft mit der Medienaufsichtsbehörde RTÜK entschieden, die
Produktion abzusagen.
Darauf folgten Gerüchte, Netflix wolle sich vom türkischen Markt
zurückziehen. Schwer vorstellbar, da der Anbieter dort Ende letzten Jahres
1,5 Millionen Nutzer:innen zählte und die Türkei auch das für Netflix so
wichtige Wachtumspotenzial hat.
Auf Nachfrage der taz jedenfalls verneint ein Sprecher des Unternehmens.
„Netflix bleibt unseren türkischen Mitgliedern und der kreativen
Gemeinschaft in der Türkei gegenüber zutiefst verpflichtet.“ Mehrere
türkische Produktionen liefen derzeit, weitere würden bald starten. Das
zuständige Ministerium derweil ließ eine Anfrage der taz bis zum
Redaktionsschluss unbeantwortet. Der Eingriff überrascht nicht, es ist
keineswegs neu, dass die Medienbehörde nach Ausstrahlung Geldstrafen und
Sendeverbote verhängt. Aber bei „If only“ fand der Eingriff noch vor
Produktionsbeginn statt.
Bilge Yesil ist Professorin für Medienkultur an der City University of New
York. Sie überrascht weder die Zensur noch die Reaktion des
Streaminganbieters: „Schließlich ist Netflix ein profitorientiertes
Unternehmen, das einen wachsenden Markt wie die Türkei nicht verlieren
möchte.“ Yesil forscht zu internationaler medialer Repräsentation und
globalen Medienstrategien der Türkei.
Laut Yesil ist Netflix in der Türkei vor allem für Jüngere eine Alternative
zu den herkömmlichen TV-Sendern, die einer starken Zensur unterliegen, wo
etwa kein Alkohol oder keine Zigaretten gezeigt werden dürfen. „Was man
heute im türkischen Fernsehen nicht sehen kann, kann man bei Netflix
sehen“, sagt sie.
Dass die türkische Regierung ein Problem mit LGBT-Personen hat, ist kein
Geheimnis. Seit Jahren werden Pride-Demonstrationen verboten.
Konservative Kommentatoren beklagen immer wieder, Netflix-Serien würden
zu Homosexualität animieren.
## Die imaginierte Verschwörung
Aber es geht den Behörden um noch mehr, sagt Wissenschaftlerin Yesil: „Es
gibt die Idee, es gehe internationalen Medien darum, der Türkei zu schaden;
als ob Netflix von irgendeiner höheren Kraft mit einer bestimmten Mission
in die Türkei gebracht worden wäre.“ Yesil erinnert an konservative
Ressentiments gegen Hollywood-Produktionen: „Oft hieß es, dass
amerikanische Filme versteckte und subliminale Botschaften an junge
Menschen sendeten und die Jugend so mit Darstellungen von Sex, Alkohol,
Drogen oder Horror vergifteten.“ Die gegenwärtige Zensur erscheint so als
Ausdruck eines paranoiden kulturellen Antiimperialismus.
Und Teil dieser imaginierten, globalen, vor allem westlichen Verschwörung
gegen die Türkei sind auch soziale Medien wie Twitter, Facebook oder
Instagram. Mittwochfrüh wurde nach stundenlanger Aussprache im Parlament
noch vor der Sommerpause [5][ein neues Internetgesetz verabschiedet].
Zensur im Netz gibt es in der Türkei zwar schon lange, aber das neue Gesetz
erlaubt es Behörden, nicht mehr nur Inhalte zu sperren, sondern diese
gleich zu entfernen. Außerdem sollen Twitter und Co. eine Vertretung in der
Türkei eröffnen und die Daten von Nutzer:innen in der Türkei speichern.
Wenn sie nicht kooperieren, drohen Geldstrafen und die Drosselung der
Internetbandbreite um bis zu 90 Prozent.
Befürworter:innen des Gesetzes nennen dabei immer wieder ausgerechnet das
deutsche [6][Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017] als Vorbild, allerdings
ergänzt durch Aussagen wie denen von AKP-Fraktionsvize Cahit Özkan, der am
Dienstag im Parlament sagte, „die gänzlich willkürlichen, nicht
rechenschaftspflichtigen und viele Opfer fordernden sozialen Medien“ seien
unter Kontrolle zu bringen. Saruhan Oluç, Fraktionsvize der oppositionellen
HDP, kritisierte das Gesetz mit den Worten: „Das ist nicht das deutsche,
sondern das chinesische Modell.“
Gülşah Deniz-Atalay, Expertin für Informationsrecht, sagt der taz, dass die
türkische Regierung „ein sauberes Internet“ schaffen wolle, „in dem das
[7][Recht auf Vergessenwerden] umgekehrt wird und die Regierung eigene
Korruption und inkonsistente Äußerungen vergessen machen kann“.
Netzexpert:innen in der Türkei zeigen sich skeptisch bei der Frage, ob sich
die Netzdienste dem neuen Gesetz beugen werden. Twitter, Facebook und Co.
haben schließlich einen Ruf zu verlieren. Und die Türkei ist nicht das
einzige Land mit autoritären Tendenzen.
Warum kommt die Offensive gegen das Netz gerade jetzt? Möglicherweise weil
die Regierung schwächelt. Wie auch die umstrittene [8][Umwandlung der Hagia
Sofia in eine Moschee] wirkt das eilig beschlossene Internetgesetz wie eine
Verzweiflungstat, eine überstürzte Botschaft an eine bröckelnde Basis. Viel
zu gewinnen hat die Regierung Erdoğans nicht. Zu verlieren hat sie viele
junge Wählerinnen und Wähler, die in der jungen Türkei kein unwichtiger
Faktor sind.
2 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.dw.com/en/netflix-cancels-turkey-series-in-row-over-gay-charact…
[2] /Tuerkischer-Sender-TRT-auf-deutsch/!5658836/
[3] https://variety.com/2020/digital/global/netflix-yanks-politically-sensitive…
[4] https://fasikul.altyazi.net/2020/07/19/bakanlik-ve-rtukten-sansur-netflixte…
[5] /Tuerkei-mit-Gesetz-zu-sozialen-Medien/!5699433/
[6] /Bundestagsanhoerung-zum-NetzDG/!5681206/
[7] /Verdachtsberichte-in-Pressearchiven/!5704959
[8] /Hagia-Sophia-wird-wieder-Moschee/!5694639
## AUTOREN
Volkan Ağar
Ali Çelikkan
## TAGS
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