| # taz.de -- LGBTQI-Szene in China: Queer, laut, verboten | |
| > Der Techno-Club TAG in Chengdu muss schließen – er war ein Symbol für | |
| > Freiheit in Chinas liberalster Stadt. Doch die queere Szene lebt weiter. | |
| Bild: Metropole mit 21 Millionen Einwohnern: das als liberal geltende Chengdu i… | |
| Chengdu taz | Aus den Lautsprechern dröhnt Techno. Über der Bar hängen | |
| Bananen, an denen sich jeder bedienen kann. Hinter der Theke werden | |
| deutsche Club-Mate Flaschen verkauft. Eine Gruppe mit blond gefärbten | |
| Augenbrauen, schwarzem Lippenstift, Mullet-Vokuhila-Frisuren und | |
| Gesichtstattoos bewegt sich seit Stunden monoton zum Takt des Basses. | |
| Es fühlt sich an wie in Berlin. Nur der Blick aus dem Fenster verrät, es | |
| ist 7.400 Kilometer weiter östlich, im 21. Stockwerk eines kargen | |
| Wohnblocks im Südwesten [1][Chinas]. | |
| Der Klub heißt TAG (kurz für To Another Galaxy). Abgesehen von einem | |
| daumenbreiten Schild an einer Metalltafel gibt es am Eingang des Gebäudes | |
| kein Anzeichen für seine Existenz. Doch der Klub braucht keine Reklame. In | |
| der Technoszene ist TAG weltweit bekannt. | |
| DJs wie vom Berliner Kollektiv Herrensauna haben hier schon aufgelegt. Zu | |
| den Besuchern gehören ausländische Touristen wie Einheimische. Neben der | |
| als dämonischer Engel verkleideten Türsteherin steht auf dem für China | |
| untypischen Plakat: „We strive to create an environment where everyone is | |
| welcome and free to express themselves“. Doch das wird wohl nicht mehr | |
| lange gelten. | |
| Obwohl ich insgesamt fast 12 Jahre [2][in China] lebte, besuchte ich erst | |
| 2023, kurz nach der Pandemie, das erste Mal Chengdu, die Hauptstadt der | |
| Provinz Sichuan. Seitdem verschlägt es mich immer wieder in diese Stadt. | |
| Sie ist spürbar anders als die meisten chinesischen Großstädte. Das liegt | |
| vor allem an den Menschen. | |
| Der Alltag in Chengdu ist langsamer, entspannter. Schon am frühen | |
| Nachmittag sind die vielen Teehäuser, Straßencafés und Restaurants voll. | |
| Besonders im Stadtteil Yulin. Die meisten Gäste hier sind jung, stylisch | |
| gekleidet, auffällig tätowiert, haben ein Skateboard unter dem Arm | |
| geklemmt, während sie ihren Iced Latte bestellen. | |
| ## Arbeiten von 9 bis 9 an 6 Tagen die Woche | |
| Die 996-Arbeitskultur, in der viele junge, hoch qualifizierte Chinesen von | |
| 9 bis 21 Uhr, 6 Tage die Woche arbeiten – unter hohem Druck und starker | |
| Konkurrenz für nur begrenzt viele Arbeitsplätze – scheint hier ein fremdes | |
| Konzept zu sein. Im Rest des Landes spottet man gern, dass die Leute in | |
| Chengdu nicht arbeiten. | |
| Die Stadt liegt 1.800 Kilometer vom politischen Zentrum Peking entfernt. | |
| Über Jahrhunderte blieb die Stadt, die trotz ihrer peripheren Lage an | |
| wichtige historische Handelsrouten angebunden ist, von vielen Kriegen im | |
| Osten des Landes verschont. Die günstige Lage und der Reichtum der Stadt | |
| lockten Migranten aus ganz China her. | |
| Darunter auch viele Intellektuelle und ethnische Minderheiten, die stark | |
| zur Vielfalt der Stadt und der Offenheit der Menschen beigetragen haben. | |
| Noch heute kommen viele Zuzügler – satte 5,82 Millionen zwischen 2010 und | |
| 2020. Nur Shenzhen und Guangzhou wuchsen mehr. Doch nur Chengdu ist unter | |
| dem Spitznamen Gaydu, die schwule Hauptstadt, bekannt. | |
| „Nirgendwo in China kann man so [3][offen schwul sein] wie hier“, sagt mir | |
| Minghao (Name geändert). Der Schauspieler und Regisseur und sein Freund | |
| nehmen mich mit in den kommerziellen schwulen Klub Pose. Im Pose läuft an | |
| diesem Abend K-Pop. Fast überall stehen junge, schlanke Männer mit | |
| gefärbten Haaren und engen Jeans an Stehtischen und betrinken sich. | |
| „Die meisten von ihnen kommen nicht aus Chengdu“, erzählt mir Minghao. | |
| „Viele sind zugezogene Migranten oder Touristen aus benachbarten Provinzen, | |
| die hier zum ersten Mal ihre Sexualität voll ausleben können.“ | |
| Nicht nur Schwule zieht es nach Chengdu. Immer wieder höre ich, dass | |
| insbesondere seit Ende der Pandemie mehr Künstler zuziehen. Hauptgründe | |
| seien niedrige Mietpreise und eine starke Kunstszene. Auch die | |
| vergleichsweise freie Atmosphäre der Stadt wird genannt. Ich konnte sie im | |
| Herbst 2024 selbst erleben, als ich in Chengdu einen Kurzfilm drehte. | |
| Es ging um einen ausländischen Bikepacker und einen alten Sichuanesen, die | |
| über einen gemeinsam verbrachten Tag Freundschaft schließen.Über vier Tage | |
| waren wir kreuz und quer in der ganzen Stadt mit einer großen Crew | |
| unterwegs, zu der auch mehrere Ausländer gehörten. Kein einziges Mal wurden | |
| wir aufgehalten oder dazu aufgefordert, unsere Erlaubnis zu filmen | |
| vorzulegen. „Nie im Leben hätten wir so leicht und ungestört in Peking | |
| filmen können“, sagte mir damals unser Regisseur. | |
| Während meiner letzten Reise nach Chengdu im Mai sitze ich mit Minghao in | |
| einer Bar, in der auch vintage Kameras, Schallplatten und Klamotten | |
| verkauft werden. Unser Gespräch wird von einer Wechat-Mitteilung | |
| unterbrochen: Nach 11 langen Jahren soll TAG am kommenden Wochenende | |
| schließen. | |
| Der Klub TAG ist nicht die einzige Anlaufstelle der Undergroundszene | |
| Chengdus, die in den vergangenen Jahren dicht machen musste. Funkytown, | |
| eine von TAG nicht weit entfernte Eckkneipe mit Tanzfläche, gibt es seit | |
| 2024 nicht mehr. | |
| Funkytown hat insbesondere durch den Dokumentarfilm „The Last Year of | |
| Darkness“ einen legendären Status in Chengdu. Der Dokumentarfilm des | |
| US-Regisseurs Ben Mullinkosson verfolgt das Leben verschiedener Charaktere | |
| der Chengduer Undergroundszene, darunter den Drag-Performer Yihao und den | |
| russischen Techno-DJ Gennady. Funkytown und seine wilden Feten stehen dabei | |
| im Mittelpunkt. Auch TAG kommt im Film vor. | |
| ## LGBTQ wird unsichtbar gemacht | |
| Der hauptsächlich vor und während der Pandemie entstandene Dokumentarfilm | |
| scheint ein goldenes Zeitalter der Szene aufgenommen zu haben und ist unter | |
| chinesischen Filmemachern sehr beliebt – obwohl man in China nur mit VPN | |
| auf ihn zugreifen kann. Als ich Minghao frage, ob das Chengdu, das in dem | |
| Film dargestellt wird, noch so existiert, sagt der Schauspieler nur: „Der | |
| Film ist die Inszenierung eines gemeinsamen Traums, der in letzter Zeit | |
| geplatzt ist.“ | |
| Wie im Rest des Landes, sinkt auch in Chengdu die Schwelle der Toleranz der | |
| Regierung gegenüber der Alternativ- und LGBTQ-Szene. Vor allem seit 2021 | |
| versucht die chinesische Regierung, aktiv Maskulinität unter jungen | |
| chinesischen Männern zu fördern. Bedeutet: Keine Pride-Veranstaltungen | |
| mehr. Keine femininen Männer im Fernsehen. Keine offen politisch engagierte | |
| LGBTQ-Organisationen. | |
| Das gilt auch für Chengdu. Die Drag-Veranstaltungen, die in den Szenen von | |
| „The Last Year of Darkness“ oft zu sehen sind und mit denen in den | |
| kommerziellen Klubs der Stadt früher offen geworben wurde, werden hier | |
| inzwischen auch immer weiter in den Untergrund gezwungen und sind für | |
| Außenseiter nur schwierig zu finden. | |
| „Die lokale Regierung wird in Chengdu zwar strenger, aber im Vergleich zu | |
| anderen chinesischen Großstädten ist es hier immer noch viel besser“, sagt | |
| mir Yucheng (Name geändert), der als Filmproduzent an unserem Set | |
| mitgearbeitet hat. Er ist aus der Provinz Xinjiang nach Chengdu gezogen. | |
| Abends nimmt er mich zu anderen Bars und Klubs mit, die Techno spielen und | |
| eine ähnliche Klientel wie TAG anziehen. Sie sind rappelvoll. Auch die | |
| kommerziellen Schwulenklubs machen, solange sie der Polizei nicht zu sehr | |
| auffallen, weiterhin ein gutes Geschäft. | |
| An Samstagnachmittag, also dem Tag, an dem TAG endgültig schließen soll, | |
| sitze ich mit Minghao in einem Kinosaal bei der Filmpremiere des Films | |
| einer Freundin. Mit unter den Zuschauern: mehrere Mitglieder der Crew von | |
| „The Last Year of Darkness“ inklusive DJ Gennady und Ben Mullinkosson. Nach | |
| der Premiere gehen wir als größere Gruppe zusammen Abendessen, bevor es | |
| gemeinsam ein letztes Mal ins TAG geht. | |
| Beim Essen wird spekuliert, warum der Klub geschlossen wird. Es scheinen | |
| viele Faktoren im Spiel zu sein, unter anderem auch das schlechte Geschäft. | |
| Die Preise seien für viele der regulären, ohnehin nicht viel verdienenden | |
| Besucher in der schwächelnden chinesischen Wirtschaft nicht mehr bezahlbar. | |
| Der Klub ist selten so voll wie früher. | |
| Doch der Hauptgrund soll der Druck der Polizei sein. Gerüchten zufolge hat | |
| der Stadtteil einen neuen Polizeichef aus Peking. Schon seit Monaten muss | |
| der Klub um 2 schließen, ungewöhnlich früh für einen Technoklub und | |
| schlecht fürs Geschäft. Jetzt muss er ganz dicht machen, zumindest ist das | |
| die offizielle Linie. | |
| Doch immer noch nicht ganz klar ist: Wird der Klub in wenigen Monaten am | |
| selben Ort unter einem anderen Namen wieder aufmachen können? Wird TAG | |
| einfach umziehen? Oder wird er komplett schließen? Vieles wird sich erst in | |
| den nächsten Monaten ergeben, erzählt mir die Besitzerin später im Klub. | |
| Egal. Es ist und bleibt eine besondere Nacht. Der Klub ist voller, als ich | |
| ihn je zuvor gesehen habe. Der kanadische DJ Priori legt auf. Doch auch | |
| heute muss sein Set schon um 2 enden. Es dauert, bis alle aus dem Klub | |
| sind. Viele umarmen sich, baden noch kurz zwischen den über 11 Jahre des | |
| Feierns vernarbten Wänden in Nostalgie. Ein paar Tränen tropfen auf den | |
| klebrigen, von Kippen bedeckten Boden. | |
| Bei der Afterparty im ebenfalls gut versteckten Yitong-Record-Laden im | |
| Gebäude nebenan lehnt sich Gennady draußen rauchend gegen das Geländer. Er | |
| legt schon seit 2014 in Chengdu auf. Auch im TAG. Er scheint aber nicht | |
| sonderlich bedrückt zu sein. | |
| Macht er sich keine Sorgen, dass die Szene, so wie man sie jetzt kennt, | |
| bald verschwinden wird? „Vielleicht wird es nichts auf dem Niveau von TAG | |
| geben“, sagt er mir. Doch das sei ihm auch nicht so wichtig. „Es sind die | |
| Leute, nicht die Orte, die die Szene hier ausmachen. Solange Chengdu weiter | |
| die gleiche Art von Menschen in die Stadt lockt, wird es immer was geben.“ | |
| 9 Jul 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Kolonko | |
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