| # taz.de -- Krise der Volksparteien: Dissens für die Demokratie | |
| > Das Ende der Volksparteien ist keine Gefahr, sondern eine Chance für die | |
| > Demokratie. Die Zukunft des Parlamentarismus gehört | |
| > Minderheitsregierungen. | |
| Bild: Liegt die Zukunft in einer Minderheitsregierung? Bodo Ramelow in der Bund… | |
| „Eine völlig vertrackte Situation“, „politisches Patt“, „unregierbar… | |
| sind Schlagzeilen und Stichwörter der aktuellen Politikberichterstattung | |
| über Thüringen, Österreich oder Spanien. Es geht um unmöglich scheinende | |
| Regierungsbildungen, Angst vor unüberbrückbaren Differenzen, die leidvolle | |
| Suche nach Kompromissen. | |
| In Österreich haben sich Grüne jetzt für Koalitionsgespräche mit Sebastian | |
| Kurz und seiner „neuen Volkspartei“ entschieden, obwohl Kurz bis vor nicht | |
| allzu langer Zeit noch mit korruptionsaffinen Rechtsextremen | |
| zusammengearbeitet hat. In Thüringen steht der linke Ministerpräsident Bodo | |
| Ramelow, der eher ein Sozialdemokrat ist, nach den Wahlen allein da, weil | |
| es für Rot-Rot-Grün nicht mehr reicht und die Christdemokraten Angst vor | |
| Gesprächen haben. In Spanien pokerte ein sozialdemokratischer | |
| Ministerpräsident zu hoch: Statt nach der dritten Wahl in vier Jahren mit | |
| Linken zusammenzuarbeiten, ging er in die vierte Wahl – und steht nun | |
| schlechter da als zuvor. | |
| Weil es sonst keine Regierungsmehrheit gäbe, verhandeln nun also | |
| linksliberale österreichische Grüne mit Rechtskonservativen, die auch nach | |
| viel weiter rechts offen sind. In Thüringen bahnt sich eine | |
| Minderheitsregierung aus Rot-Rot-Grün an. Ebenso in Spanien, wo der | |
| Sozialdemokrat Sanchez nun doch mit Podemos koalieren will. | |
| Politik bedeute eben Kompromiss, konstatieren Kommentatoren in | |
| öffentlich-rechtlichen Talkshows. Eine politische Binsenweisheit, die in | |
| den letzten Jahren zu einem Naturgesetz geronnen ist, unter das es alles | |
| andere, also Inhalte, Ideen, Ideale, unterzuordnen gilt. | |
| ## Kein Grund zur Trauer | |
| Eigentlich ist das aber Quatsch. Die ewige Suche nach Mehrheiten und die | |
| Beschränkung von Politik auf Kompromiss ist nichts anderes als ein völlig | |
| unzeitgemäßes Festhalten am Modus Operandi. Die Zukunft der | |
| parlamentarischen Demokratie ist keine der Mehrheiten, sondern eine der | |
| Minderheitsregierungen. | |
| Denn was in Deutschland und anderen westlichen Demokratien jahrzehntelang | |
| funktioniert hat, funktioniert jetzt nicht mehr. Früher gab es zwei große | |
| Volksparteien, die gegensätzliche Weltanschauungen und Interessenlagen | |
| vertraten. | |
| Heute sind sie sich zu ähnlich; die Unterschiede zeigen sich rechts und | |
| links von ihnen. Manche attestieren der Demokratie deshalb sorgenvoll eine | |
| Zersplitterung der Parteienlandschaft. Andere führen dies nüchtern auf eine | |
| zunehmende Individualisierung der Gesellschaft zurück. Wieder andere | |
| verweisen darauf, dass die einstigen Volksparteien ihre Klientel enttäuscht | |
| hätten. Allesamt trauern sie dem Alten nach. | |
| Alarmistisch lamentieren deutsche Journalisten über das Ende der Bonner | |
| Republik (Zeit), den Niedergang der Volksparteien (FAZ), die Demokratie in | |
| Gefahr (Welt). Man kann im Niedergang der Volksparteien aber auch eine | |
| große Chance sehen, die Überlebenschance für die Demokratie überhaupt. | |
| ## Antagonismus statt Konsens | |
| Dazu liefert die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe die Theorie. Sie | |
| argumentiert, der ewige „Konsens der Mitte“, eben der Volksparteien, | |
| bedeute nichts anderes als das „Ende der Politik“. Denn die Demokratie lebe | |
| vom „Antagonismus“, also dem Widerspruch, den es in einen demokratischen | |
| Streit, sie nennt es „Agonismus“, zu übersetzen gelte. Dagegen lebten wir | |
| heute in postpolitischen Zeiten, in denen nicht mehr über Grundsätzliches | |
| gestritten, sondern das Bestehende konsensual verwaltet werde. | |
| Stabilität steht dabei über der Differenz. Oder besser: stand. Mittlerweile | |
| kann selbst die Idee der Stabilität den Laden nicht mehr zusammenhalten. | |
| Das zeigt die Ratlosigkeit der Politiker nach Wahlabenden – in Thüringen, | |
| Spanien oder Österreich. Das zeigt auch der Aufstieg der parlamentarischen | |
| Rechtsextremen. | |
| Mouffe fordert eine „radikale Demokratie“. Und die gegenwärtige „vertrac… | |
| Situation“ bietet eine Chance dafür. | |
| Man brauche doch Mehrheiten, um Gesetze zu beschließen, werden die | |
| denkfaulen Gewohnheitsmenschen nun entgegnen. Aber Gesetze kann man auch | |
| unter Minderheitsregierungen beschließen – eine solche Regierung muss immer | |
| wieder und für jedes einzelne Gesetzesvorhaben um Mehrheiten werben. Das | |
| mag vielleicht ineffizient erscheinen, im Kern ist diese Art der | |
| Gesetzgebung aber demokratischer als der konventionelle Weg. Statt | |
| Konsenszwang entsteht echter Streit über echte Inhalte. | |
| ## Streit, aber nicht als Selbstzweck | |
| Am Anfang eines Gesetzgebungsprozesses unter einer Minderheitsregierung | |
| steht die Differenz, am Anfang einer Mehrheitsregierung jedoch das | |
| pragmatisch-technokratische Einverständnis. | |
| Wenn Minderheitsregierungen Gesetze beschließen müssen, dann verspricht das | |
| ein wahrlich demokratisches Resultat. Mehrheitsregierungen verweilen | |
| dagegen im institutionalisierten Panzer des vorauseilenden Konsenses. | |
| So weit, so gut, wenn da nicht die Nazis wären. Ihre schreckliche Fratze | |
| dient den Harmoniesüchtigen als Warnung vor dem Ende der Harmonie. Das ist | |
| fatal. Denn je panischer Demokraten jenen Konsens des Stillstands | |
| umklammern, desto stärker werden die Antidemokraten in den Parlamenten. Und | |
| deren Strategie der Konfrontation funktioniert. | |
| Als Nutznießer der politischen Situation haben die Rechtsextremen den | |
| Streit jedoch zum Selbstzweck erhoben. Ihre Inhalte, wenn man überhaupt von | |
| Inhalten sprechen kann, sind menschenfeindlich und indiskutabel. | |
| ## Was für eine „demokratische Mitte“? | |
| Streit, wenn er inhaltlich begründet ist, kann sich aber auch von links | |
| lohnen: Bei der Grundrente hätte die Union nicht nachgegeben, wenn manche | |
| Sozialdemokraten nicht mit dem Aus für die Groko gedroht hätten. Die nun | |
| vereinbarte Einkommensprüfung erspart den Menschen den entwürdigenden Gang | |
| zum Amt, den die von der Union geforderte Bedürftigkeitsprüfung bedeutet | |
| hätte. Die Grundrente ist aber nur ein kleiner Schritt in die richtige | |
| Richtung. | |
| Statt Talentshows zu veranstalten, um neue Vorsitzende zu finden, sollten | |
| die Reste der sozialdemokratischen Volkspartei mit dem ewigen Konsens | |
| brechen. | |
| Statt ewig von einer vermeintlich „demokratischen Mitte“ zu schwadronieren | |
| und Linke mit Nazis gleichzusetzen, sollte der Rest der konservativen | |
| Volkspartei den inhaltlichen Streit wagen. | |
| Und diejenigen, die einmal als Fundamentalopposition begonnen haben und | |
| jetzt von Merkels Thron träumen, sollten die alten Volksparteien nicht | |
| einfach ersetzen. Besser wäre es, wenn sie sich auf ihre Wurzeln besinnen | |
| würden – und die Reste der alten Großen zum Dissens, zum produktiven | |
| Streit antreiben. Es reicht nicht, wenn aus Schwarz-Rot einfach | |
| Schwarz-Grün wird. | |
| 19 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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