# taz.de -- Konsequenzen aus schweren Unfällen: „Es braucht drastischere Ma�… | |
> SuSanne Grittner vom ADFC Berlin kritisiert die schleppende juristische | |
> Aufarbeitung schwerster Unfälle, bei denen Radfahrende die Opfer sind. | |
Bild: „Geisterrad“ nach dem tödlichen Unfall am Alexanderplatz im Februar … | |
taz: Frau Grittner, beobachtet der ADFC die Rechtsprechung zu Unfällen, bei | |
denen RadfahrerInnen schwer verletzt oder getötet wurden? | |
SuSanne Grittner: Ich nehme seit mehreren Jahren als Beobachterin an | |
Gerichtsverfahren zu getöteten und schwerverletzten Radfahrenden teil, das | |
sind 10 bis 15 Verfahren pro Jahr. Die Gutachten der Sachverständigen | |
liefern wichtige Informationen für unsere Verkehrssicherheitsarbeit. Bei | |
vielen der für Radfahrende tödlich ausgegangenen Crashs oder Zusammenstöße | |
verfolge ich alles von der Unfallanalyse des Gutachters vor Ort über die | |
Aufstellung des „Geisterrads“ bis zum Urteil vor Gericht. Manchmal begleite | |
ich auch Angehörige auf diesem Weg. Den Begriff „Unfall“ zu verwenden, | |
fällt mir übrigens zunehmend schwerer. | |
Warum? | |
Weil er etwas Unabwendbares suggeriert. Dabei wären viele dieser Ereignisse | |
vermeidbar. | |
Vom Tod einer Radfahrerin oder eines Fußgängers durch ein Kraftfahrzeug bis | |
zum Gerichtsurteil vergehen oft ein, zwei Jahre. Wie beurteilen Sie das? | |
Die langen Zeiträume sind für alle Beteiligten ein sehr großes Problem. Die | |
Angehörigen der Getöteten finden keinen Abschluss, aber auch die | |
angeklagten Unfallbeteiligten leiden in der überwiegenden Zahl der Fälle | |
unter den offenen Verfahren. Vor allem bei Schwerverletzten gibt es Fälle, | |
in denen die Versicherungen die Angeklagten in eine Berufung drängen. Das | |
verzögert ein finales Urteil noch weiter und führt in einzelnen Fällen | |
dazu, dass erforderliche medizinische Behandlungen und Hilfsmittel bei | |
Schwerverletzten über mehrere Jahre nicht finanziert werden. | |
Was müsste sich da aus Ihrer Sicht ändern? | |
In den ersten Stunden wird das Opfer detailliert untersucht, der | |
Unfallgegner jedoch nur bei deutlichen Anhaltspunkten. Im Ergebnis weiß man | |
dann, ob das Opfer etwa ein die Verkehrstüchtigkeit leicht einschränkendes | |
Medikament genommen hat – aber beim Lkw-Fahrer wurde nicht festgestellt, ob | |
er Alkohol im Blut hatte, ausreichende Sehhilfen trug oder von einem | |
Mobilgerät abgelenkt war. Das kann so nicht bleiben. Außerdem bräuchten | |
Angehörige Getöteter und Schwerstverletzte in der langen Phase bis zum | |
Abschluss des Verfahrens eine feste Ansprechperson, die ihnen in dieser | |
schweren Phase hilft, den Weg durch die Behörden zu finden und ihre Rechte | |
wahrzunehmen. Eine staatlich finanzierte Ombudsperson könnte das leisten. | |
Auf der anderen Seite stehen immerhin oft große Fuhrunterehmen und große | |
Versicherungen. | |
Halten Sie die Strafmaße für angemessen, die die Gerichte verhängen? | |
Das ist eine schwierige Frage. Ich bin keine Juristin, aber ich kenne | |
natürlich die relevanten Paragrafen und den vorgesehenen Strafrahmen. | |
Verurteilt wird eine Person, die einen Fehler gemacht hat – meist nach § | |
222 StGB, fahrlässige Tötung. Die Frage ist dann: Wie gravierend war die | |
Fahrlässigkeit, wie groß war der Fehler? Da kann man über die | |
Angemessenheit der verhängten Strafmaße durchaus geteilter Meinung sein. | |
Die meisten Fälle fallen in die Kategorie „Augenblicksversagen“, wenn die | |
Gutachter zum Schluss kommen, die oder der Radfahrende wäre für kurze Zeit | |
in einem der diversen Spiegel zu sehen gewesen. Juristisch bewertet wird | |
also nicht die Auswirkung, sondern ein kleiner Fehler, der allerdings eine | |
große Wirkung hatte. | |
Es wird ja oft als strafmindernd bewertet, dass die Radfahrenden sich nicht | |
umsichtig genug verhalten hätten. | |
Es stimmt, dass auch die Vermeidbarkeit des Unfalls durch die oder den | |
Radfahrenden bewertet wird. Dass das strafmindernde Wirkung hat, kommt nach | |
meiner Erfahrung allerdings nur sehr selten vor, und zwar nur dann, wenn | |
ein echtes Fehlverhalten der oder des Radfahrenden nachweisbar ist. | |
Kommt die Verkehrsverwaltung ausreichend ihrer Pflicht nach, nach solchen | |
Unfällen den entsprechenden Straßen- oder Kreuzungsbereich zu untersuchen | |
und sicherer zu machen? | |
Die sogenannte Unfallkommission, die das zu prüfen hat, gab es ja schon vor | |
dem Mobilitätsgesetz, aber sie war unterausgestattet und wurde dieser | |
Aufgabe nicht ausreichend gerecht. Auch jetzt noch habe ich bisweilen den | |
Eindruck, dass die personelle Ausstattung nicht reicht. Neben der Analyse | |
sollte möglichst schnelles Handeln in den Mittelpunkt rücken. Das | |
Mobilitätsgesetz sieht da kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen vor. | |
Bei den kurzfristigen Maßnahmen könnten wir uns in einigen Fällen durchaus | |
drastischere Maßnahmen vorstellen, um weitere Gefahren abzuwenden. | |
Zum Beispiel? | |
Man könnte nach Rechtsabbiegeunfällen an großen Kreuzungen das | |
Rechtsabbiegen für Lkw-Fahrende untersagen und natürlich auch | |
kontrollieren, solange es keine getrennte Signalisierung gibt. Am | |
Alexanderplatz hat das nach dem sinnlosen Tod einer Radfahrerin Anfang 2019 | |
halbwegs funktioniert – bis auf die Kontrollen durch die Polizei. | |
Mittlerweile gibt es an dem Kreuzungsarm eine getrennte Signalisierung und | |
einen umgestalteten Straßenraum. | |
3 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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