| # taz.de -- Kolumne Blicke: Historische Leerstellen | |
| > Wenn ein US-Historiker Albert Speer einen „fähigen Manager“ nennt, dann | |
| > schweigen die deutschen Rezensenten. Vor Freude? | |
| Bild: Albert Speer (l.) in Paris. | |
| Ob vom Werk Marcel Reich-Ranickis viel bleiben wird? Eher nicht: Das | |
| Geschäft des um die Gegenwart kämpfenden Kritikers ist in dicken Büchern | |
| schlecht aufgehoben. | |
| Sollte Reich-Ranicki an Nachruhm überhaupt interessiert sein, kann er aber | |
| unbesorgt sein. Auf drei Seiten seiner Autobiografie „Mein Leben“ hat er | |
| eine Begebenheit aufgeschrieben, die in jedem zukünftigen Lesebuch stehen | |
| muss – falls es Lesebücher zukünftig noch geben tut. | |
| Reich-Ranicki erzählt von einem Tag im September 1973. Gerade ist Joachim | |
| Fests Hitler-Biografie erschienen, und der Verleger Jobst Siedler lädt zum | |
| Empfang in seine Villa. Doch nicht Fest steht im Mittelpunkt der feinen | |
| Gesellschaft, nein, die Gäste scharen sich um einen „ansehnlichen und | |
| korrekt in einen dunklen Anzug gekleideten Herrn, wohl Ende sechzig.“ | |
| ## Dieser dezente Herr | |
| Reich-Ranicki und seine Frau Tosia wissen sofort, um wen es sich handelt: | |
| „Dieser dezente Herr war ein Verbrecher, einer der schrecklichsten | |
| Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands. Er hatte den Tod | |
| unzähliger Menschen verschuldet. Noch unlängst hatte er zu den engsten | |
| Mitarbeitern und Vetrauten Adolf Hitlers gehört. Er war vom Internationalen | |
| Militärtribunal in Nürnberg zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden. | |
| Die Rede ist von Albert Speer.“ | |
| Heute ist die deutsche Vergangenheitsbewältigung ein weltweiter | |
| Exportschlager. Sie bestand im Wesentlichen darin, abzuwarten, zu verzögern | |
| und zu vertuschen, um möglichst vielen Naziverbrechern einen friedlichen | |
| Lebensabend im Kreise ihrer Lieben zu ermöglichen. Dass die | |
| Vernichtungsspezialisten in Justiz, Verwaltung und Militär, bei der Bahn, | |
| in Politik, Polizei und Geheimdiensten nicht weiter morden konnten, | |
| verdankt die Welt in erster Linie den Soldaten der Alliierten, die die | |
| Wehrmacht unter enormen Opfern besiegten. | |
| Der US-Historiker Paul Kennedy ist den Details dieses Sieges in seinem | |
| jüngst auf Deutsch erschienenen Buch „Die Casablanca-Strategie“ | |
| nachgegangen. Er berichtet von den „Engineers of Victory“, also von den | |
| Spezialisten im mittleren Management der Kriegsführung, die klug, flexibel | |
| und vor allem ohne ideologische Verblendung auf die größte Herausforderung | |
| ihres Lebens reagierten. | |
| ## Die gleiche Kälte | |
| In seinem Buch nun nennt Paul Kennedy Albert Speer einen „fähigen Manager“ | |
| und bescheinigt ihm und seiner hochspezialisierten Killertruppe eine | |
| „außergewöhnliche Reorganisierung der deutschen Kriegsindustrie“. Natürl… | |
| darf der deutsche Verlag C.H. Beck diese Einschätzung nicht unterschlagen. | |
| Er ist auch nicht verpflichtet, sie mit einer Anmerkung zu versehen, um den | |
| Lesern zu erläutern, wie viele „Untermenschen“ der „fähige Manager“ A… | |
| Speer verhungern und sich totarbeiten ließ. Nein, er muß es nicht. | |
| Dass aber in keiner einzigen der zahlreichen und überwiegend positiven | |
| Rezensionen zu Kennedys Buch seine Einschätzung kritisiert, eingeordnet | |
| oder auch nur erwähnt wird – das strahlt genau die Kälte aus, die Marcel | |
| und Tosia Reich-Ranicki an einem Septembertag vor vierzig Jahren erleben | |
| mussten. | |
| PS: Kennedys Buch lag auf Christian Semlers Schreibtisch in der taz. Ich | |
| habe es mir ausgeliehen. Ich kann es ihm nicht mehr zurückgeben, und ich | |
| kann nicht mehr mit ihm darüber sprechen. Das ist unglaublich traurig. | |
| 14 Feb 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
| Ambros Waibel | |
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