# taz.de -- Philosphie und Beleidigung: Hegel und der Obernazi | |
> Ich soll zwei Sicherheitsleute in Berlin beleidigt haben und muss daher | |
> vor Gericht. Aber ich schwöre, ich kann es nicht getan haben. | |
Bild: Der einzige Obernazi ist doch wohl er, oder? | |
Als ich nach Deutschland gekommen bin, da habe ich sofort einen an der | |
Backe gehabt, der hat mich angeschnauzt: „Lerne Deutsch, oder du kannst | |
nicht hierbleiben.“ Kein Problem, ich liebe Deutsch. Es ist eine schwierige | |
Sprache, aber logisch. Wie mein Professor sagte: „Hegelianisch“. | |
Deutsche Wörter haben eine ganz eigene, eine materielle Kraft. Wenn man | |
eines ausspricht, dann steht es wie ein Felsblock. Mit einem deutschen Wort | |
ist genau festgelegt, was passiert ist und passieren wird. Und wenn man | |
eines gelernt hat, dann vergisst man es nicht mehr. Nie mehr. | |
Vor einiger Zeit hatte ich einige Probleme mit dem Sicherheitsdienst des | |
Berliner Sony Centers am Potsdamer Platz. Der Sicherheitsdienst | |
beschuldigte mich, dass ich Bilder innerhalb der Gebäude aufgenommen hätte. | |
Die herbeigerufene Polizei überprüfte meine Kamera, die Anklage war falsch. | |
Bis alles geklärt war, hatten die Sicherheitsmänner mir schon angeraten, in | |
mein Land zurückzugehen. Mein Land, Italien, ich bekenne es, ist alt und | |
hässlich. In meinem Land gilt: Was man sagt, hat keine Bedeutung. | |
Natürlich sprachen die zwei Sicherheitsmänner in einem der meistbesuchten | |
Zentren des internationalen Tourismus ausschließlich deutsch. Ich verstehe | |
das: Wenn eine Sprache solch eine materielle Haltbarkeit hat, gilt sie nun | |
einmal als „super partes“. Wenig später kam die Überraschung. Eine | |
Strafanzeige wegen Beleidigung. Gegen mich: Ich hätte die Sicherheitsmänner | |
als "Arschloch", "Nazi" und "Obernazi" bezeichnet. | |
Ich hab mich daraufhin geistig und physisch ins Sony Center zurückversetzt. | |
Ich schwöre: Ich habe diese Wörter nicht verwendet. Denn wenn ich sie | |
ausgesprochen hätte, dann stünden sie doch groß da, wie die Gebäude am | |
Potsdamer Platz. Wie deutsche Wörter es eben tun. | |
Von diesen drei Wörtern kannte ich eines: "Nazi" hatte ich viele Male | |
gelesen und mit dem italienischen Äquivalent "fascista" verglichen. Und ich | |
gestehe es, ich war immer neidisch: Ah, die deutsche Sprache, in der die | |
Wörter sich nicht in Luft auflösen! Hier in Deutschland hat niemand | |
vergessen, wie gemein und grausam das war, was diese Wörter bezeichnen. | |
Bei „Arschloch“ hingegen wusste ich nicht mal, wie man es ausspricht. Das | |
Problem ist es, wenn ein Erwachsener eine Fremdsprache lernt, dann wird er | |
behandelt wie eine Klosterschülerin: alles sauber, alles einfach, bloß | |
keine Wörter, die man gar nicht verwenden sollte oder bei denen man eben | |
ganz genau wissen muss, wann man sie verwenden darf. | |
„Obernazi“ ist anders. Auf Wikipedia existiert es nicht; und jedes Mal, | |
wenn ich deutsche Bekannte um eine Erklärung bitte, lachen sie. Warum? | |
Ein Freund sagt, dass es halt allgemein "mehr als Nazi" bedeutet. Das | |
erschreckt mich. Wenn Nazi schlecht ist, wie viel schlechter muss ein | |
Obernazi sein? Der Anwalt lässt derweil keinen Zweifel zu: Ich bin am | |
Arsch. | |
Wie jetzt? Wenn ich diese Wörter nicht kannte, konnte ich sie doch gar | |
nicht aussprechen, und weil sie deutsche Wörter sind, existieren sie nicht, | |
wenn ich sie nicht ausgesprochen habe. Richtig? Falsch. Jemand hat mich | |
verleumdet, dass ich diese Wörter gesagt hätte, und jetzt stehen sie auf | |
einem Papier, und das Papier liegt bei Gericht. Ich versuche, mir ein so | |
starkes deutsches Wort wie „Obernazi“ vorzustellen oder eines zu erfinden, | |
um mich zu verteidigen – aber ich kann nicht. „Los“, sage ich zur | |
Marmorbüste des alten Hegel in Berlin-Mitte: „Wir sind in Deutschland, in | |
einer Gesellschaft, die auf deinem Konzept des Rechts gegründet ist: „Was | |
vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist | |
vernünftig.“ Habe ich nicht falsch verstanden, oder? „Georg, warum | |
antwortest du nicht?“ | |
25 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Riccardo Valsecchi | |
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