# taz.de -- Koalitionskrach in Österreich: Die kalkulierte Klimakrise | |
> Knapp vor Ende der Legislaturperiode profilieren sich die | |
> österreichischen Grünen nun mit Mut gegen den konservativen Partner. Der | |
> tobt. | |
Bild: Koalition mit Konfliktpotenzial: Klimaministerin Leonore Gewessler (Grün… | |
Eine solche Pressekonferenz sieht man auch nicht alle Tage: Montag Abend | |
trat Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer zu einer Eilerklärung vor die | |
Presse, verkündete, dass er gegen eine Entscheidung seiner Umwelt- und | |
Klimaministerin Leonore Gewessler vor dem EuGH klagen werde und dass zudem | |
eine Anzeige wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs gegen die | |
Ressortchefin eingebracht werde. Zugleich erklärte der Kanzler der | |
konservativen Volkspartei, dass er weder die Koalition mit den Grünen | |
beenden noch die Entlassung der Ministerin aus dem Amt vorschlagen werde. | |
Eine Ministerin habe „einen Rechtsbruch begangen“, ein „krasses | |
Fehlverhalten“ gezeigt, die Erwartungen, die Koalition zu beenden, könne er | |
verstehen, so Nehammer, allerdings: „Ich werde das nicht tun.“ Immerhin, | |
der Ministerrat am Mittwoch wurde abgesagt. In einem Raum wollten die | |
Kontrahenten dann doch nicht sein. Zu viel Gefühlsaufwallung. | |
Eine koalitionäre Klimakatastrophe – wenngleich eine kalkulierte. Die | |
Koalition aus ÖVP und Grünen ist in einer schweren Krise. Der Anlass ist an | |
sich wenig spektakulär: Gewessler hatte in Brüssel im zuständigen EU-Rat | |
der [1][„Renaturierungsrichtlinie“] zugestimmt, die die Pflege des Meeres, | |
die Befeuchtung von Mooren, den Rückbau begradigter Flussläufe, die | |
Pflanzung von Bäumen usw. vorschreiben will. | |
Es ist kein rein „grünes“ Projekt, sondern eines der Kommission von Ursula | |
von der Leyen, die meisten Christdemokratien sind auch dafür. Aber um die | |
qualifizierte Mehrheit im Rat zu gewährleisten, war Österreichs Stimme | |
notwendig. | |
## Hat die Ministerin Recht gebrochen? | |
Österreich hat kein Meer, wenig Moore und sowieso viele Wälder. Und die | |
Landwirtschaft wird wegen ein paar Blumenwiesen mehr nicht untergehen. | |
Die ÖVP war dennoch dagegen, die Grünen dafür. Die Ministerin hat | |
zugestimmt. Dazu muss man wissen: Das darf sie aufgrund ihrer | |
Ministerverantwortung tun. Der Kanzler hat seinen Ministerinnen nichts zu | |
befehlen, er hat noch nicht einmal eine Richtlinienkompetenz. | |
Allerdings: Alle neun Bundesländer hatten einen Beschluss gegen die | |
Richtlinie gefasst, und die können die Ministerin binden. Wiederum | |
allerdings: Zwei sozialdemokratische Bundesländer sind ausgeschert und | |
haben sich nach einigen Nachverhandlungen nunmehr für die veränderte | |
Richtlinie ausgesprochen. Reicht das, um den vorherigen Beschluss | |
aufzuheben? Ja, sagen die Grünen. Nein, sagt die ÖVP. | |
Zudem ist strittig, ob die Ministerin nicht „das Einvernehmen“ mit dem | |
Landwirtschaftsminister hätte suchen müssen. Das ist nämlich | |
vorgeschrieben, wenn eine Zustimmung auch die Kompetenzen anderer | |
Ministerien markant berührt. Die Rechtsexperten sind sich uneinig. Gut | |
möglich, dass die Ministerin tatsächlich gegen Verfassung und Recht | |
verstoßen hat. | |
## Schienbeintritt nach allzu vielen Kompromissen | |
Uneinig sind sich die Rechtsexperten auch, was aus alldem folgen kann: Gilt | |
der Beschluss in jedem Fall, auch wenn sich später einmal herausstellt, | |
dass die österreichische Zustimmung illegal war? Oder wird die Richtlinie | |
dann außer Kraft gesetzt? Auch hier: Die einen meinen so, die anderen | |
meinen anders. Am Ende werden das Gerichte entscheiden. Der belgische | |
EU-Ratsvorsitzende Alain Maron sagte schon einmal vorsorglich, für ihn | |
zähle nur, wie die österreichische Vertreterin abstimme, die | |
innerösterreichische Kontroverse „geht mich nichts an“. | |
Die rechtlichen Fragwürdigkeiten sind freilich nur ein Aspekt der ganzen | |
Chose. Die österreichischen Grünen, seit fünf Jahren Juniorpartner in einer | |
Koalition mit der ÖVP, mussten viele Kompromisse runterschlucken. Und jetzt | |
treten sie dem Koalitionspartner einmal richtig gegen das Schienbein. Der | |
Grund dafür ist erstens die Richtlinie selbst – hätte die Ministerin hier | |
dagegen gestimmt, hätten die Grünen wohl jede Glaubwürdigkeit verloren –, | |
und andererseits die Tatsache, dass die Koalition in ihre finalen Monate | |
geht. | |
Es ist Wahlkampf. Am 29. September wird ein neuer Nationalrat gewählt. Und | |
da wollen und müssen die Grünen eine gewisse Kantigkeit zeigen. Während | |
einer laufenden Legislaturperiode, wo man auf den Kompromisswillen der | |
anderen Seite angewiesen ist, wo es ein ständiges Geben und Nehmen am | |
Verhandlungstisch gibt, ist das nur sehr beschränkt möglich. | |
Simpel gesagt: Die Grünen haben jetzt noch drei Monate, den allzu großen | |
Kompromisswillen der vergangenen Jahre vergessen zu machen. Denn gerade in | |
Teilen ihres Wählerpotenzials attestiert man der Ökopartei seit Jahren eine | |
zu große Konzilianz gegenüber dem rechtskonservativen Koalitionspartner. | |
## Unrealistische Erwartungen von Grünenwähler:innen? | |
Ein Stück weit ähnelt ihre Lage damit der der deutschen Grünen, die nach | |
der Niederlage bei der Europawahl in einer Strategiedebatte stecken: | |
Müssten auch sie in der Ampelkoalition wieder mehr Profil zeigen, um bei | |
der Kernklientel Vertrauen zurückzugewinnen – nach schmerzhaften | |
Zugeständnissen etwa beim Klimaschutzgesetz oder in der EU-Asylpolitik? | |
Oder sollten sie im Gegenteil noch pragmatischer auftreten, um nicht noch | |
mehr Wähler*innen nach rechts zu verlieren? | |
Wie sich der neue Kurs der österreichischen Grünen bei den | |
Nationalratswahlen auswirkt, wird man auch von Berlin aus genau | |
beobachten. Dort muss man schließlich bald die Weichen für den | |
Bundestagswahlkampf 2025 stellen. | |
Man kann tatsächlich unterschiedlicher Meinung sein, für wie fair man die | |
Kritik an grünen Kompromissen hält – oder ob sie nicht von | |
[2][unrealistischen Erwartungen] grüner Wähler und Wählerinnen geprägt | |
ist, die wenig Verständnis haben für die Langsamkeit, Sachzwänge und die | |
Mühlen des demokratischen Prozesses. | |
In Österreich hatte schließlich die ÖVP unter Sebastian Kurz die Wahlen vor | |
fünf Jahren mit 37 Prozent triumphal gewonnen. Gemeinsam mit der | |
ultrarechten FPÖ wäre sie auf eine komfortable parlamentarische Mehrheit | |
gekommen. Die Grünen brachten gerade einmal 14 Prozent auf die Waagschale. | |
Gemessen daran haben sie keine schlechte Bilanz vorzuweisen. | |
## Punktsieg für die Grünen | |
Die Klima- und Umweltministerin hat [3][einiges vorangebracht]. In den | |
Coronajahren haben die grünen Minister einigermaßen vernünftigen Kurs | |
gehalten, während der konservative Koalitionspartner oft irrlichterte und | |
sehr autoritäre Maßnahmen verhängen wollte. Vor allem hatten die Grünen die | |
Korruptionsermittlungen gegen ihren Koalitionspartner nicht behindert und | |
am Ende sogar [4][am Sturz von Sebastian Kurz mitgewirkt]. Kurzum: So | |
„feig“ und „angepasst“, wie es ihnen viele Kritiker unterstellen, waren… | |
Grünen fürwahr nicht. | |
Dennoch müssen sie einen Absturz bei den nächsten Wahlen befürchten. Die | |
diskursive Atmosphäre, die vor fünf Jahren den Grünen noch sehr günstig | |
war, ist durch das populistische Ökologie-Bashing sehr viel negativer | |
geworden. Das eigene Wählerpotenzial ist frustriert. Neue linke Anti- und | |
Protestparteien haben einen Aufschwung, von den Kommunisten bis zur | |
„Bierpartei“. Eine durchaus heikle Konkurrenzsituation. | |
Die Entschlossenheit der Umweltministerin Leonore Gewessler, die generell | |
eine unaufgeregte Resolutheit ausstrahlt, wird ihnen hier sicherlich | |
helfen. Die Koalitionspartner sind jetzt in der Phase, in der sie sich | |
gegeneinander profilieren. Die ÖVP stellt sich gegen „die irren Grünen“, | |
wie das viele ihrer Parteigänger wünschen, die Grünen lassen sich nichts | |
mehr gefallen. | |
In dieser Woche ging das Match eindeutig an die Grünen – sie haben einen | |
Erfolg heimgebracht, während der Kanzler tobt, aber gleichzeitig anmerkt, | |
nichts Relevantes gegen den Entschluss der Ministerin tun zu können. Die | |
Grünen haben einmal gezeigt, wie mutig sie sein können. Freilich: So etwas | |
kann man sich auch nur als Wahlkampfshow erlauben, auf die Dauer könnte man | |
so natürlich nicht regieren. | |
Mitarbeit: Tobias Schulze | |
18 Jun 2024 | |
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