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# taz.de -- Schwarz-Grün in Österreich: Fremdscham bei deutschen Grünen
> Deutsche Grüne kritisieren ihre Pendants aus Österreich für
> Zugeständnisse an die Rechten. Die Parteifchefin sagt, das werde es in
> Deutschland nicht geben.
Bild: Annalena Baerbock ist nicht begeistert von der Entscheidung der Ösi-Grü…
Hamburg taz | Eigentlich ist es bei den Grünen üblich,
Regierungsbeteiligungen von ParteifreundInnen angemessen zu bejubeln. Bei
der Koalition, die gerade in Wien zwischen der konservativen ÖVP von
Kanzler Sebastian Kurz und den österreichischen Grünen vereinbart wurde,
ist es etwas anders.
Auf taz-Anfrage gehen die deutschen Grünen deutlich auf Distanz zur
Ökopartei im Nachbarland. Grünen-Chefin Annalena Baerbock sagte am
Montagabend mit Blick auf den [1][österreichischen Koalitionsvertrag]: „So
etwas wird es in Deutschland nicht geben.“
Auch Luise Amtsberg, in der Bundestagsfraktion für Flüchtlingspolitik
zuständig, betonte: „Dieser Vertrag ist keine Blaupause für Deutschland.“
Und Erik Marquardt, deutscher Flüchtlingsexperte der Grünen im
Europaparlament, sprach gar von einem „Armutszeugnis“. Harsche Worte über
das 328 Seiten starke Papier, auf das Österreichs Grüne gerade sehr stolz
sind. Dessen Geist brachte der neue alte Kanzler Kurz auf die prägnante
Formel: „Es ist möglich, das Klima und die Grenzen zu schützen.“
Der Grund für die ungewöhnliche Kritik der deutschen Grünen ist das Kapitel
zur Flüchtlingspolitik, das Österreichs Grüne unterschrieben haben.
Wissend, dass die ÖVP auch die Option eines neuerlichen Bündnisses mit der
rechtsextremen FPÖ hat, haben die Grünen weitgehende Zugeständnisse an Kurz
gemacht.
## Koalitionsfreier Raum beim Thema Asyl
Besonders brisant: Beide Partner haben einen [2][„Modus zur Lösung von
Krisen im Bereich Migration und Asyl“] vereinbart, der auf Seite 200 des
Koalitionsvertrags erläutert wird. Er soll angewendet werden, wenn
„besondere Herausforderungen“ entstehen, sprich: sehr viele Geflüchtete
nach Österreich einreisen wollen.
Falls sich ÖVP und Grüne in einem solchen Fall über neue Gesetze nicht
einig werden, sieht der Passus einen koalitionsfreien Raum vor. Dann kann
jeder Koalitionspartner auf eigene Faust ein Gesetzesvorhaben in den
Nationalrat, das österreichische Parlament, einbringen. Dem geplanten
Gesetz könne „zugestimmt werden, auch wenn es ein unterschiedliches
Abstimmungsverhalten der Koalitionspartner gibt“, heißt es im Vertrag.
Nutzen kann die Option in der Praxis nur die ÖVP. Sie hat sowohl mit der
SPÖ als auch mit der FPÖ eine Mehrheit, während die Grünen keine Mehrheit
gegen die ÖVP zustande bringen können. Im Klartext: Die ÖVP kann gegen den
Willen der Grünen härtere Asylgesetze mit der rechtsextremen FPÖ
beschließen, ohne dass es zum Koalitionsbruch käme.
Dieser Freibrief verblüffte selbst langjährige Kenner österreichischer
Politik. Der Passus sei ein „echtes Novum“, twitterte ORF-Anchorman Armin
Wolf. Käme er zur Anwendung, wäre er für die Grünen mehr als peinlich. Sie
stünden in der Regierung hilflos daneben, wenn die ÖVP ihre beinharte
Asylpolitik mit der FPÖ einfach fortsetzen würde.
## Blankoscheck für die ÖVP
„Man darf die Verantwortung für die Schwächsten nicht an Rechtsextreme
delegieren“, sagte der deutsche Europaabgeordnete Marquardt. Europäische
Flüchtlingspolitik werde aber zum Glück in Straßburg und Brüssel gemacht,
nicht in Wien. „Auch wenn Herr Kurz gerne so tut, als sei es anders.“
Die Bundestagsabgeordnete Amtsberg ergänzte: „Der ÖVP einen Blankoscheck zu
geben, Asylverschärfungen im Zweifel mit der rechtsextremen FPÖ durchs
Parlament zu bringen, ist nicht nachvollziehbar und sehr gefährlich.“
Aber nicht nur dieser eine Passus stößt bei den deutschen Grünen auf
Kritik. Das gesamte Kapitel „Migration und Asyl“ liest sich, als sei es von
der ÖVP allein geschrieben. So stellen die Partner etwa fest, dass die
Mechanismen zur Verteilung von Migranten und Asylbewerbern innerhalb der EU
„gescheitert“ sind.
Auf einen solchen Verteilungsschlüssel setzt aber nicht nur Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU) nach wie vor. Auch die deutschen und europäischen
Grünen tun es. Ebenso fordert die türkis-grüne Koalition den Schutz der
österreichischen Binnengrenze, „solange der EU-Außengrenzschutz nicht
lückenlos funktioniert“.
## Hauptsache, Klimaschutz?
Amtsbergs Fazit ist eindeutig: „Inhaltlich verabschiedet sich der Vertrag
leider vom Anliegen einer gemeinsamen, europäischen Asylpolitik.“ Es würden
bewusst Ziele formuliert, die nicht umsetzbar seien. „Alle europäischen
Außengrenzen lückenlos zu kontrollieren, ist real kaum umsetzbar.“ Eine
gemeinsame, humane und europäische Asylpolitik an diese Bedingung zu
knüpfen, führe folglich zu mehr nationalen Alleingängen.
Dass die österreichischen Grünen bei zentralen Themenfeldern unter die
Räder kamen, liegt auch am Kräfteverhältnis in der neuen Koalition. Die ÖVP
fuhr bei der Wahl im Oktober mit 37,5 Prozent ein starkes Ergebnis ein, die
Grünen kamen nur auf 13,9 Prozent. Sie konzentrierten sich in den
Koalitionsverhandlungen darauf, klimaschutzpolitische Forderungen
durchzusetzen. Dafür räumten sie andere Felder komplett.
Baerbock bemühte sich, Verständnis für ihre Parteifreunde in Wien zu
zeigen. Die Gespräche seien nicht einfach gewesen, sagte sie. Da sollten
die Deutschen nicht diejenigen sein, die „schlaue Tipps von der
Seitenlinie“ gäben.
Sie wies aber auch darauf hin, dass deutsche Grüne in einer Koalition mit
der Union anders verhandeln würden. Sie hätten in den Jamaika-Sondierungen
2017 sehr deutlich gemacht, dass es am Ende nicht um Kohlekraftwerke oder
Flüchtlinge gehe, sondern um Gestaltung in beiden Bereichen, sagte
Baerbock. Die Grünen wollten die Breite der Themen spielen.
## Durchaus flexibel
Mehrere Grüne, die man auf Österreich anspricht, sagen mit anderen Worten
dasselbe: Ein Deal, in dem sich die Grünen ums Klima kümmerten, die Union
aber um den Rest, sei ausgeschlossen.
Wahr ist aber auch, dass auch deutsche Grüne zu [3][erstaunlicher
Biegsamkeit] fähig sind. In den Jamaika-Sondierungen hätten sie
schmerzhafte Zugeständnisse unterschrieben. Sie wollten damals in der
Flüchtlingspolitik den von der Großen Koalition ausgesetzten
Familiennachzug für subsidiär Geschützte, meist Syrer, wieder einführen.
Im Gegenzug hätten sie die von der CSU geforderte Obergrenze von 200.000
Flüchtlingen pro Jahr akzeptiert. Nur dass sie lieber nicht von einer
Obergrenze sprachen, sondern von einem „atmenden Rahmen“.
7 Jan 2020
## LINKS
[1] /Regierungsprogramm-in-Oesterreich/!5653388
[2] /Neue-Regierung-in-Oesterreich/!5653446
[3] /Machtambitionen-der-Gruenen/!5638650
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
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