# taz.de -- Klimapolitik in den neuen 20er Jahren: Jenseits von Bullshit | |
> Ernsthafte Klimapolitik ist die beste Verteidigung der liberalen | |
> Demokratie. Deshalb hilft kein Metagespräch mehr oder privatistischer | |
> Pipifax. | |
Bild: Öffentliches Training von Ende Gelände-AktivistInnen vor dem Berliner R… | |
Kurz vor Jahresende kam der Leipziger Nachhaltigkeitsprofessor Felix Ekardt | |
um die Ecke, eigentlich einer der differenziertesten Experten für | |
sozialökologische Entwicklung, und meinte, es brauche womöglich eine neue, | |
eine „richtige“ Ökopartei. Die Grünen seien ja leider „kretschmannisier… | |
Also mehrheitsfähig und zurückhaltend mit sozialökologischer Reformpolitik. | |
Ekardt sieht die Radikalität der physikalischen Realität und wollte auch | |
ein bisschen provozieren, klar. Aber wir sind hier bei dem scheinbar | |
unlösbaren Dilemma, dass man zwar eine Mehrheit für Pillepalle gewinnen | |
kann, aber nicht für Klimapolitik auf der Höhe der Problemlage. Was tun? | |
Es gibt nur eine konstruktive Antwort für die 20er Jahre – und das ist eine | |
gesellschaftliche und politische Mehrheit. Zunächst mal, dafür schnell und | |
ernsthaft mit den wesentlichen Reformen anzufangen. Ohne das bis zum Ende | |
durchzubuchstabieren. Das geht schlicht nicht. Es braucht bei diesen | |
Prozessen jetzt Schritte, die dann den jeweils nächsten Schritt | |
ermöglichen. | |
Die Lehren aus dem deutschen Wahnsinn führten nach 1945 zur „Maß und | |
Mitte“-Kultur und -Politik, mit der die Bundesrepublik 70 Jahre lang im | |
Wesentlichen gut beraten war. Aber der Erderwärmung ist mit „Maß und Mitte�… | |
nicht beizukommen, sondern nur mit einer Politik, die der Radikalität der | |
Realität angemessen ist, das ist ein zentraler und richtiger Gedanke des | |
Zeit-Journalisten Bernd Ulrich. | |
## Normale Klimapolitik | |
Das bedeutet aber nicht, dass die sozialökologischen Entscheidungen | |
jenseits der demokratischen Mehrheit fallen können oder gar müssen. Es | |
bedeutet auch nicht, dass eine Regierung einfach „radikal“ handeln müsse. | |
Es bedeutet, dass „Maß und Mitte“ entsprechend verschoben werden müssen, | |
dass Klimapolitik auf Problemhöhe eben nicht als radikal gilt, sondern als | |
normal. Erst wenn das der Fall ist, werden Parteien, die wiedergewählt | |
werden wollen und das auch wollen sollen, zum Beispiel eine andere | |
Autopolitik machen. | |
Wie kriegt man das hin? | |
Sicher nicht, indem man sagt, das wird jetzt alles schlechter für dich, | |
aber es muss halt sein. Oder: Du bist ein selbstsüchtiger Trottel, kehre | |
um! Es ist auch nicht richtig clever, Klimapolitik mit einem Weltkrieg zu | |
vergleichen, um die Leute für einen Ausnahmezustand von Gesetzen und | |
Rationierungen zu gewinnen. | |
Die notorische Verwechslung einer „radikalen“, aber faktisch egoistischen | |
und selbstgefälligen Sprechhaltung mit Politik ist eine der | |
katastrophalsten Folgen der Post-68er-Kultur. Diese als Hochmoral verbrämte | |
Bindungsunfähigkeit und Verantwortungslosigkeit ist einer der Gründe, warum | |
die rot-grüne Chance (1998–2005) verspielt wurde, der sich als progressiv | |
verstehende Teil der Gesellschaft in der Folge zerfiel und sich vollends | |
auf Minderheitenpolitik und privatisierende Selbstverwirklichung | |
reduzierte. Die Haltung in den 20er Jahren ist aber nicht die weitere | |
Verhärtung und Verengung einer Sprechposition, sondern eine neue Offenheit | |
und Allianzbereitschaft. | |
Wir sind hier nicht in einer Widerstandssituation. Es geht darum, die | |
bereits existierende demokratische Mehrheit für Klimapolitik dahingehend zu | |
aktivieren. Bis die mit dem [1][Paris-Abkommen] vereinbarte Klimapolitik | |
von der Regierung in Berlin und vor allem in Brüssel tatsächlich | |
vorangetrieben wird. Das bedeutet sozialökologische Ordnungspolitik, die | |
die Marktwirtschaft und auch die Lebensgewohnheiten verändern wird. | |
Weil nicht nur Öl-, Kohle- und Gasunternehmen, sondern alle in | |
unterschiedlichem Ausmaß Profiteure der fossilen Gesellschaft sind, wird es | |
nicht einfach, so eine Mehrheit zu aktivieren. Auf keinen Fall geht es mit | |
den guten alten Antikapitalismusfantasien, steilen Degrowth-Plänen oder | |
permanenten Klassismus- oder Eurozentrismus-Läuterungsappellen. Das wird | |
das ohnehin kontaminierte öffentliche Gespräch dann wirklich kippen lassen | |
und spielt nur den Verhinderern in die Karten. | |
Den Kapitalismus abschaffen, radikalen Verzicht ausrufen und so weiter, | |
kann theoretisch gut begründet werden. Es ist aber nicht mehrheitsfähig und | |
auch nicht praktikabel in einer Welt, in der jährlich 100 Millionen | |
Menschen oder mehr in die Mittelschichten aufsteigen, in die Städte ziehen | |
und sich konsumierend und reisend endlich verwirklichen wollen. Die finden | |
es nicht geil oder vorbildlich, wenn der Oldenburger | |
Postwachstumsintellektuelle Niko Paech sein einziges Jackett vor zwanzig | |
Jahren gebraucht gekauft hat und es seither trägt. Alte Klamotten hatten | |
sie selbst lange genug. Das muss man als Demokrat und privilegierter | |
Weltbürger akzeptieren. | |
Der Aufbruch beginnt nicht irgendwann, sondern jetzt. Und nicht | |
theoretisch, sondern real. Deshalb hilft kein Metagespräch mehr oder | |
privatistischer Pipifax. Es müssen jetzt die Wege in den einzelnen | |
Bereichen diskutiert und entwickelt werden, national und europäisch: der | |
Weg der Windkraft, der Weg der [2][Autoindustrie], der Weg der | |
Gebäudedämmung. | |
Manche werden auch die Atomkraft wieder in die europäische | |
Klimaschutzdebatte bringen, darüber muss man auch als überzeugter Gegner | |
sprechen können. Um eine gesellschaftliche Priorität für reale Klimapolitik | |
durchzusetzen, braucht es ein anderes Denken und ein anderes Sprechen. Die | |
Politiker müssen die Gesellschaft und die Leute, speziell auch die von 1968 | |
geprägten, müssen die Politik als Mittel organisierter gesellschaftlicher | |
Veränderung ernst nehmen. | |
Und „die Medien“, das meint prioritär die klassischen | |
Nachrichtenredaktionen, müssen die physikalische Realität der Erderwärmung | |
ernst nehmen und dürfen nicht ständig in ihre eigenen Traumwelten | |
ausbüchsen. Die ineinandergreifende Veränderungsbereitschaft dieser Systeme | |
ist die Voraussetzung für den Aufbruch. Wichtigstes Instrument ist ein | |
Sprechen, in das Zuhören und Eingehen auf die Argumente der anderen wieder | |
eingebaut wird. Damit kann man den Bullshit-Talk der Mediengesellschaft | |
zumindest teilweise durch ernsthaften und sachbezogenen Streit ersetzen. | |
Wie soll das gehen? | |
Indem wir es tun. Man konnte im Jahr 2019 sehen, dass das nicht unmöglich | |
ist, sondern einfach Leute braucht, die damit anfangen. In Talkshows, in | |
Qualitätsmedien, auf Twitter, bei Partys, auf Parteitagen, bei den großen | |
[3][Fridays-for-Future]-Streiks. Damit muss Druck auf die Parteien | |
aufgebaut werden, dass sie vor der kommenden Bundestagswahl auf keinen Fall | |
mit ihrem klischierten Abgrenzungsgeschwätz durchkommen, [4][in dem die | |
Union und die FDP den Grünen vorwerfen], ideologische Verbotsfetischisten | |
zu sein, die den Sozialismus wollen. | |
## Hart, aber nötig | |
Und die beiden sozialdemokratischen Parteien immer nur sagen, Klimapolitik | |
dürfe nicht zulasten der kleinen Frau gehen, was die grünen | |
Turbokapitalisten aber nicht kümmere. Und die Grünen sagen, dass sie es | |
schon immer gesagt haben. Und das Wesentliche: In das Gespräch müssen | |
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihr Vize und | |
Klimaschutzkommissar Frans Timmermans permanent einbezogen werden. | |
Klimapolitik und Zukunft entscheiden sich in Brüssel. Das neue Gespräch | |
braucht daher Berlin-Relativierung. Das ist hart für uns alle. Aber nötig. | |
Eine neue Klimapolitik-Gesellschaft ist übrigens keine Grünen-Gesellschaft, | |
im Gegenteil. Die alten 8 Prozent Besserwisser-Grünen waren die | |
Vereinbarung der Mainstreamgesellschaft, dass für die Erderwärmung zwar | |
Zuständige eingesetzt werden, die mahnend sprechen, aber nur in ihrer Ecke | |
und als Ersatz für ein Handeln. Die Notwendigkeit, dass sich das ändert, | |
haben im Jahr 2019 nicht die Grünen, sondern die Junge-Menschen-Bewegung | |
Fridays for Future im Mainstream implementiert, und zwar mit ernsthaftem | |
Sprechen, dem Insistieren auf das Pariser Klimaabkommen und das Instrument | |
der Politik. | |
Luisa Neubauer und Fridays for Future sind im Gegensatz zu manchen Älteren | |
erwachsen genug, um zu sehen, dass man die liberale Demokratie nicht mit | |
Verzicht auf Klimapolitik verteidigen und die Erderwärmung nicht durch | |
Abschaffung der Institutionen oder Abwicklung der Wirtschaft stoppen kann. | |
Ernsthafte Klimapolitik ist die beste Verteidigung der liberalen Demokratie | |
– dieses Denken ist das neue „Maß und Mitte“ der bundesrepublikanischen | |
Gesellschaft für die 20er Jahre. | |
Let’s do it. | |
1 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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