# taz.de -- Kein Jugendsport während Corona: Bewegung hilft | |
> Die Pandemie macht Kinder psychisch krank. Die Einschränkung ihrer | |
> sportlichen Betätigungsmöglichkeiten wirkt da kontraproduktiv. | |
Bild: Gemeinsam austoben, zum Beispiel beim Hiphop, geht derzeit kaum für Teen… | |
BREMEN taz | In normalen Zeiten geht Esther mehrmals die Woche zum | |
Kampfsport-Training. Doch das geht jetzt nicht. Wegen Corona. Deshalb hat | |
sich die 18-Jährige, die eigentlich anders heißt, ein | |
Alternativ-Sportprogramm zurecht gelegt, wie sie bei einer zufälligen | |
Begegnung Mitte April am Werdersee erzählt. | |
Sie kommt gerade aus dem eiskalten Wasser, vorher ist sie gelaufen: ihr | |
Tagesprogramm. Dafür steht sie morgens eine Stunde früher auf. Esther | |
schätzt, dass sie etwa drei Mal so viel Sport macht [1][wie vor der | |
Pandemie]. Es tue ihr gut, sagt sie. „Und was soll man auch sonst machen?“ | |
Esther, das sagt sie selbst, ist kein typisches Beispiel. Denn die Mehrzahl | |
der Kinder und Jugendlichen [2][bewegt sich aktuell weniger als vor der | |
Pandemie], wie Studien zeigen. Das ist keine überraschende Feststellung, | |
sind doch Sportvereine seit Monaten entweder ganz geschlossen oder bieten | |
nur noch ein Spar-Trainingsprogramm an, je nachdem, um welche Sportart es | |
sich handelt. | |
Drinnen durften bis zum Inkrafttreten des neuen Infektionsschutzgesetzes | |
(„Bundesnotbremse“) in vielen Bundesländern sowohl Erwachsene als auch | |
Kinder nur allein, zu zweit oder mit dem eigenen Haushalt trainieren. | |
Draußen war dies zum Beispiel in Bremen Kindern und Jugendlichen bis | |
einschließlich 14 Jahren bis vor zwei Wochen erlaubt mit bis zu 20 Personen | |
plus zwei Trainer*innen. | |
Jetzt ist ab einer Sieben-Tages-Inzidenz von 100 Indoor-Sport ganz | |
verboten, draußen ist Sport dann ab 14 Jahren nur noch zu zweit oder mit | |
dem eigenen Haushalt erlaubt, bei einer Sieben-Tages-Inzidenz unter 100 nur | |
noch mit maximal fünf Personen. Und das auch nur „kontaktlos“ – was auch | |
immer das heißt. | |
## Studien: Aktivität nimmt ab | |
Auch der Sportunterricht findet seltener statt oder – abhängig von | |
Bundesland und Infektionsraten – auch gar nicht. Nach einer noch | |
unveröffentlichten internationalen Studie, an der der Bremer | |
Sportwissenschaftler und Präventionsforscher Mirko Brandes beteiligt war, | |
bewegen sich nur noch zehn Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen | |
gemäß den WHO-Empfehlungen. Im ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr | |
waren es noch doppelt so viele gewesen. | |
Für Deutschland war Brandes’ Kollege Alexander Woll aus Karlsruhe in einer | |
Befragung von 1.700 Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 17 Jahren | |
[3][zu dem Ergebnis gekommen], dass vor einem Jahr die sportliche Aktivität | |
im Durchschnitt um eine halbe Stunde täglich abgenommen, die | |
Alltagsaktivität aber sogar um eine halbe Stunde zugenommen hatte – | |
vermutlich wegen der außergewöhnlich milden Witterung und der Tatsache, | |
dass Schulen und Kindertagesstätten komplett geschlossen waren. | |
Allerdings schränkt Woll ein: „Spielen im Freien, Fahrradfahren, | |
Garten-oder Hausarbeit haben nicht dieselbe Intensität wie Training und | |
Wettkämpfe im Verein.“ | |
Die beiden Sportwissenschaftler Brandes und Woll haben im Februar in einem | |
unveröffentlichten Arbeitspapier gefordert, körperliche Bewegung nicht als | |
notwendiges Opfer im Kampf gegen die Pandemie zu betrachten, sondern im | |
Gegenteil als Teil der Lösung zu begreifen. | |
Schließlich sei die positive Wirkung von Sport auf Widerstandskraft und | |
Immunsystem [4][durch internationale Studien belegt], auch spezifisch | |
bezogen auf die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 (schwer) zu erkranken. | |
[5][Zudem seien positive Effekte auf die psychische Gesundheit | |
nachgewiesen.] Es lägen Beweise vor „für eine Reduktion von Angst und | |
Depressionen durch körperliche Aktivität“. | |
Ebenfalls belegt ist, dass die Gefahr, aufgrund der Pandemie-Situation | |
psychisch zu erkranken, erhöht ist, mittlerweile auch für zuvor psychisch | |
gesunde Menschen. Das gilt auch für Kinder: „Fast jedes dritte Kind leidet | |
ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen | |
Auffälligkeiten“, hatte das Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg Ende | |
Februar [6][die Ergebnisse einer Befragung zusammengefasst]. | |
## Sport hilft der Psyche | |
Dazu waren Mitte Dezember bis Mitte Januar 1.000 Elf- bis 17-Jährige sowie | |
mehr als 1.600 Eltern von Sieben- bis Zehnjährigen befragt worden, mehr als | |
80 Prozent von ihnen hatten an einer ersten Befragung im Juni teilgenommen. | |
„Ängste und Sorgen haben bei den Kindern im Vergleich zur ersten Befragung | |
noch einmal deutlich zugenommen“, schreiben die Autor*innen, „sie zeigen | |
zudem häufiger depressive Symptome sowie psychosomatische Beschwerden wie | |
zum Beispiel Niedergeschlagenheit oder Kopf- und Bauchschmerzen“. | |
Das Forscher*innenteam hatte auch abgefragt, wie viel Sport die Kinder | |
noch machen würden. Bei der ersten Befragung hatten knapp 20 Prozent | |
angegeben, gar keinen Sport mehr zu machen, bei der zweiten hatten dies | |
doppelt so viele gesagt. Dabei sei Sport „ganz wesentlich für das | |
psychische und physische Wohlbefinden“, schreibt die Studienleiterin Ulrike | |
Ravens-Sieberer. „Neben der für die gesunde Entwicklung so wichtigen | |
Bewegung treffen Kinder und Jugendliche beim Sport auch ihre Freunde, | |
lernen, sich in eine Mannschaft einzuordnen und mit Konflikten, Siegen und | |
Niederlagen umzugehen.“ | |
Sportwissenschaftler Mirko Brandes fordert deshalb Politiker*innen zu | |
einer neuen Kommunikationsstrategie auf. Bisher, so heißt es in einem | |
offenen Brief, den Brandes’ Arbeitgeber, das Leibniz-Institut für | |
Präventionsforschung und Epidemiologie (Bips) Ende März an Bremer | |
Politiker*innen verschickt hat, würde „Bewegung und Sport | |
vordergründig leider immer noch auf das damit verbundene Infektionsrisiko | |
reduziert“. | |
Zu spüren bekommen das Kinder und Jugendliche, die gegen das | |
Infektionsschutzgesetz verstoßen, wenn sie im Freien kicken. Eine | |
17-Jährige aus Hamburg berichtet, wie sie immer wieder von der Polizei | |
verjagt wird, wenn sie mit ihren Freunden Skateboard fährt. Dabei hatte | |
genau das gegen ihre Panikattacken geholfen. | |
Dass das Infektionsrisiko im Freien ausgesprochen gering ist, hatten vor | |
vier Wochen in einem offenen Brief Aerosolforscher*innen erklärt, | |
also Wissenschaftler*innen, die sich auch mit der Verbreitung von Viren | |
über die Luft beschäftigen. Christof Asbach, der Präsident der Gesellschaft | |
für Aerosolforschung, hatte [7][daraufhin in einem Interview erklärt]: „Im | |
Freien gibt es keine Gründe, die dagegen sprechen würden, Sport wieder zu | |
erlauben. In Turnhallen muss man kritischer hinsehen, aber man kann sie mit | |
guten Hygienekonzepten mit einem überschaubaren Risiko wieder öffnen.“ | |
## Lieber mit Maske als gar nicht | |
Den offenen Brief aus Bremen unterschrieben hat neben Sportvereinen, | |
Schulleiter*innen und dem Vorsitzenden des Bremer Berufsverbandes der | |
Kinderärzt*innen auch Brandes’ Chef Hajo Zeeb, der in Bremen als | |
Epidemiologe den Senat zum Umgang mit der Pandemie berät und auch immer | |
wieder öffentlich gesagt hat, wenn er etwa eine Lockerung zu riskant fand. | |
„Wir sagen nicht: Sport einfach erlauben, egal wie“, sagt Brandes. Und wenn | |
es nur mit Abstand und Maske erlaubt würde, dann wäre das immer noch besser | |
als gar kein Sport. | |
Die Begrenzung auf 14 Jahre hält Brandes für falsch, weil auch ältere | |
Teenager noch sehr darauf angewiesen seien, mit anderen zusammen Sport zu | |
machen. „Erwachsene können alleine oder zu zweit joggen, da spielt der | |
soziale Aspekt eine geringere Rolle als bei Jugendlichen.“ In der taz war | |
vor Kurzem ein Jugendtrainer des Basketballvereins Alba Berlin [8][mit den | |
Worten zitiert worden]: „Ein Kind macht im Gegensatz zu einem Erwachsenen | |
keinen Fitnessport, ein Kind bewegt sich mit den anderen zusammen – oder | |
gar nicht.“ | |
Die Unterzeichner*innen des offenen Briefs fordern Landesregierungen | |
und Bundesregierung dazu auf, die Bedeutung von körperlicher Bewegung so | |
offensiv zu promoten wie die Abstandsregeln. Brandes erinnert an eine | |
Anzeige der Bundesregierung, auf der stand: „Bleiben Sie zu Hause“, dazu | |
abgebildet war eine Frau auf dem Sofa. „Es müsste heißen: ‚Bleiben Sie zu | |
Hause – aber in Bewegung.‘“ | |
Welche Auswirkungen solche politischen Botschaften haben können, [9][zeigt | |
eine kanadische Studie]. Das Forscher*innenteam, das die Bedeutung von | |
körperliche Aktivität als Coping-Strategie für die psychische Belastung in | |
der Pandemie untersucht hatte, vermutet, dass ein signifikanter Teil der | |
Bevölkerung wegen der „Bleib zu Hause“-Ansagen im ersten Lockdown | |
körperlich passive Aktivitäten gewählt habe, um mit Stress umzugehen. Unter | |
anderem hatte ein Fünftel der Befragten gesagt, in der Pandemie seltener | |
Sport zum Stressabbau zu nutzen als vorher. | |
Esther ist für diese Botschaft zum Glück nicht empfänglich. | |
10 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Coronapandemie-und-Anpassung/!5735781 | |
[2] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33641633/ | |
[3] https://www.nature.com/articles/s41598-020-78438-4 | |
[4] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7387807/ | |
[5] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33329133/ | |
[6] https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie… | |
[7] https://www.rnd.de/gesundheit/aerosolforscher-corona-infektionsgefahr-im-fr… | |
[8] /Jugendsport-in-der-Pandemie/!5768374 | |
[9] https://open.library.ubc.ca/cIRcle/collections/facultyresearchandpublicatio… | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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