| # taz.de -- Jesidische Flüchtlinge im Irak: Notfalls zu Fuß nach Europa | |
| > „Sag der Welt, sie soll uns nicht hier vergessen.“ Jesidische Flüchtlinge | |
| > erzählen von den Gräueln in ihrer Heimat und der gelungenen Flucht nach | |
| > Kurdistan. | |
| Bild: Jesiden kommen in Dohuk an. | |
| DOHUK taz | Vom Auto aus, an der Einfahrtsstraße zur kurdischen Stadt | |
| Dohuk, wirkt das Ganze fast wie ein Puppenhaus. In Betonskelett eines | |
| zehnstöckigen Rohbaus, an dem noch keine Mauern eingezogen sind und der zu | |
| allen Seiten offen ist, herrscht in den ersten beiden Stockwerken ein | |
| buntes Gewusel. Ein paar Matratzenstapel sind auszumachen, ansonsten sitzen | |
| Gruppen von Menschen im Schatten der nackten Betondecken. | |
| 25 jesidische Familien haben hier nach ihrer Flucht aus den Bergen in den | |
| sicheren Teil Kurdistans in den letzten Tagen ein improvisiertes Refugium | |
| gefunden. Kinder laufen zwischen den Betonböden herum. Die meisten | |
| Erwachsenen wirken apathisch, sitzen in der Nähe einer kleinen Teeküche, | |
| die sie neben einem Betonpfeiler eingerichtet haben. Eine Mutter schwingt | |
| ihr Baby in einer aus Bauholz zusammengezimmerten Wiege in den Schlaf. | |
| Pakisa Ahmad sitzt mit einem Baby im Arm an einer Betonsäule angelehnt. | |
| „Sie haben uns mit Mörsern beschossen. Also sind wir in die Berge | |
| geflüchtet“, beginnt sie. Dort hätten nur die Gesunden und Starken | |
| überlebt. Viele der Kinder, Alte und Schwache seien gestorben. „Meinen Mann | |
| haben die IS-Kämpfer verschleppt, als er die Schafe gehütet hat. Ich weiß | |
| nicht, wo er ist oder ob er überhaupt noch lebt“, sagt sie noch, und dass | |
| es auf dem Berg, von dem sie kommt, so unerträglich nach Verwesung | |
| gestunken hat, das wollte sie auch noch unbedingt mitteilen. | |
| Nicht weit von ihr entfernt ist gerade eine Familie angekommen. Das gute | |
| Dutzend Menschen sieht völlig erschöpft aus. Ein jüngerer Mann starrt mit | |
| leicht irren Augen auf die Betondecke. Seit sie es geschafft haben, aus der | |
| Hölle des Berges zu flüchten, spricht er kein Wort mehr, sagen sie anderen. | |
| Leila Khalat, vielleicht Mitte, Ende zwanzig, liegt auf dem Boden in eine | |
| Decke eingewickelt. Sie hat offensichtlich Schmerzen. Auf dem Berg gab es | |
| nichts, also sei sie mit meinem Schwager ins Tal, um Essen zu organisieren. | |
| ## Eine Kugel zur Erinnerung | |
| „Die IS-Kämpfer haben uns entdeckt und auf uns geschossen. Gott sei Dank | |
| sind zu diesem Zeitpunkt ein paar Flugzeuge über das Tal geflogen, und sie | |
| haben von uns abgelassen. Wir haben es grade noch geschafft wegzukommen.“ | |
| Aber als Erinnerung hat sie eine Kugel im Rücken stecken. „Wenn wir zu | |
| essen gehabt hätten, wäre das nicht passiert“, meint sie noch und krümmt | |
| sich unter Schmerzen. Sami, ein anderer Flüchtling, ist ganz offensichtlich | |
| wütend. „Wir wollen keine Almosen oder ein Mittagessen von euch, wir | |
| wollen, dass ihr uns wegbringt. Ich möchte dieses Land nie wiedersehen.“ | |
| Er begreift immer noch nicht, was geschehen ist. „Wir sind doch das | |
| friedlichste Volk der Welt, wir können keiner Fliege etwas zuleide tun“. | |
| Dann deutet er auf eine ältere Frau hinter sich. „Viele der Schwachen und | |
| Alten mussten sie zurücklassen. Aber diese alte Frau haben wir bis hierher | |
| getragen“. Er sagt das nicht ohne einen gewissen Stolz, wenigstens das | |
| geschafft zu haben. | |
| Samir Khalaf, der ehemalige Direktor der Oberschule, ist jemand, zu dem | |
| alle aufblicken. „Schau mich an“, sagt er und zerrt an seiner zerrissenen, | |
| schmuddeligen Galabeya, seinem weißen Beinkleid. „Sieht so ein | |
| Schuldirektor aus? Aber das ist das Einzige, was ich neben meinem Leben | |
| noch besitze.“ Er, der selbst mit 15 Familienmitgliedern gekommen ist, ist | |
| so etwas wie der Sprecher der Flüchtlinge im Rohbau. | |
| Auch er hat Schreckliches erlebt. Erst seien einfach nur zwei Fahrzeuge | |
| voller IS-Kämpfer gekommen, die hätten erst einmal nichts gemacht, erzählt | |
| er. „Dann kamen die Menschen aus den benachbarten arabischen Dörfern. Sie | |
| haben alles geplündert, und sie haben uns in unseren eigenen Häusern | |
| abgeschlachtet.“ Er hat mit angesehen, wie zwei seiner Schüler auf der | |
| Straße einfach erschossen wurden. | |
| ## Von 50 PKK-Kämpfern befreit | |
| Doch dann hat er mit Zehntausenden anderen geschafft, auf den benachbarten | |
| Sindschar-Berg zu flüchten. Es war nur eine kurze Erleichterung. „Zu | |
| Hunderten sind sie auf dem Berg gestorben. Eine Frau hat das wenige Wasser | |
| immer nur ihren Kindern zum Trinken gegeben. Am Ende ist sie verdurstet“, | |
| berichtet er als ein Beispiel für die vielen furchtbaren Erlebnisse dort. | |
| Auch er ist wütend. Er erzählt von dem sicheren Korridor, der vor ein paar | |
| Tagen geöffnet wurde. Durch ihn haben sie es schließlich geschafft, zu Fuß | |
| außer Reichweite der IS-Kämpfer zu kommen, die ihnen eine Woche lang die | |
| Möglichkeit zur Flucht abgeriegelt hatten. „Es waren nur 50 leicht | |
| bewaffnete kurdische Kämpfer der PKK aus der Türkei, die den Korridor | |
| freigekämpft haben. Sie haben uns gerettet. Wo waren die amerikanischen und | |
| britischen Flugzeuge?“, fragt er. | |
| Wenn nur so wenige uns Tausende retten konnten, fügt er hinzu, „warum | |
| kommen dann keine schwer bewaffneten Soldaten, egal woher, den Rest der | |
| Menschen vom Berg zu holen?“ Dann macht er eine Pause und wartet auf eine | |
| Antwort. | |
| Auch wenn er es herausgeschafft hat, weg von der Hitze, dem Durst, dem | |
| Hunger und der ständigen Angst des Berges – er fühlt er sich immer noch im | |
| Stich gelassen. Bis heute sei niemand hier zu diesem Gebäude gekommen, um | |
| ihnen zu helfen. Nur ein paar Menschen aus der Nachbarschaft brächten | |
| Wasser und Essen vorbei. „Wir bekommen keine Hilfe, nicht von der | |
| kurdischen, nicht von er irakischen Regierung, nicht aus den | |
| Nachbarstaaten. Auch von der UN ist nichts zu sehen. Wenn es die | |
| hilfsbereiten Nachbarn nicht gäbe, wären wir alle bereits tot“, fasst er | |
| zusammen. | |
| Zurückgehen, meint der Schuldirektor, werde er nie wieder, nicht mit allen | |
| Garantien der Welt. Er werde nach Europa weitergehen, „wenn nötig zu Fuß“. | |
| „Sag der Welt, sie soll uns nicht hier vergessen“, sagen sie zum Abschied. | |
| „Was wollen Sie von uns?“, fragt einer. „Sollen wir Ihnen einen Termin | |
| geben, wann wir uns alle kollektiv umbringen? Dann sind Sie uns als Problem | |
| endlich los.“ Zum Abschied winken sie aus dem Puppenhaus: nacktes Elend vor | |
| nacktem Beton. | |
| 13 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Karim Gawhary | |
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