| # taz.de -- Integration in Griechenland: Auch Nazim geht jetzt zur Schule | |
| > Tausende Flüchtlinge stecken in Griechenland fest. Die Kinder müssen nun | |
| > dort in die Schule. Doch manche Eltern haben Bedenken. | |
| Bild: Kinder bei einer Schuleröffnungszeremonie in Athen | |
| Athen taz | Lautes Stimmengewirr schallt über den Hof der Grundschule im | |
| Athener Stadtzentrum. Quirlig laufen zahlreiche Kinder über den Schulhof. | |
| Mitte September hat das neue Schuljahr begonnen. Die Schulleiterin – kurze | |
| blondierte Haare, wallendes Leinenkleid, auffälliger Schmuck – sitzt hinter | |
| ihrem Schreibtisch im Lehrerzimmer, das sich im Souterrain des | |
| zweistöckigen Neubaus befindet. Sie nimmt immer wieder Anrufe entgegen und | |
| tauscht sich mit ein paar KollegInnen aus. Zum Schutz der Kinder möchte die | |
| Direktorin weder ihren Namen noch den Namen der Schule nennen. „Dieses | |
| Schuljahr wird ungewöhnlich“, sagt sie, während sie einen Stapel mit | |
| Zetteln nach einer Telefonnummer durchforstet. | |
| Denn in diesem Jahr werden zahlreiche Flüchtlingskinder in griechische | |
| Schulen integriert. Bereits 30 Anmeldungen habe es hier auf der Grundschule | |
| gegeben, sagt sie, greift zum Telefon und wählt die unter dem Zettelhaufen | |
| gefundene Nummer. 155 Kinder besuchen die Schule derzeit. Ein kurzer Anruf, | |
| dann berichtet sie weiter. Die 30 Kinder, die dazukämen, seien zwischen 7 | |
| und 12 Jahren alt und kämen hauptsächlich aus Afghanistan und Syrien. | |
| Etwa 40 Prozent der über 60.000 Flüchtlinge und Migranten, die in | |
| Griechenland festsitzen, sind Kinder. Die meisten von ihnen mussten infolge | |
| der Flucht und ihres Aufenthalts in Flüchtlingslagern durchschnittlich | |
| eineinhalb Jahre ohne Schulausbildung verbringen, meldet die | |
| Hilfsorganisation Save the Children. Nun hat die griechische Regierung ab | |
| diesem Schuljahr Spezialklassen angeordnet. | |
| Insgesamt werden nach und nach etwa 2.000 Flüchtlingskinder und | |
| schätzungsweise 22.000 Migrantenkinder auf griechische Schulen verteilt. | |
| Zunächst sollen die Kinder von den griechischen SchülerInnen getrennt in | |
| Sonderklassen unterrichtet werden. 800 LehrerInnen sind dafür von der | |
| Regierung eingestellt worden, die hauptsächlich Sprachunterricht in | |
| Griechisch und Englisch geben sollen. Noch sind diese Klassen nicht | |
| gestartet. Bis dahin nehmen die Kinder am normalen Unterricht teil. | |
| ## Warum Griechisch lernen, wenn man eh weiter will? | |
| „So weit es geht“, meint die Direktorin. „Die Sprachbarriere ist ein gro�… | |
| Problem“, seufzt sie. Außerdem sei es für viele Familien, deren Kinder auf | |
| griechische Schulen gehen sollen, nicht sicher, dass sie in Griechenland | |
| bleiben werden. Sie haben zwar vorläufig Asyl in Griechenland erhalten. | |
| Doch die meisten wollen immer noch weiter nach Nordeuropa, zu Verwandten | |
| oder weil sie hoffen, dort leichter Arbeit zu finden. „Das bekommen die | |
| Kinder in den Familien mit“, sagt die Direktorin. Unter diesen | |
| Voraussetzungen Griechisch zu lernen, sei demotivierend. „Durch die | |
| insgesamt instabile Lage ist es für die Kinder schwierig, sich auf den | |
| Unterricht einzulassen“, so die Pädagogin. | |
| Die angelehnte Tür zum Lehrerzimmer wird von einer kleinen Hand vorsichtig | |
| einen Spalt weiter aufgestoßen. Die Direktorin schaut lächelnd zur Tür und | |
| winkt den zarten Jungen in rotem T-Shirt herein. Sein Vater kommt hinter | |
| der nun offenen Tür zum Vorschein. „Ich werde hier zur Schule gehen“, | |
| verkündet der 8-jährige Nazim auf Englisch. Man habe ihm in der letzten | |
| Woche bereits einen Zettel gegeben, aber er wisse nicht, wo er hingehen | |
| müsse. Sein Vater steht stumm hinter dem Kind, denn er spricht kein | |
| Englisch. | |
| Nazim ist in Afghanistan über ein Jahr auf eine englische Schule gegangen. | |
| Der Junge übersetzt für seinen Vater. Sie kämen aus der Stadt | |
| Masar-i-Scharif, seien von Chios nach Athen gekommen und jetzt seit fünf | |
| Monaten in Griechenland. Der Vater habe hier ganz in der Nähe eine Wohnung | |
| angemietet. „Gleich da drüben!“ Nazim zeigt stolz aus dem Fenster über die | |
| Straße. Die ganze Familie – er, die Eltern, seine beiden Schwestern und | |
| sein jüngerer Bruder – haben einen vorläufigen Asylbescheid erhalten. | |
| ## Die Kinder sollen zur Schule gehen | |
| Die Direktorin sieht sich das Blatt an, das ihr der Vater nun entgegenhält. | |
| „Sie müssen Ihre Kinder noch auf ihre Gesundheit untersuchen und impfen | |
| lassen“, erklärt sie ihm. Nazim übersetzt. „Bevor die Kinder den Unterric… | |
| besuchen dürfen, müssen alle Untersuchungen von den Ärzten hier eingetragen | |
| werden.“ Die Direktorin zeigt auf unterschiedliche freie Linien auf dem | |
| Blatt. Ein Kollege kommt hinzu und schreibt dem Jungen in großen Lettern | |
| die Adresse auf, wo sich der Arzt befindet. | |
| Wieder wird die Tür vorsichtig geöffnet. Nazim lächelt. Seine 20-jährige | |
| Schwester Flora, sein 7-jähriger Bruder Samir und seine 13-jährige | |
| Schwester Asina betreten das Lehrerzimmer. Die beiden jüngeren Geschwister | |
| wollen sich auch zum Unterricht anmelden. Flora hat in Afghanistan bereits | |
| begonnen. Medizin zu studieren. „Für mich wird es hier schwer, wieder Fuß | |
| zu fassen“, sagt sie. Sie glaube nicht, dass sie hier in Griechenland ihr | |
| Studium fortsetzen könne. Vielleicht irgendwann in einem Land, in dem das | |
| Studium in englischer Sprache möglich sei. | |
| Doch ihre jüngeren Geschwister müssten jetzt die Chance ergreifen und | |
| unbedingt endlich wieder zur Schule, sagt Flora bestimmt. Ihr Vater sei in | |
| Afghanistan ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, pendelte zwischen | |
| Masar-i-Scharif und Dubai hin und her, erzählt sie leise weiter. Er geriet | |
| in den Fokus der Taliban. „Wir waren drei Schwestern“, sagt Flora, lächelt, | |
| scheint kurz in sich versunken. Eine Schwester sei von den Taliban getötet | |
| worden. Deshalb habe die Familie beschlossen, das Land zu verlassen. | |
| ## Eltern protestierten gegen Flüchtlingskinder | |
| Der Vater nimmt die Adresse und das Blatt für die Untersuchungen an sich, | |
| verabschiedet sich höflich mit seiner Familie aus dem Lehrerzimmer. Eine | |
| der Lehrerinnen hat in der Zwischenzeit einen Satz Kopien auf ihren Tisch | |
| gestapelt: obligatorische Griechischtests für den ausländischen Neuzugang. | |
| Jedem hier ist klar, dass keines der Kinder mit den paar aufgeschnappten | |
| Worten Griechisch dem Unterricht folgen kann. Der Test erfolgt zur | |
| offiziellen Einstufung der Kinder in die Spezialklassen, die bald starten | |
| sollen. | |
| Ob es hier schon einmal Proteste von griechischen Eltern wegen der | |
| Flüchtlingskinder gab? „Zum Glück nicht“, sagt die Direktorin. Ja, sie ha… | |
| von den Protesten des Elternverbandes in Oräokastro, nördlich von | |
| Thessaloniki, gehört. Dort haben sich griechische Eltern zusammengetan und | |
| sich in einem offiziellen Schreiben gegen die Aufnahme von | |
| Flüchtlingskindern an der 5. Grundschule der Gemeinde Oräokastro | |
| ausgesprochen. | |
| Sie wollten das Gebäude besetzen, sollten die Kinder dort unterrichtet | |
| werden. Das „stehe im Gegensatz zum sonst solidarischen und | |
| verständnisvollen Verhalten der Mehrheit der Griechen“, sagte der | |
| griechische Bildungsminister Nikos Filis in einem Radiointerview. | |
| ## Die Angst, in Griechenland zu stranden | |
| „Ein trauriges Verhalten der Eltern“, sagt auch die Direktorin | |
| kopfschüttelnd. Dann widmet sie sich weiteren Stapeln mit abzuarbeitenden | |
| Papieren. Die Schulglocke ertönt. Zahlreiche Kinder strömen aus den | |
| Klassenräumen auf den Schulhof zur zweiten großen Pause. | |
| Zwei Häuserblöcke von der Schule entfernt befindet sich ein leerstehendes | |
| ehemaliges Schulgebäude, welches zum Flüchtlingslager umfunktioniert wurde. | |
| Vor dem großen Haupteingang steht eine Frau mit ihren beiden Kindern, etwa | |
| sechs und sieben Jahre alt. Sie lebe seit gut einem halben Jahr in | |
| Griechenland und komme aus dem Irak, erzählt sie. Ja, sie habe vorläufige | |
| Asylpapiere. | |
| Ihre Kinder wolle sie trotzdem nicht zur Schule schicken – sie sollten gar | |
| nicht erst anfangen, Griechisch zu lernen. Viele der Flüchtlinge wollten | |
| das nicht. „Wir haben Angst, dass wir länger hierbleiben müssen und gar | |
| nicht mehr aus Griechenland herauskommen“, sagt die Frau, nimmt ihre Kinder | |
| an die Hand und verschwindet hinter den hohen Türen des großen Gebäudes. | |
| 27 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Theodora Mavropoulos | |
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