# taz.de -- Lesbische Geflüchtete aus Syrien: „Eigentlich atme ich nur“ | |
> Judy ist aus Aleppo geflohen – nicht vor dem Krieg, sondern weil sie | |
> lesbisch ist. In Hamburg angekommen, fühlte sie sich in den Unterkünften | |
> nicht immer sicher. | |
Bild: Heute lebt Judy in Hamburg und möchte anonym bleiben, weil ihre Mutter s… | |
taz: Wie geht es Ihnen, Judy? | |
Judy*: Ich atme noch. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich fühle mich, als wäre ich eigentlich nicht am Leben. Das ist kein Leben: | |
Essen, schlafen, atmen. Ich studiere nicht, ich habe kein normales Leben. | |
Eigentlich atme ich nur. | |
Sie sind aus Aleppo geflohen, aber der Krieg war nicht der primäre Grund. | |
Warum sind Sie nach Deutschland gekommen? | |
Ich bin geflohen, weil ich lesbisch bin. Dadurch unterscheidet sich meine | |
Situation von der anderer syrischer Refugees. | |
Wie ist das Leben in Syrien für Homosexuelle? | |
Man muss seine Sexualität verstecken – es ist ein No-Go. Du kannst nicht | |
darüber reden, du kannst nichts darüber lesen, du kannst nichts machen. Sie | |
sagen, das sei in jeder Religion eine Sünde. | |
Sind Sie religiös? | |
Ich bin muslimisch. Aber ich habe viele Dinge an meiner Religion zu | |
kritisieren. Zum Beispiel: Warum sollte ich einen Hijab tragen? Gott hat | |
mir Haar gegeben. Wieso sollte ich es dann verstecken? Und: Gott hat mich | |
lesbisch gemacht. Warum sollte ich dafür bestraft werden, wenn er mich so | |
gemacht hat? | |
Was gab den Ausschlag für Ihre Flucht? | |
Die Polizei hat nach mir gesucht. Ich hatte Streit mit meiner Ex-Freundin. | |
Sie hat Schluss gemacht, mich angezeigt und der Polizei gesagt, dass ich | |
lesbisch bin. Das ist ein Verbrechen in Syrien, du kommst dafür in den | |
Knast. Offiziell für fünf Jahre, aber in Wirklichkeit solange bis – keine | |
Ahnung, das weiß nur Gott. | |
Warum wollte sie Ihnen das antun? | |
Wir waren vier Jahre zusammen. Sie war viel unterwegs, ist viel weggegangen | |
– rauchen, trinken, tanzen. Irgendwann haben die Leute angefangen, über sie | |
zu reden. Das ist gefährlich, also hab ich ihr gesagt, dass sie damit | |
aufhören soll. Ich habe zwar dasselbe gemacht, aber nicht so | |
offensichtlich. Aber sie ist wütend geworden. | |
Und die Polizei hat ihr geglaubt? | |
Sie hat die Polizei bestimmt dafür bezahlt. In Syrien kannst du für alles | |
bezahlen. Du kannst Regeln aufstellen, wenn du bezahlst. | |
Was hat die Polizei gemacht? | |
Eines Tages bin ich die Straße entlanggegangen und zwei Männer kamen auf | |
mich zu und sagten, ich solle mitkommen. Ich musste zur Polizeistation. Ich | |
habe dann eine Freundin angerufen, die kam und bezahlte, damit ich freikam. | |
Als ich draußen war, habe ich meine Mutter angerufen, die schon unterwegs | |
nach Deutschland war. Sie sagte: „Du musst fliehen.“ | |
Wie haben Sie es nach Deutschland geschafft? | |
Das hat drei Monate gedauert. Mein Boot ist sieben Mal gekentert. | |
Können Sie schwimmen? | |
Ich habe es dann gelernt. Ich wurde auch jedes Mal gerettet. | |
Ist die Flucht schwieriger für junge Frauen als für Männer? | |
Ja. Ich wurde zwei Mal sexuell belästigt und zwei Mal entführt. Im Libanon | |
am Flughafen wurde mein Gepäck durchsucht. Ich hatte eine Kugel, also | |
Munition, an einer Kette von einem Freund geschenkt bekommen, als | |
Glücksbringer. Das ist ein übliches Geschenk in Syrien. Als sie die Kugel | |
fanden, nahm mich ein Wachmann beiseite und sagte: „Entweder ich rufe die | |
Polizei und du sitzt hier für zwei Tage fest. Oder du kommst mit mir ins | |
Hotel.“ | |
Und dann? | |
Für zwei Sekunden dachte ich, ich mach es, weil ich keine Wahl habe. Dann | |
sagte ich: „Ich kann nicht ins Hotel gehen, ich muss meinen Flug kriegen.“ | |
Er sagte: „Kein Problem, hier ist ein leerer Raum, da können wir reingehen, | |
für eine Stunde.“ Dann habe ich gesagt: „Fick dich, ruf doch die Polizei!�… | |
Er gab mir seine Nummer und ließ mich laufen. | |
Wie ging die Flucht weiter? | |
In der Türkei hatte ich einen Schleuser, der mich nach Griechenland bringen | |
sollte. Er schloss mich in seinem Haus ein, angeblich mit seiner Frau. Nach | |
ein paar Tagen merkte ich, dass es nicht seine Frau war, sondern eine | |
Prostituierte. Als er betrunken war, schlug er mich zusammen. Er rief meine | |
Mutter an und sagte: „Ich werde deine Tochter nicht nach Griechenland | |
bringen. Ich werde sie hier behalten und heiraten.“ | |
Wie sind Sie rausgekommen? | |
Ich rief den Schleuserboss an, für den er arbeitete. Der kam mit dem Auto | |
und holte mich raus. Es war wie im Film. Er brachte mich zu sich nach Hause | |
und ich dachte: „Oh, nicht schon wieder. Okay, fick mich einfach, dann ist | |
es vorbei.“ Aber er war sehr nett und fasste mich nicht an. Mit ihm | |
schaffte ich es nach Griechenland. Da saß ich auf der Insel Samos fest, in | |
einem Camp. Ich hatte große Angst, niemand sprach arabisch, alle waren aus | |
Afrika, und ich konnte meinen Raum nicht abschließen. | |
Und dann? | |
Eines Tages kam ein marokkanisches Mädchen, Saida. Sie sprach arabisch und | |
sagte: „Komm, ich zeige dir Athen!“ Ich vertraute ihr. Sie brachte mich | |
irgendwo ins Nirgendwo bei Athen. Da tauchten plötzlich drei Typen auf. Sie | |
sprachen sehr höflich mit mir und sagten: „Gib uns einfach deinen Pass, | |
dann kann Saida weiterreisen.“ Denn für Syrerinnen ist es leichter als für | |
Marokkanerinnen. Nur Irakis und Syrer kommen aus Griechenland raus. Sie | |
sagten auch, sie würden mich dafür bezahlen. | |
Was haben Sie gemacht? | |
Ich sah jemanden vorbeikommen und sagte, ich würde schreien. Sie hatten | |
auch Angst. Ich heftete mich an den Passanten, der zur Busstation lief. | |
Dort wartete ich auf Saida, denn ich wusste nicht, wie ich zurück ins Camp | |
kommen sollte. Ich sagte zu ihr: „Ich gebe dir eine Kopie meines Passes und | |
du musst mir nichts zahlen. Aber ich muss vor dir ausreisen.“ Wir gingen | |
zusammen zum Camp zurück und von dort aus floh ich. Eine Frau half mir. Sie | |
fuhr mich mit dem Auto zu einer Busstation und von dort fuhr ich zur | |
mazedonischen Grenze. | |
War die noch offen? | |
Nein, sie ließen nur noch zehn Busse pro Tag durch – höchstens. Mein Bus | |
war die Nummer 90 in der Schlange. Nach einer Woche wollte ich nicht mehr | |
warten. Zusammen mit Nador, einem Jungen, den ich kennengelernt hatte, | |
wollte ich zu Fuß zum Anfang der Schlange gehen. Aber es war so kalt, dass | |
ich dachte, wir würden erfrieren. Ich sagte: „Nador, wir müssen umdrehen. | |
Ich spüre meine Knochen nicht mehr.“ Er sagte: „Nein, wir sind gleich am | |
Anfang der Schlange, ich sehe schon den ersten Bus.“ Wir gingen weiter, | |
aber nach einer halben Stunde wollte ich immer noch umkehren. Aber wir | |
gingen immer weiter, bis zum fünften Bus in der Schlange. | |
Und da konnten Sie einfach rein? | |
Wir bezahlten dem Busfahrer jeweils 50 Euro dafür, dass er nichts sagte. | |
Wir dachten, dass die anderen Leute im Bus uns dafür hassen und uns | |
rausschmeißen würden, aber keiner merkte es so richtig. Alle waren nur | |
froh, über die Grenze zu kommen. | |
Wie lange dauerte es von dort aus noch nach Deutschland? | |
Ungefähr zehn Tage. Als ich drüben war, fand mich die Organisation Save the | |
Children. Sie sagten, sie könnten mich schneller nach Deutschland bringen, | |
weil ich minderjährig war. Aber dann hätte ich Nador zurücklassen müssen, | |
und er konnte nur arabisch und hatte kein Geld, weil er bestohlen worden | |
war. Also reiste ich mit ihm weiter. | |
In Hamburg waren Sie erst einmal in einer Erstaufnahme-Unterkunft. Wie ging | |
es Ihnen dort? | |
Nicht gut. Ich wurde sexuell belästigt. Dann ging ich zum Sozialarbeiter | |
und er sagte: „Ich hab da was.“ Er brachte mich in die Unterkunft, wo ich | |
jetzt bin. Hier ist es okay. | |
Können Sie nun offen lesbisch leben? | |
Nein, ich verstecke es, aber nicht wegen mir, sondern für meine Mutter. Sie | |
schämt sich. Ich will ihr nicht wehtun. Und die anderen Leute in meiner | |
Unterkunft – sie verstehen es nicht. | |
Aber jetzt wird es in der Zeitung stehen. | |
Das ist okay, die Leute lesen keine deutsche Zeitung. | |
Haben Sie Kontakt zur LGBTI-Szene in Hamburg? | |
Ja, ich bin jetzt in der Gruppe Queer Refugee Support. Da lerne ich viele | |
Leute kennen – eigentlich wäre ich aber lieber in Berlin. Nur meine Mutter | |
ist hier. Sie kann kein Englisch, also muss ich meinen und ihren Papierkram | |
erledigen. | |
Vermissen Sie Syrien? | |
Nein. Ich habe da keine Rechte. Ich kann da nicht mal Fahrrad fahren, weil | |
ich eine Frau bin. Aber ich vermisse meine Freunde, die noch da sind. | |
Wissen die, dass Sie lesbisch sind? | |
Ich habe es ihnen gesagt, aber sie akzeptieren es nicht. Ich war darüber | |
sehr überrascht. | |
Denken Sie, dass die Regierung hier genug für queere Refugees tut? | |
Sie machen gar nichts – sie stellen keine Wohnungen für queere Geflüchtete | |
bereit. Die SozialarbeiterInnen informieren nicht genügend über | |
Anlaufstellen und Hilfsangebote für queere Geflüchtete. Die Polizei tut | |
nichts, weil sie bei gewaltsamen, sexuellen Übergriffen die Opfer nicht | |
ausreichend schützt. | |
Es gibt abgetrennte Bereiche für queere Refugees in einigen Unterkünften. | |
Ja, aber so etwas ist falsch. Falls jemand bis dahin nicht wusste, dass du | |
lesbisch bist, weiß er es dann. Es ist noch gefährlicher. | |
Was wollen Sie in Zukunft machen? | |
Ich habe noch drei Schuljahre vor mir, dann kann ich studieren. | |
Und was? | |
Human Rights. | |
Haben Sie das schon lange vor? | |
Nein, die Idee kam mir auf der Flucht. Als ich sah, wie die Leute in den | |
Camps behandelt werden. Als ein Camp-Mitarbeiter einen Syrer anschrie, weil | |
der kein Englisch konnte. Er behandelte ihn wie ein Tier, nur weil er die | |
Sprache nicht konnte. Da entschied ich, dass ich etwas tun muss. | |
Aber was genau? | |
Ich will etwas verändern. Nach all dem, was ich erlebt habe, will ich, dass | |
Menschen wie Menschen behandelt werden. Ich will auch, dass sich in Syrien | |
was verändert, vor allem für Frauen und für LGBTI. Sie müssen Rechte | |
bekommen. | |
Was wünschen Sie sich? | |
Dass sich Deutschland wie mein zu Hause anfühlt. Dass ich eines Tages | |
aufwache, und denke, ich habe Freunde, ich gehe zur Schule, ich kann die | |
Sprache, kenne die Orte – dass ich ein normales Leben habe. | |
* Name geändert | |
26 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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