# taz.de -- „Hunger“-Inszenierung in Salzburg: Die Geister der Verdinglichu… | |
> Frank Castorf und Hans Neuenfels inszenieren bei den Salzburger | |
> Festspielen – und halten Séancen vor den Giftschränken bürgerlichen | |
> Bildungsguts. | |
Bild: Fotoprobe zu „Hunger“ bei den Salzburger Festspielen: Marc Hosemann | |
„Swastika! Swastika!“ schreit Marc Hosemann und rennt wie vom bösen Schwein | |
gebissen um ein verwittertes skandinavisches Holzhaus mit bemosten | |
Dachflächen herum. Das steht auf der Drehbühne der Perner-Insel, einer | |
Halle der ehemaligen Salzgewinnungsanlage im Bergbauort Hallein, die die | |
benachbarten Salzburger Festspiele für Schauspielproduktionen nutzen, da | |
wie eine Trutzburg des Landlebens gegen die Lockungen und Gefährdungen des | |
urbanen Lebens. Die kleben aber in Form von Plakaten, Leuchtschriften und | |
Projektionen direkt an ihm dran. | |
Die beworbenen Produkte haben es in sich: die Sammlungsbewegung des | |
norwegischen Kollaborateurs Quisling, Pervitin, ein Methamphetamin, mit | |
dem sich die Nazi-Elite intravenös in den Übermenschenmodus schoss, | |
Scho-ka-kola für treffsichere Bomberpiloten. Aus der Gegenwart ragt an | |
einer der Hausfronten die etwas abgewirtschaftete Theke einer | |
McDonald’s-Filiale herein – auf Hausnummer 88. Selbst ins Logo einer | |
bekannten skandinavischen Biermarke fügt sich ein Hakenkreuz. Aleksandar | |
Denić formt das Bühnenbild zur gebauten Zwangsvorstellung, gegen die kein | |
freiheitlich-demokratisches Putzmittel etwas ausrichten kann. | |
Es geht um „Hunger“, den ersten Roman von Knut Hamsun (1859–1952), | |
geschrieben 1890. Er schildert den Bewusstseinsstrom eines sich in den | |
selbigen auflösenden Ich-Erzählers, der als arbeits- und auftragsloser | |
Journalist, Schriftsteller oder was auch immer im späten 19. Jahrhundert | |
durch Kristiania, das heutige Oslo, streift. Darin liegt weniger | |
Sozialkritik als substanzfreie halluzinogene Selbstermächtigung des | |
Schreibens an der Schwelle zur Moderne, die sich der Dienstleistung | |
„Geschichten“ zu erzählen ebenso entzieht wie den Gründen der Psychologie. | |
## Ein großer Ungelesener | |
Hamsun? Das war doch der mit den Nazis. Vorberichte der österreichischen | |
Medien offenbaren den Nobelpreisträger von 1920, späteren Hitler-Verehrer | |
und dennoch höchst einflussreichen Wegbereiter einer literarischen Moderne | |
als einen großen Ungelesenen der Gegenwart. Dabei gibt es gerade an ihm | |
Entscheidendes zu entdecken: wie das Streben nach Schönheit im Lauf des 20. | |
Jahrhunderts seine Unschuld verlor. | |
Frank Castorf erzählt davon in knapp sechs Theaterstunden, montiert | |
Elemente des Romans in eine Partiturschleife. Diese verknüpft er mit | |
Material des zweiten Romans „Mysterien“ (1892). „Mysterien“ ist wie | |
„Hunger“ ohne Hunger. Ein Neuankömmling, gekleidet im knallgelben Anzug, | |
mischt eine fromm-einfältige norwegische Kleinstadt nach Kräften auf. Die | |
Motive sind unklar. Dass Hamsun den Motiven seiner „Figuren“ nicht traut, | |
ist von Vorteil. So lässt sich an ihnen unverstellt beobachten, wie die | |
Gesetzmäßigkeiten ihrer Sozialisation sie treiben. | |
Castorf montiert beide Ströme gegenläufig zu einem „Möbiusband“ (Carl | |
Hegemann). Das setzt eine zirkulare Dramaturgie in Gang, deren Denkbewegung | |
sich von Stunde zu Stunde steigert. Am Beginn stehen die | |
Selbstvergewisserungen. Die Videotechnik scheint weiter verfeinert. Die | |
Abfolge von hitzigen Innenraumszenen und entäußernden Monologkaskaden auf | |
der weiten Bühne ist in ihrer Musikalität noch komplexer als sonst. Mit | |
Marc Hosemann und Josef Ostendorf, Kathrin Angerer, Sophie Rois und Lilith | |
Stangenberg, Lars Rudolph, Daniel Zillmann und Rocco Mylord formt sich ein | |
Ensemble, das auch nach dem Verlust der Volksbühnen-Bastion an kollektiver | |
Kraft nichts eingebüßt hat. | |
Was es an diesen Abenden leistet, werden auch Castorf-Skeptiker abermals | |
als virtuos beschreiben. Das ist kein Selbstzweck. Die Entäußerung im | |
Ausdruck bis zum Ausdruck reiner Präsenz ist harte Arbeit an Widersprüchen, | |
die sich der begrifflichen Synthese (noch) entziehen. In der Moderne bleibt | |
die Revolte des bürgerlichen Subjekts gegen die Verhältnisse, die es selbst | |
hervorgebracht hat, unvollständig. Es müsste den Schmerz bejahen, seine | |
Autonomie verloren zu haben, um sie in der Umkehr der Verhältnisse | |
wiederfinden zu können. Statt dessen lockt die totalitäre Selbstüberhöhung. | |
Der Modernist Hamsun ist ohne den Kollaborateur nicht zu haben. Das | |
Ensemble zelebriert säkulare Rituale, politische Meditationen, die ihren | |
ästhetischen Mehrwert erst in der Erschöpfung, im Vorgriff des Noch-Nicht | |
entfalten. | |
Wurden in der Salzfabrik die sinistren Ursprünge der Moderne gleichsam auf | |
der Rückseite der Salzburger Postkartenlandschaft verhandelt, dringt | |
manches davon dann doch zur Schokoladenseite durch. Beim großen Bahnhof im | |
Großen Festspielhaus unter den Auspizien der deutschen Kanzlerin spuken die | |
Geister der Verdinglichung in Tschaikowskis „Pique Dame“ ziemlich heftig. | |
Dass sie im Rausch der Klänge sichtbar bleiben, verdanken sie dem | |
inszenatorischen Denken von Hans Neuenfels. | |
Das Liebespaar Hermann (Brandon Jovanovich) und Lisa (Evgenia Muraveva) | |
kommt, man möchte sagen genreüblich, nicht zusammen. Das Konzept von | |
Autonomie bestünde darin, einen Menschen um seiner selbst Willen zu lieben. | |
Das verträgt sich aber nicht immer mit dem Zwang zur Selbsterhaltung. Das | |
Problem des Helden ist das Geld. Nicht zu haben, was man zu haben hat, ohne | |
darüber zu sprechen, lässt ihn bis in die menschliche Katastrophe va banque | |
spielen. | |
## Fein dosiertes narkotisches Potenzial | |
Ein Widerspruch, der drei Stunden musikalische Schönheit motiviert. Dass | |
deren Genuss nicht das Denken einschläfert, verdankt sie Mariss Jansons’ | |
Leitung der Wiener Philharmoniker. Er arbeitet die emotionalen Höhen | |
Tschaikowskis fein heraus und dosiert sein narkotisches Potenzial mit | |
Vorsicht. Neuenfels erschließt mit klugen Bildkommentaren die kleine Welt | |
der großen Oper mehrdimensional. Die greise Gräfin und Titelheldin (Hanna | |
Schwarz) deutet mit nur wenigen Tanzschritten an ihr Spitalsbett gelehnt | |
an, wie rauschend in der alten Welt bei Hofe getanzt und gefeiert wurde. | |
Wann je starb ein Sopran dadurch, dass die Sängerin ihre eigene | |
Scherenschnittsilhouette ganz unpathetisch von der Wand riss. | |
Die Aussicht auf den einstigen Bühnenprovokateur bereitete der | |
Putz-Fraktion unter den konservativen Opernliebhabern Vorfreude auf ein | |
kräftiges Buh. Sie wurden enttäuscht. Neuenfels’ altersmilde | |
Versöhnlichkeit in der Form büßt an seiner Konsequenz im Denken nichts ein. | |
8 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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