| # taz.de -- Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag: „Eine moralische Verpflichtu… | |
| > Der israelische Historiker Saul Friedländer erinnert mit bewegenden | |
| > Worten an den Holocaust. Er mahnt, das Existenzrecht Israels zu | |
| > verteidigen. | |
| Bild: Saul Friedländer überlebte als Kind die Shoah. Seine Eltern wurden in A… | |
| Geigentöne schweben durch den Plenarsaal im Bundestag. Ein Streichquartett | |
| spielt ein Stück des tschechischen Komponisten Erwin Schulhoff, der im | |
| August 1942 in einem Internierungslager der Nazis starb. Dann geht [1][Saul | |
| Friedländer] mit langsamen Schritten zum Redepult. Er werde auf Deutsch, | |
| der Sprache seiner Kindheit sprechen, sagt der 86-Jährige. Er habe sie | |
| viele Jahre vergessen, später zurückerworben – und bediene sich ihrer nur | |
| selten. | |
| Der Bundestag hat am Donnerstagmorgen [2][an die Opfer des | |
| Nationalsozialismus erinnert]. Höhepunkt der Gedenkstunde vor der regulären | |
| Plenarsitzung war Friedländers Rede. Er, der anfangs um Verständnis für | |
| seine „unsichere Vortragsweise“ bittet, ist einer der international | |
| geachtetsten Holocaust-Forscher. Seine eigene Geschichte liefert ein | |
| Beispiel für Verfolgung und Flucht vor den NS-Massenmördern. Friedländers | |
| Eltern wurden in Ausschwitz ermordet, er überlebte als Kind versteckt in | |
| einem katholischen Internat in Frankreich. | |
| Friedländer spricht ruhig, eindringlich, und das, was er sagt, berührt | |
| tief. Der israelische Historiker zitiert aus alten Tagebüchern von | |
| Zeitzeugen und macht so das Grauen anschaulich – ein Ansatz, den auch sein | |
| wissenschaftliches Werk auszeichnet. So liest er im Bundestag vor, wie ein | |
| deutscher Unteroffizier schildert, dass er von einem Bahnpolizisten und | |
| dessen Frau das Vernichtungslager im polnischen Bełżec gezeigt bekommt. | |
| Man habe in hohen Kiefernwäldern nur eine Hecke von Tannenbäumen gesehen, | |
| notiert der Offizier. Ein starker süßlicher Geruch sei zu bemerken gewesen. | |
| „Die stinken ja schon“, habe die Frau gesagt. „Ach Quatsch, das ist ja das | |
| Gas“, habe ihr Mann lachend geantwortet. Später, als ein scharfer | |
| Brandgeruch in der Luft lag, habe der Polizist erklärt: „Das ist vom | |
| Krematorium.“ Friedländer schaut in den weiten Saal. Ende 1942, sagt er, | |
| spätestens im Laufe des Jahres 1943 hätten Millionen Deutsche gewusst, | |
| „dass die Juden im Osten systematisch ermordet wurden“. | |
| ## Antisemitismus in altem und neuem Gewand | |
| Besonders ergreifend ist, wie Friedländer aus seiner eigenen Geschichte | |
| erzählt. Er habe sich oft gefragt, erzählt er ruhig, ob seine Eltern | |
| während der drei Tage dauernden, höllischen Fahrt nach Auschwitz zusammen | |
| gewesen seien. „Falls ja, was mochten sie einander gesagt haben? Und was | |
| mochten sie gedacht haben? Wussten sie, was sie erwartete?“ Von Tausend | |
| Juden in dem Transport mit der Nummer 40 hätten nur vier überlebt. | |
| Kanzlerin Angela Merkel sitzt ein paar Schritte vor Friedländer. Sie | |
| lauscht mit ernstem Gesicht. Neben ihr sitzen die Vertreter der deutschen | |
| Verfassungsorgane – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, | |
| Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Andreas Voßkuhle, der Präsident des | |
| Bundesverfassungsgerichts, und Bundesratspräsident Daniel Günther. Vor | |
| ihnen liegen drei Blumengebinde mit weißen Rosen auf dem Tisch, vor dem | |
| sonst Protokollanten die Reden mitschreiben. Die allermeisten Abgeordneten | |
| tragen schwarz. | |
| Friedländer belässt es nicht nur bei Schilderungen, er hat auch politische | |
| Botschaften. Ganz vorne die eine: „Das [3][Existenzrecht Israels] zu | |
| verteidigen ist meiner Überzeugung nach eine grundsätzliche moralische | |
| Verpflichtung.“ Dieses Existenzrecht werde von extremen Rechten und | |
| extremen Linken infrage gestellt. Der Antisemitismus „in seinem | |
| traditionellen wie in seinem neuen Gewand“ nehme unübersehbar wieder zu, | |
| sagt er. | |
| Der Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und ein | |
| sich verschärfender Nationalismus seien überall auf der Welt „in Besorgnis | |
| erregender Weise“ auf dem Vormarsch. Friedländer muss immer wieder Pausen | |
| einlegen, weil er von langem Beifall unterbrochen wird. Zu den absurden | |
| Szenen der Veranstaltung gehört, dass auch die [4][AfD-Abgeordneten] und | |
| deren Fraktionschef Alexander Gauland klatschen, für den die Nazi-Zeit nur | |
| ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte ist. Als merkten sie nicht, | |
| dass Friedländer vor Leuten wie ihnen warnt. | |
| ## „Scham allein reicht nicht“ | |
| Dann spricht Friedländer dem Land der Täter noch ein großes Lob aus. Er | |
| habe erst gezögert, aber die Einladung, im Parlament zu reden, dann doch | |
| angenommen, sagt er – weil er wie viele Menschen „im heutigen Deutschland | |
| ein von Grund auf verändertes Deutschland“ sehe. Das Land sei „eines der | |
| starken Bollwerke“ gegen die beschriebenen Gefahren geworden. Er appelliert | |
| an die Abgeordneten: „Wir alle hoffen, dass Sie die moralische | |
| Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, | |
| Menschlichkeit und Freiheit, kurzum, für die wahre Demokratie zu kämpfen.“ | |
| Am Ende stehen die Abgeordneten und die Gäste auf der Besuchertribüne auf, | |
| applaudieren minutenlang. | |
| Bundestagspräsident Schäuble würdigt Friedländer vor dessen Rede | |
| ausführlich. Sein Werk gewinne seine Kraft aus der spannungsvollen | |
| Beziehung zwischen der abstrakten Darstellung der Verwaltungs- und | |
| Mordmaßnahmen und den lebendigen Erinnerungen der Zeitzeugen. Auch Schäuble | |
| spricht den erstarkenden Antisemitismus an: „Es beschämt uns, dass Juden | |
| wieder mit dem Gedanken spielen, auszuwandern, weil sie sich in unserem | |
| Land nicht sicher fühlen.“ Sie seien Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt, | |
| jüdische Kinder würden in der Schule angepöbelt und gemobbt. | |
| Scham allein reiche nicht, sagt Schäuble. Es brauche neben der Härte der | |
| Gesetze vor allem im Alltag „unsere Gegenwehr gegen Antisemitismus, | |
| Rassismus und Diskriminierung aller Art.“ Dann zitierte er einen Satz | |
| Friedländers. „Humanität, Toleranz … Das ist die einzige Lektion, uns | |
| menschlich zu verhalten.“ | |
| 31 Jan 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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