# taz.de -- Historiker über den Holocaust-Gedenktag: „Eine Brücke bis in di… | |
> Der Historiker Lutz van Dijk fordert in einer Petition, dass der | |
> Bundestag am Holocaust-Gedenktag 2021 erstmals explizit die homosexuellen | |
> Opfer thematisiert. | |
Bild: Gedenken im Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus | |
Seit 1996 hat es bisher insgesamt 22 [1][Holocaust-Gedenktage] gegeben, an | |
denen im Bundestag ganz unterschiedliche Personen zu Wort kamen, um über | |
ihre eigenen Erfahrungen oder die ihrer Angehörigen während des | |
Nationalsozialismus zu sprechen. Wie erklären Sie sich, dass die | |
Geschichten homosexueller Opfer bisher nicht explizit thematisiert wurden? | |
Lutz van Dijk: Es hat allein schon lange gedauert, bis sich überhaupt ein | |
Verständnis dafür durchsetzte, dass es im Nationalsozialismus verschiedene | |
Opfergruppen mit verschiedenen Formen der Diskriminierung gab. Der damalige | |
Bundespräsident Roman Herzog 1996 damit begonnen, Homosexuelle immerhin in | |
einer Aufzählung mit anderen Minderheiten zu nennen. Darüber ist es nie | |
hinausgekommen. Es war schon ein weiter Weg dahin, dass Homosexuelle auf | |
anderen Gedenkfeiern eine eigene Stimme, eigenen Raum bekommen. Erst | |
vergangenen Juni hat die Bundesregierung in Person von Frank-Walter | |
Steinmeier Homosexuelle erstmals offiziell um Vergebung für frühere | |
Verfolgung gebeten. | |
Ihre erste Petition aus dem Jahr 2018 wurde mit der Begründung abgelehnt, | |
dass die Redner bis 2020 schon feststünden. War das für Sie verständlich? | |
Wir haben es damals akzeptiert, weil wir keine Konkurrenz mit anderen | |
Opfergruppen herstellen wollten und der diesjährige Redner Saul Friedländer | |
selbst als Kind den Holocaust überlebte. Wir müssen da zusammenarbeiten. | |
2020 spricht Bundespräsident Steinmeier und das ist angesichts des 75. | |
Jubiläums der Befreiung von Auschwitz international bedeutsam. | |
Wolfgang Schäuble, der als Bundestagspräsident für die Ausrichtung des | |
Gedenktages zuständig ist, sagte außerdem, er wolle sich für 2021 noch | |
nicht festlegen. Wie stehen Sie dazu? | |
Das ist aus demokratisch wie historischen Gründen nicht überzeugend. Zum | |
einen ist 2021 der letzte Termin in der jetzigen Legislaturperiode. Niemand | |
weiß, wer in Deutschland danach das Sagen hat. Das ist ein unzulässiges | |
Verschieben von Verantwortung. Außerdem unterstützen vier von fünf der | |
aktuellen Bundestagsvizepräsidenten unsere Petition. Nur Hans-Peter | |
Friedrich hat sich auf mehrfache Nachfrage nicht geäußert. Formal hat Herr | |
Schäuble das letzte Wort, aber sich so gegen die Mehrheit zu stellen, finde | |
ich undemokratisch. Der dritte Grund ist, dass diese Opfergruppe nach 1945 | |
keine Befreiung erfahren hat. Bis zur Abschaffung des Paragrafen 175, der | |
bis 1994 bestand, wurden weiter Zehntausende Männer verurteilt und | |
Existenzen vernichtet. Die konnten nach Ende der NS-Zeit nicht “Nie | |
wieder!“ rufen, sondern mussten sich verstecken. Wir wollen erinnern, nicht | |
nur an die Menschen in Konzentrationslagern, die dort mit dem Rosa Winkel | |
gekennzeichnet wurden, sondern an alle verfolgten sexuellen Minderheiten | |
auch in den Jahrzehnten danach. | |
Erhoffen Sie sich durch die [2][Thematisierung homosexueller Opfer] in der | |
Gedenkstunde einen gesellschaftlichen Diskurs? | |
Ja und ich bin, was das angeht, optimistisch. In der Vergangenheit lag in | |
den Gedenkstunden schon der Fokus auf Sinti und Roma, ZwangsarbeiterInnen | |
und Euthanasie-Opfer. Und das hat jedes Mal Aufmerksamkeit nach sich | |
gezogen. Petra Rosenberg, die Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher | |
Sinti und Roma, hat mal gesagt, dass es für ihre Familie und deren | |
Verwandte, die überlebt hatten, unendlich wichtig war, diese Form der | |
Anerkennung zu bekommen. Aber das nichts passiert wäre, ohne jahrelanges | |
Engagement von direkt Betroffenen. | |
Sie schreiben in ihrer zweiten Petition, dass sich die Situation für | |
Millionen LGBTQIA-Personen weltweit verschlechtert hat. | |
Was die Thematisierung einer Gedenkstunde im Bundestag umso wichtiger | |
macht. In vielen Ländern werden Homosexuelle weiter diskriminiert, in über | |
70 Ländern gar strafrechtlich verfolgt. Jair Bolsonaro, neuer Präsident | |
Brasiliens, einem Land mit 200 Millionen Einwohnern, sagte im Wahlkampf: | |
“Ich könnte keinen schwulen Sohn lieben. Ich hätte lieber, dass er bei | |
einem Autounfall sterben würde.“ Gute internationale Ausnahmen sind da | |
Justin Trudeau, Kanadas Premier, der sich 2017 bei sexuellen Minderheiten | |
für erlittenes Unrecht entschuldigte. Und eben Frank-Walter Steinmeier | |
2018. Das ermutigt jene, die nach wie vor ums Überleben kämpfen müssen. | |
Deshalb müssen wir an diesen wenigen Vorbildern anknüpfen. | |
Wenn Sie die Gedenkstunde gestalten könnten, wie würde sie aussehen? | |
Die Ausgestaltung würde sicher von einem Beirat mit dem Bundestagspräsidium | |
geplant. Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass eine Historiker*in die | |
Zusammenhänge der Verfolgung erklärt, die bis heute nachwirken. Da | |
Zeitzeugen mittlerweile nicht mehr am Leben sind, fände ich es gut, wenn | |
dann jemand berichten würde, der vom gleichen NS-Paragraphen 175 noch nach | |
1945 betroffen war – und vielleicht eine junge Frau, die heute als | |
Angehörige einer sexuellen Minderheit woanders um ihr Leben fürchtete und | |
deshalb nach Deutschland flüchten musste. So könnte man eine Brücke von | |
damals bis in die Gegenwart schlagen. Darum ist Erinnern gerade heute so | |
wichtig. Denn Menschlichkeit heißt zuerst Achtung von Minderheiten und | |
nicht allein Rechte für Mehrheiten. | |
17 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Leonie Gubela | |
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