# taz.de -- Kommentar Schwulenverfolgung: Die Furcht ist noch da | |
> Die Rede des Bundespräsidenten zur Verfolgung Homosexueller während und | |
> nach der NS-Zeit ist richtig. Doch seine Aussagen greifen zu kurz. | |
Bild: Während seiner Ansprache zum Festakt in Berlin: Frank-Walter Steinmeier | |
Nichts war falsch an dieser symbolisch zutreffenden Rede. Und doch hätte | |
sie mehr aussagen können, ja sogar müssen. Dass es besonders die beiden | |
christlichen Amtskirchen waren, die erklärtermaßen den von den Nazis | |
wesentlich verschärften Paragrafen 175 im bundesdeutschen Recht bewahrt | |
sehen wollten, weil sie die Tyrannei wider alles nicht ins heterosexuelle | |
Mann-Frau-Kind(er)-Schema gut fanden – geschenkt. Wäre historisch triftig | |
gewesen, aber ein Bundespräsident disst keine Religion, eine christliche | |
sowieso nicht. | |
Was er aber hätte erwähnen müssen, wäre, dass der Paragraf 175 konkret | |
Zehntausende an Opfern forderte, aber insgesamt als Strafandrohung gegen | |
alle wirkte und wirken sollte: Alle lernten, dass Schwules ein minderer | |
Dreck ist, nicht liebenswert und entwertet gehört. | |
Der Terror traf viele und zerstörte sie – seine einschüchternden Folgen | |
senkten sich in alle Familien und ihre Mitglieder: Sei keine Schwuchtel – | |
sonst bis du für uns aussätzig. | |
Es ist daher ein wenig phrasenhaft, wenn Bundespräsident Steinmeier betont, | |
auch nach dem Ende des Nationalsozialismus sei Homosexuellen in Deutschland | |
Unrecht zugefügt worden – in der DDR und in der BDR. In der Bundesrepublik | |
seien mehr als 20 Jahre lang zehntausende Männer auf Grundlage des | |
Paragrafen 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, | |
„verhaftet, verurteilt und eingesperrt“ worden, so der Bundespräsident. | |
Heute dagegen stünden sexuelle Orientierung und sexuelle Identität aller | |
Schwulen, Lesben und Bisexuellen, aller Queers, Trans- und Intersexuellen | |
„selbstverständlich unter dem Schutz unseres Staates“, so der Präsident | |
weiter. | |
Steinmeier sagte damit eigentlich nur, was man von ihm erwarten durfte. | |
Woran liegt es sonst, wenn nicht an den homophob vergifteten Verhältnissen | |
in deutschen Familien seit Jahrzehnten, dass sich erst wenige Opfer des | |
Paragrafen 175 entschlossen, das seit einem Jahr geltende Rehabilitations- | |
und Entschädigungsgesetz in Anspruch zu nehmen? Die Furcht ist noch da, | |
Teil (nicht allein) eines deutschen Traumas in Familien. | |
3 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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