| # taz.de -- Abschaffung des Paragrafen 175: Jahrestag einer Befreiung | |
| > Vor 25 Jahren wurde Paragraf 175 abgeschafft – auch dank der | |
| > DDR-Bürgerrechtsbewegung. Seitdem ist unser Autor froh, nicht mehr | |
| > kriminell zu sein. | |
| Bild: Dass staatliche Schwulenverfolgung erst 1994 offiziell beendet wurde, ist… | |
| „Und da drüben wurden beim Hitler die 175er eingesperrt“, meine Tante | |
| zeigte auf eine Festung am Rheinufer, [1][die früher einmal als Gefängnis | |
| gedient hatte]. Ich muss zu diesem Zeitpunkt neun oder zehn Jahre alt | |
| gewesen sein, es waren die achtziger Jahre, und auf diesem Weg, nämlich auf | |
| meine Nachfrage hin, erfuhr ich, dass es so etwas wie gleichgeschlechtliche | |
| Liebe gibt. Und dass es eine Bezeichnung gab für diese Leute, nämlich | |
| „175er“. | |
| Später erfuhr ich, dass es noch weitere Bezeichnungen gab. „Detlef“ und | |
| „Hinterlader“ zum Beispiel und auch „schwul“, ein Begriff, den ich über | |
| viele Jahre nur als Schimpfwort lesen konnte statt als | |
| selbstbewusst-trotzige Eigenbezeichnung. Als ich das Video von Bronski Beat | |
| „Smalltown Boy“ (1984) erstmals sah, hatte ich zwar eine Ahnung, dass das | |
| alles etwas mit mir zu tun haben könnte, richtig einordnen konnte ich die | |
| Dinge aber noch nicht. Sicher war da nur, dass ich auch ein Junge in einer | |
| Kleinstadt war und es den Paragrafen 175 noch immer gab, wenn auch in | |
| entschärfter Form – doch bis es so weit war, dass ich meine sieben Sachen | |
| packte, um in die Großstadt zu ziehen, um dort mein Coming-out zu wagen, | |
| sollten noch viele Jahre vergehen. | |
| Der Paragraf 175, er war ein dunkler Schatten, bis in die neunziger Jahre | |
| hinein. Schon im Kaiserreich wurden knapp 10.000 Menschen aufgrund dieses | |
| Paragrafen verurteilt, der damals sowohl homosexuellen Verkehr als auch | |
| solchen mit Tieren ahndete. In der Weimarer Republik ging die Verfolgung | |
| weiter. Es gab mehrere Versuche, den Paragrafen abzuschaffen. Hervorzuheben | |
| ist die Rolle des eng mit dem Namen des Sexualwissenschaftlers Magnus | |
| Hirschfeld verbundenen „Wissenschaftlich-Humanitären Komitees“ (gegründet | |
| 1897), dessen wichtigstes Ziel die Abschaffung des Paragrafen 175 war. Im | |
| Jahr 1929 wäre das sogar fast geglückt, ein Bündnis diverser Sexualreformer | |
| brachte den Reichstagsausschuss dazu, die Abschaffung des | |
| Sonderstrafrechtsparagrafen zu beschließen. Doch dieser Antrag gelangte | |
| nicht mehr zur Abstimmung in den Reichstag. | |
| Die NSDAP übernahm die Macht und verschärfte den Paragrafen 1935. Der | |
| Tatbestand wurde von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ | |
| Handlungen ausgeweitet, es drohten bis zu zehn Jahre Haft. Zwischen 1933 | |
| und 1945 gab es rund 53.000 Urteile nach den Paragrafen 175 und 175a, | |
| geschätzte 10.000 bis 15.000 Homosexuelle, die den rosa Winkel tragen | |
| mussten, starben in Konzentrationslagern. | |
| ## Wir blieben unbefreit | |
| Von der Befreiung waren die Homosexuellen 1945 dann sozusagen | |
| ausgeschlossen, denn in der Bundesrepublik galt bis 1969 die verschärfte | |
| Nazi-Fassung des Paragrafen, mit dem ausdrücklichen Segen des neuen | |
| Bundesverfassungsgerichts. Es kam zu insgesamt 50.000 rechtskräftigen | |
| Verurteilungen allein in Westdeutschland. | |
| Im Rahmen der Großen Koalition (unter Kanzler Kiesinger) wurde das Verbot | |
| der Homosexualität schließlich aufgehoben – eine ungeheure Erleichterung, | |
| die eine schwule Emanzipation überhaupt erst möglich machte. Ohne diese | |
| Entkriminalisierung wäre die Produktion des Films „Nicht der Homosexuelle | |
| ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von Rosa von Praunheim | |
| nicht möglich gewesen. Der Film, der als Auftakt zur modernen deutschen | |
| Schwulenbewegung gilt, wurde immerhin im Auftrag des Westdeutschen | |
| Rundfunks gedreht. | |
| Der Paragraf selbst aber existierte noch und es galten immer noch | |
| unterschiedliche Altersgrenzen für (männliche) Homosexuelle und | |
| Heterosexuelle. Für Schwule lag das Schutzalter bei 21 Jahren bzw. 18 | |
| Jahren (ab 1973). Für Heterosexuelle waren es 16 Jahre. In der DDR galt das | |
| Homo-Verbot bis 1968 in der Fassung der Weimarer Republik. Auch in der DDR | |
| gab es aber weiterhin verschiedene Schutzaltersgrenzen nach Paragraf 151 | |
| StGB-DDR. Erst kurz vor dem Mauerfall hob die DDR-Volkskammer das Gesetz | |
| endgültig auf. | |
| Erst im Jahr 1994 war es dann endgültig vorbei mit den „175ern“, nach 130 | |
| Jahren wurde der Paragraph 175 abgeschafft, also rund vier Jahre nach der | |
| „größten Wunderheilung der Weltgeschichte“, nämlich der Streichung der | |
| Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten durch die WHO im Jahr | |
| 1990. | |
| Zu verdanken ist dieses offizielle Ende staatlicher Schwulenverfolgung in | |
| Deutschland vor allem auch der schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung der | |
| DDR, der es gelungen war, eine Ausdehnung des bundesdeutschen Paragrafen | |
| 175 nach Ostdeutschland zu verhindern: Im Einigungsvertrag zwischen | |
| Bundesrepublik und DDR 1990 wurde Paragraf 175 StGB von der Übertragung des | |
| bundesdeutschen Strafrechts auf die „neuen Bundesländer“ und Ostberlin | |
| ausgenommen. Was dann bis 1994 dazu führte, dass etwa in Berlin-Prenzlauer | |
| Berg (Ost) erlaubte sexuelle Handlungen in Berlin-Schöneberg (West) | |
| strafbar waren – eine solche Rechtssituation war nicht haltbar. | |
| ## Die „unendliche Abschaffung“ | |
| Es zog sich dann aber hin: Da sich die Christdemokraten nicht zu einer | |
| ersatzlosen Streichung des Paragrafen 175 durchringen konnten, erarbeitete | |
| das Bundesjustizministerium eine „Jugendschutzvorschrift“, die für 14- bis | |
| 16-jährige Mädchen gleich welcher sexuellen Orientierung gilt (und so also | |
| erstmals auch für Lesben, deren Sexualiät zuvor als weder ernst zu nehmen | |
| noch als strafwürdig angesehen wurde), den Paragrafen 182. Ein Kompromiss, | |
| der schließlich ermöglichte, dass am 11. Juni 1994 das „Symbol der | |
| Unmenschlichkeit“ (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, seinerzeit | |
| Justizministerin) abgeschafft wurde, mit großer Mehrheit und noch in Bonn, | |
| im alten Wasserwerk. Im gleichen Jahr, 1994, waren noch vierzig Männer nach | |
| dem Paragrafen verurteilt worden. | |
| Die „Unendliche Abschaffung des Schwulenparagraphen“, so die Überschrift | |
| eines taz-Artikel aus dem Januar 1994: Als er dann weniger später wirklich | |
| abgeschafft wurde, war die Tatsache den KollegInnen lediglich eine Meldung | |
| wert. Ein bisschen war es wohl so wie mit der Öffnung der Ehe für alle: Als | |
| es dann endlich so weit war nach jahrzehntelangem, zermürbendem Rumgemache, | |
| freute man sich schon fast mehr für den mit Konfetti beregneten Volker Beck | |
| als für sich selbst. | |
| Denn auch im Jahr 1994 war die Lebenswirklichkeit schon längst weiter als | |
| die Politik: In der Techno-Szene tanzten Heterosexuelle ganz | |
| selbstverständlich mitten in der schwulen „Sub“, in der Provinz war es | |
| längst kein weltumspannender Skandal mehr, wenn im Einfamilienhaus nebenan | |
| ein schwules Paar einzog – und drei Jahre zuvor war die Republik von einem | |
| heilsamen Schock durchdrungen worden, als Rosa von Praunheim die | |
| seinerzeitigen Fernsehlieblinge Hape Kerkeling und Alfred Biolek geoutet | |
| hatte. | |
| ## Die Entschädigung kommt für viele zu spät | |
| Im Jahr 1994 befand man sich bereits im Jahr 25 nach Stonewall, die | |
| Abschaffung des Paragrafen war daher nur noch eine Station auf dem Pfad der | |
| „Bewegung“. Die endgültige Entkriminalisierung ermöglichte überhaupt ers… | |
| sich hinsichtlich einer Absicherung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften | |
| oder gar einer Öffnung der Ehe zu engagieren – was dann ja auch angegangen | |
| wurde. | |
| Ebenfalls 1994 wurde im Schwulen Museum in Berlin die „Inititative | |
| Schwulendenkmal“ erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt, enthüllt wurde | |
| dann im Jahr 2008. Die Forderung nach einer Rehabilitierung für die nach | |
| Paragraf 175 StGB Verurteilten fand leider erst 23 Jahre später Gehör, | |
| 2017, [2][für die meisten Opfer zu spät]. | |
| Für mich selbst aber fing in den neunziger Jahren das schwule Leben erst | |
| an. 1994 war „Somewhere over the Rainbow“ von Marusha in den Charts, eine | |
| Techno-Version des Homo-Klassikers von Judy Garland, deren Tod, so heißt es | |
| der Legende nach, mit für die Riots von Stonewall verantwortlich war. Auch | |
| in den Top 20: die „Streets of Philadelphia“, ein Bruce-Springsteen-Song | |
| aus dem Soundtrack des Aids-Dramas „Philadelphia“ mit Tom Hanks. | |
| Die Neunziger wurden dann aber eher lustig, sogar das Grauen von Aids fand | |
| weniger später, 1996, ein Ende: Die Einführung der | |
| Dreifachkombinatiospropyhlaxe beendete das große Sterben. Ich zog nach | |
| Berlin, das erst schwule und dann Bundeshauptstadt wurde. Ich war nun also | |
| nicht mehr potenziell zum Tode verurteilt. Und auch nicht kriminell. | |
| 10 Jun 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
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